Prof. Dr. Andreas Koch

Trends und Rahmenbedingungen in der Suchtrehabilitation – Teil II

Prof. Dr. Andreas Koch

In Teil I des Artikels „Trends und Rahmenbedingungen in der Suchtrehabilitation“ vom 26. August 2020 wurden bereits die Themen Nachfrage und Zugang sowie Fachkräftemangel behandelt. Im nun folgenden Teil II geht es um die Schwerpunkte Digitalisierung sowie Therapie und Konzepte.

c) Digitalisierung

Es ist inzwischen ein Allgemeinplatz, dass wir uns in einer Informationsgesellschaft befinden, in einer vernetzten Welt, die nahezu grenzenlose Transparenz und Informationsgeschwindigkeit verspricht, mit allen Chancen und Risiken. Seit einigen Jahren kommt daher kaum ein Fachbeitrag, der sich mit Trends und Perspektiven im Gesundheitswesen und in der Sozialwirtschaft beschäftigt, ohne das Stichwort Digitalisierung aus. Es wird immer wieder gefordert, die digitalen Möglichkeiten vor, während und nach der Therapie stärker zu nutzen sowie intensiver auf die veränderten Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten einzugehen (vgl. Schmidt-Rosengarten 2018: Suchtarbeit 4.0 – Was verändert sich durch die Digitalisierung?). In diesem Zusammenhang ist auch auf eine Initiative der Drogenbeauftragten der Länder (AOLG AG Sucht) hinzuweisen. Im Januar 2020 hat sich in Essen eine Expertengruppe aus verschiedenen Bereichen der Suchthilfe zu einem Fachgespräch getroffen. Im Mittelpunkt der Beratungen standen die Bedingungen, die für eine gelingende Bewältigung des digitalen Wandels benötigt werden, und die Frage, welche grundlegenden Aspekte dabei zu beachten sind. Die dabei erarbeiteten „Essener Leitgedanken“ fassen thesenartig zusammen, wie die Suchthilfe den digitalen Wandel für die Weiterentwicklung der Hilfeangebote nutzen kann.

Bei der großen Vielfalt von Themen und Optionen ist eine Unterscheidung der organisatorischen und der therapeutischen Perspektive hilfreich, um die relevanten Handlungsfelder im Bereich der weiteren Digitalisierung der Suchthilfe zu identifizieren.

Organisatorische Perspektive

Aus der Erkenntnis, dass wir in einer Informationsgesellschaft leben, ergibt sich zwingend die Notwendigkeit, dass die Einrichtungen und Träger ihre Öffentlichkeitsarbeit entsprechend anpassen müssen, um die Fachöffentlichkeit (Leistungsträger, Zuweiser, Kooperationspartner) und die „Kunden“ (suchtkranke Menschen und ihre Angehörigen) zu erreichen. Dabei haben Printmedien (Flyer, Kurzkonzepte etc.) weiterhin ihre Bedeutung, aber die Präsenz in Onlinemedien wird immer wichtiger. Eine technisch schlecht gemachte Homepage ist eine katastrophale Visitenkarte für eine Einrichtung, aber natürlich müssen die präsentierten Informationen nicht nur optisch ansprechend, sondern auch fachlich fundiert und aktuell sein. Zudem müssen die veränderten „Lesegewohnheiten“ berücksichtigt werden: Die gute Visualisierung von Informationen und die passende sprachliche Gestaltung hat bei Printmedien eine ebenso hohe Bedeutung wie die Nutzung von „bewegten Bildern“ und Interaktionsmöglichkeiten bei Onlinemedien.

Kontrovers diskutiert wird die Präsenz von Einrichtungen in digitalen Netzwerken. Sie wird einerseits immer wieder gefordert, weil dort möglicherweise maßgebliche Meinungs- und Imagebildung betrieben wird. Andererseits ergibt nur eine kontinuierliche Aktivität in diesen Netzwerken Sinn, und diese erfordert einen enormen personellen Aufwand. Immer größere Bedeutung gewinnen auch Bewertungs- und Informationsportale, in denen jeder frei und mehr oder weniger qualifiziert seine Einschätzung abgeben kann. Auch die Beobachtung dieser Portale ist aufwändig. Eine interessante Option ist es, durch „Public Reporting“ von Qualitätsdaten auf eigenen oder offiziell dafür eingerichteten Webseiten selbst für Transparenz und idealerweise ein positives Image zu sorgen.

Die Digitalisierung hat natürlich auch längst Einzug in den Arbeitsalltag der Suchtreha-Einrichtungen gehalten. Die internen Arbeitsabläufe werden verstärkt von den vorhandenen Dokumentationssystemen bestimmt, und auch in der externen Kooperation findet eine zunehmende Automatisierung statt, bspw. durch die digitale Übermittlung von Laborbefunden oder den elektronischen Datenaustausch mit den Leistungsträgern. Diese Entwicklung ist ohne Frage sinnvoll und führt nach der häufig sehr anstrengenden Einführungsphase für eine neue Software zu vielen Erleichterungen in der täglichen Arbeit. Aber es sind einige Risiken zu bedenken: Zum einen ist es kaum noch leistbar, alle Anforderungen des (sicherlich notwendigen) Datenschutzes zu erfüllen, ohne dabei die Arbeitsabläufe immer komplizierter zu machen. Zum anderen verändert sich auch die Kommunikationskultur in den Einrichtungen. Wo vorher eine ärztliche Verordnung persönlich einer Pflegekraft mitgeteilt wurde, erfolgt nun lediglich ein kurzer Eintrag in die digitale Patientenakte. Wo vorher in der Fallkonferenz der therapeutische Prozess eines Patienten ausführlich diskutiert wurde, werden nun in der Teamsitzung die erreichten Therapieziele unmittelbar aus dem  Dokumentationssystem heraus mit dem Beamer an die Wand projiziert.  Auch wenn diese Beispiele etwas plakativ formuliert sind, so bleibt doch festzuhalten, dass diese Veränderung der Kommunikationskultur aktiv gestaltet werden muss, um noch ausreichend Raum für den notwendigen persönlichen Austausch zu geben.

Therapeutische Perspektive

Insbesondere bei den tendenziell jüngeren Patientinnen und Patienten in der Drogentherapie hat sich das Sozial- und Kommunikationsverhalten in den letzten Jahren deutlich verändert. Die Beschreibung einer erfahrenen therapeutischen Leiterin fasst die Problematik etwas vereinfachend, aber sicherlich sehr treffend zusammen: „Früher hat man sich zu den Patienten in die Raucherecke gestellt und wusste sofort, wie die Stimmung in der Einrichtung ist. Heute sitzen alle in ihren Zimmern und kommunizieren mit Mitpatienten und Externen über soziale Netzwerke. Wir im Team bekommen Schwierigkeiten und Krisen gar nicht oder zu spät mit!“ Diese Entwicklung stellt die therapeutischen Teams vor allen in den stationären Einrichtungen vor große Herausforderungen. Sie müssen zugleich die (sichtbare) soziale und die (verborgene) digitale Erlebenswelt der Patientinnen und Patienten im Blick behalten. Daher werden auch die Hausregeln zur Mediennutzung immer wieder diskutiert und angepasst. Generelle oder zeitweise Verbote von Geräten sind dann schwierig, wenn sie nicht bzw. nicht mit vertretbarem Aufwand kontrolliert werden können. Sinnvoll und notwendig ist vor allem eine intensive Auseinandersetzung mit den Verhaltensweisen der Patientinnen und Patienten in den Bereichen Mediennutzung und digitale Kommunikation. Diese Auseinandersetzung bietet wiederum häufig interessante therapeutische Ansatzpunkte.

Ein weiterer bedenkenswerter Aspekt bezieht sich auf die berufliche Orientierung, die im Rahmen der medizinischen Rehabilitation der Deutschen Rentenversicherung eine große Rolle spielt. Die entsprechenden Angebote, die die Einrichtungen in den Bereichen Arbeits- und Ergotherapie vorhalten, orientieren sich häufig noch am „klassischen“ Berufsbild Handwerk (u. a. Schreinerei, Metallwerkstatt, Garten und Landwirtschaft, Hauswirtschaft, Küche) sowie an einfachen kaufmännischen und administrativen Tätigkeiten (u. a. Patientenbüro oder Kiosk). Diese Bereiche haben bei entsprechenden beruflichen Erfahrungen und Zielsetzungen der Rehabilitanden sowie für die arbeitsbezogene Diagnostik, die Entwicklung von grundlegenden Kompetenzen und die Erprobung der allgemeinen Belastungsfähigkeit weiterhin große Bedeutung. Gleichwohl muss in das konzeptionelle Leistungsspektrum aber auch die immer wichtiger werdende Nutzung digitaler Medien in vielen Berufen sowie die Entwicklung neuer Berufsbilder integriert werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die regionale Vernetzung mit Betrieben, die entsprechende Praktikumsplätze bereitstellen können. Ein wichtiges Element ist auch das Bewerbungstraining, das in nahezu allen Einrichtungen mit Kompetenzvermittlung in den Bereichen Onlinerecherche und Erstellung digitaler Bewerbungsmappen etabliert ist. Allerdings müssen den Einrichtungen auch die notwendigen (finanziellen) Ressourcen zur Verfügung stehen, um die konzeptionell entwickelte „Arbeitstherapie 4.0“ realisieren zu können.

Unter dem Begriff „E-Mental-Health“ wird derzeit intensiv diskutiert, welche Rolle die Digitalisierung bei der Behandlung von psychischen Erkrankungen spielen kann und soll. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) hat zu diesem Thema eine Task Force eingesetzt und beteiligt sich an entsprechenden Forschungsvorhaben. Für verschiedene Krankheitsbilder liegen schon erste Erfahrungen aus Pilotprojekten vor. Die Ergebnisse zeigen, dass digitale Medien und Onlineangebote eine wertvolle Unterstützung bei der Behandlung darstellen, aber offensichtlich die etablierten und im direkten persönlichen Kontakt eingesetzten psychotherapeutischen Methoden nicht ersetzen können. Insofern ist diese Entwicklung nicht bedrohlich für die vorhandenen Therapiekonzepte in der Suchtrehabilitation. Aber bspw. die Entwicklung von Apps für die Vorbereitung der Therapie (Information und Bindung), die Begleitung bei der Behandlung (Organisation in der Einrichtung) und die Sicherung des Behandlungserfolges (Online-Nachsorge) ist sicherlich eine sinnvolle Ergänzung des Leistungsspektrums der Einrichtungen.

d) Therapie und Konzepte

Für die Träger und Einrichtungen in der Suchthilfe war es schon immer notwendig, gesellschaftliche und politische Entwicklungen sowie Veränderungen bei Zielgruppen und ihren Konsummustern genau zu beobachten, um mit den eigenen Hilfeangeboten auf eine veränderte Bedarfslage reagieren zu können. In der Suchtreha bedeutet das eine regelmäßige Aktualisierung des Therapiekonzeptes, das nach bestimmten Vorgaben der Leistungsträger zu strukturieren und mit dem „Federführer“ abzustimmen ist. Jeder Reha-Einrichtung wird bei der Deutschen Rentenversicherung ein federführender Leistungsträger (Bundes- oder Regionalträger) als Ansprechpartner für strukturelle, konzeptionelle, personelle und finanzielle Fragen zugeordnet.

So ist es auch weiterhin therapeutisch sinnvoll, spezielle Behandlungskonzepte für besondere Zielgruppen anzubieten. Beispiele für eine solche Ausrichtung sind die folgenden:

  • In den letzten Jahren hat die Zahl der stationären Einrichtungen, die Substitution im Rahmen der Rehabilitation durchführen, zugenommen (ca. 30). Es handelt sich dabei um ein wichtiges ergänzendes Angebot für Opiatabhängige, bei dem die lange umstrittene Frage der Abdosierung während der Reha inzwischen deutlich individueller geregelt werden kann. Die Deutsche Rentenversicherung hat hier die Rahmenbedingungen flexibilisiert und ist derzeit bemüht, mehr Daten über dieses Behandlungsangebot zu sammeln. Die Suchtverbände haben 2017 eine bundesweite Übersicht zu diesem Angebot erstellt.
  • Die Zahl der stationären Einrichtungen, die Therapie ausschließlich für Frauen anbieten, ist deutlich rückläufig (ca. 10), vor allem, weil diese eher kleinen Einrichtungen kaum wirtschaftlich zu führen sind. Diese Entwicklung ist bedauerlich, weil es sich um eine besondere Möglichkeit der geschlechtsspezifischen Ausrichtung der Therapie handelt.
  • In vielen stationären Einrichtungen ist die therapiebegleitende Aufnahme von Kindern möglich (ca. 40). Die entsprechenden Betreuungskonzepte sind sehr individuell in ihrer fachlichen Ausgestaltung und werden in unterschiedlicher Höhe über einen Haushaltshilfesatz finanziert. Eine Kombination von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe mit der Suchtrehabilitation der Eltern gelingt nur in seltenen Fällen (vgl. Andreas Koch & Iris Otto 2018: „Weil sonst keiner zuständig ist …“ Umfrage zur Mitaufnahme von Kindern in der Suchtrehabilitation). 2019 wurde von den Suchtverbänden ein Rahmenkonzept für Kinder suchtkranker Eltern in der stationären Entwöhnungsbehandlung veröffentlicht.

Vor dem Hintergrund der Einführung des MBOR-Konzeptes in der somatischen und psychosomatischen Reha der Deutschen Rentenversicherung (Medizinisch-beruflich orientierte Rehabilitation) wurden auch ergänzende Empfehlungen für den Indikationsbereich Abhängigkeitserkrankungen entwickelt. 2014 wurden die „Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker“ (BORA-Empfehlungen) veröffentlicht, die von der gemeinsamen Arbeitsgruppe Berufliche Orientierung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker erarbeitet wurden. In dieser Arbeitsgruppe waren Expertinnen und Experten aus Einrichtungen und Verbänden und der Leistungsträger vertreten. Auch wenn die berufliche Orientierung in der Suchttherapie mit Blick auf die Gründungkonzepte der „Trinkerheilstätten“ Ende des 19. Jahrhunderts schon immer einen hohen Stellenwert hatte, haben die BORA-Empfehlungen eine erhebliche Wirkung auf die Entwicklung der Therapiekonzepte in den Einrichtungen gehabt: Berufs- und arbeitsbezogene Aspekte sind neben den psycho- und suchttherapeutischen Interventionen mehr in den Fokus gerückt. Die Bedeutung der entsprechenden therapeutischen Angebote im Rahmen des Gesamtkonzeptes ist ebenso gestiegen wie der Stellenwert der beteiligten Berufsgruppen (insbesondere Arbeits- und Ergotherapeuten) in den Teams. Außerdem ist zu erwähnen, dass die Deutsche Rentenversicherung in intensiven Verhandlungen mit der Bundesagentur für Arbeit sowie dem Deutschen Landkreistag und dem Deutschen Städtetag Empfehlungen zur Zusammenarbeit bei der Unterstützung arbeitsuchender abhängigkeitskranker Menschen erarbeitet hat. Damit soll sowohl der Zugang von Arbeitssuchenden aus der Beratung in die Suchtreha wie auch die Weitervermittlung nach der Reha in die Beratung und Arbeitsförderung erleichtert werden.

Eine wesentliche Entwicklung in der Sucht- und Drogenszene war in den letzten Jahren der vermehrte Konsum von synthetischen Drogen, die aufgrund der immer wieder veränderten chemischen Struktur bei Suchtmittelkontrollen kaum nachweisbar sind. Das wirft zum einen die Frage nach Nutzen und Bedeutung von bislang üblichen regelmäßigen medizinischen Kontrollen auf, und zum anderen, ob man sich auf das „Wettrüsten“ der ständigen Anpassung von Testungen an Variationen der synthetischen Drogen einlassen will. Einige Einrichtungen sind inzwischen dazu übergegangen, eher auf Verhaltensbeobachtungen zu vertrauen und nur bei Rückfallverdacht zusätzliche (aufwändigere) Testungen vorzunehmen. Letztlich können diese Fragen nicht allgemeingültig beantwortet werden, sondern jede Einrichtung muss sich, passend zu ihrer Zielgruppe und ihrer konzeptionellen Ausrichtung, für einen Weg entscheiden, der dann aber auch konsequent von allen Teammitgliedern umgesetzt werden sollte. Ein weiterer Trend ist die Auflösung bekannter Konsummuster, die sich auf nur eine Substanz beziehen (Heroin, Kokain, Cannabis, Alkohol etc.). Das zunehmend komplexere Konsumverhalten wirft die Frage auf, ob eine konzeptionell getrennte Behandlung von Alkoholabhängigkeit und Drogenabhängigkeit noch sinnvoll ist. Möglicherweise sind andere Unterscheidungskriterien zukünftig wichtiger, bspw. die beruflichen und sozialen Teilhabepotentiale der Rehabilitanden sowie die daraus resultierenden Rehaziele und Therapieplanungen.

Seit über zehn Jahren wird auch intensiv über eine „neue“ Form der nicht-stoffgebundenen Abhängigkeit (Verhaltenssucht) diskutiert: Die Begriffe Medienabhängigkeit, Computerspielabhängigkeit, Pathologischer Internetgebrauch, Onlineproblematik oder Internetsucht sind Versuche, dieses Phänomen zu fassen, das mit der verstärkten Nutzung digitaler Medien im Alltag aufgetaucht ist. Inzwischen hat sich die teilweise sehr heftige Debatte um die Dimension dieser Problematik deutlich beruhigt und zwei wesentliche Ergebnisse sind festzuhalten:

  • Es handelt sich um ein klinisch relevantes und eigenständig zu diagnostizierendes Problem, über das immer mehr wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen und das daher auch durch die American Psychiatric Association 2013 im DSM-5 als Forschungsdiagnose (Internet Gaming Disorder) aufgenommen wurde. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) folgt dieser Entwicklung mit der Aufnahme der Diagnose Gaming Disorder in die ICD-11.
  • Es wurden in den letzten Jahren offensichtlich ausreichende Hilfeangebote entwickelt, um den entsprechenden Beratungs- und Behandlungsbedarf zu decken. In der Suchtreha haben sich vor allem die Einrichtungen auf die Behandlung spezialisiert, die bereits Erfahrungen mit anderen Verhaltenssüchten (insbesondere Pathologisches Glücksspiel) hatten.

Wie auch bei anderen Indikationen, nimmt die Bedeutung von wissenschaftlich fundierten Leitlinien bei der Behandlung von Suchterkrankungen zu. Ein wesentlicher Meilenstein war die Veröffentlichung der S3-Leitlinien Tabak und Alkohol im Jahr 2015. Die S3-Leitlinien für Alkohol- und Tabakabhängigkeit entstanden in einem vierjährigen Entwicklungsprozess nach den Vorgaben der Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlich Medizinischer Fachgesellschaften (AWMF). Die Federführung lag bei der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DG-Sucht) und der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Mehr als 50 Fachgesellschaften, Berufsverbände, Gesundheitsorganisationen, Selbsthilfe- und Angehörigenverbände mit über 60 ausgewiesenen Suchtexpertinnen und -experten waren in die Entwicklung eingebunden. 2016 wurde die unter Federführung der DGPPN entwickelte S3-Leitlinie für Methamphetamin-bezogene Störungen veröffentlicht. Die Arbeiten an einer S3-Leitlinie für schädlichen Medikamentenkonsum und Medikamentenabhängigkeit wurden 2017 ebenfalls unter der Federführung der DGPPN begonnen. Seit 2018 arbeitet eine Expertengruppe auf Initiative der DG-Sucht unter Federführung der Suchtforschungsgruppe der Universität Lübeck an der Entwicklung einer S1-Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung internetbezogener Störungen.

Die „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) der WHO soll als konzeptuelle Grundlage die Teilhabeorientierung in der Behandlung fördern und eine gemeinsame Sprache für verschiedene Gesundheitsberufe bereitstellen. Um die praktische Handhabung der ICF zu vereinfachen, empfiehlt die WHO die Entwicklung so genannter Core Sets: Ein Core Set enthält nur diejenigen Kategorien, die zur Beschreibung eines bestimmten Krankheitsbildes relevant sind. Da die für den Bereich Abhängigkeitserkrankungen wichtigen Kategorien nicht nur von der Indikation abhängen, sondern auch vom Behandlungssetting, wurde das Core Set modular aufgebaut mit den Versorgungsbereichen Beratung, Vorsorge, Entzug, Medizinische Reha und Soziale Reha (MCSS = Modulares ICF Core Set Sucht). Eine Forschungsgruppe aus dem Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf legte dazu 2016 einen ersten Vorschlag vor, der im Rahmen eines gemeinsamen Projektes mit Expertinnen und Experten aus der Suchthilfe entwickelt worden war. Ab 2017 lief ein Folgeprojekt, in dessen Rahmen das MCSS im Hinblick auf seine Praxisrelevanz und Validität empirisch überprüft wurde. Dabei wurde es querschnittlich in der Routineversorgung eingesetzt. Das mittlerweile finalisierte MCSS umfasst das Basismodul (25 Kategorien), das für alle Behandlungsbereiche einsetzbar ist, sowie die bereichsspezifischen Module Beratung (8 Kategorien), Vorsorge (7 Kategorien), Qualifizierter Entzug (6 Kategorien), Medizinische Reha (32 Kategorien) und Soziale Reha (10 Kategorien), die zusätzlich angewendet werden können. Es ist davon auszugehen, dass das nun vorliegende konsentierte MCSS zu einer stärkeren expliziten Berücksichtigung der ICF in der Suchtrehabilitation führen wird.

Am 23. September 2020 erscheint Teil III mit den Themen Modularisierung, Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung, Leistungsrecht und Wirtschaftlichkeit.

Kontakt:

Prof. Dr. Andreas Koch
Therapiehilfe gGmbH
Conventstr. 14
22089 Hamburg
andreas-koch@therapiehilfe.de

Angaben zum Autor:

Prof. Dr. Andreas Koch ist Mitglied der Geschäftsführung der Therapiehilfe gGmbH, Hamburg, und Honorarprofessor an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Fachbereich Sozialpolitik und Soziale Sicherung, Hennef.