Stefan Bürkle

Leistungserbringung im ethisch-ökonomischen Spannungsfeld

Grundannahmen – Standortbestimmung zur Annäherung an das Thema

Stefan Bürkle

Die deutsche Philosophin Annemarie Piper, Verfasserin des Standardwerkes „Einführung in die Ethik“, formulierte 2014 in einem Vortrag zu Ethik und Ökonomie den Satz: „Wir kennen von allem den Preis, aber nicht den Wert.“ Entsprechend könnte die Leitfrage für die folgenden Überlegungen lauten: „Wie würde sich der Blick auf die Leistungserbringung in der Suchtrehabilitation verändern, wäre dieser maßgeblich vom Wert und nicht so sehr vom Preis einer Leistung bestimmt?“ In diesen Ausführungen soll ein fachlich-ethischer Zugang zu den Grundlagen des Handelns als Leistungserbringer in der Suchtrehabilitation entwickelt werden. Dabei sind folgende Fragen maßgeblich:

  • Von welchen Anforderungen und Werten gehen wir bei der Leistungserbringung aus?
  • Welche Vorgaben bestimmen und rahmen unser Handeln?
  • Orientieren wir uns mehr am „Preis“ oder am „Wert“?

Gemeinsam mit der Aussage von Annemarie Piper zum Verhältnis von Preis und Wert bildet der ethische Anspruch vom „richtigen Handeln in verantwortbarer Praxis“ das gedankliche Konzept dieser Ausführungen. Der Historiker Jürgen Nielsen-Sikora von der Universität Siegen geht in einem Aufsatz aus dem Jahr 2015 der Frage nach, ob das von dem Philosophen Hans Jonas beschriebene „Prinzip Verantwortung“ (1979) auch heute noch Gültigkeit hat. Er kommt zu dem Fazit: Ja, denn die Zukunftsorientierung im ethischen Konzept von Jonas ist eine fortwährende. Sie macht es erforderlich, dass Menschen und Gesellschaften immer wieder Antworten auf neue gesellschaftspolitische Situationen geben. Aktuelle Themen wie die mediale und digitalisierte Welt, Antidemokratiebewegungen, die Suche nach neuen Formen einer Aufrichtigkeitskultur (Fake News) bzw. neuartige Kriege und die Gefahr terroristischer Anschläge unterstreichen die gerade heutzutage existenzielle Bedeutung des Prinzips Verantwortung.

Das Prinzip Verantwortung, das auf eine Verantwortung für die zukünftige Geschichte verweist, besitzt nicht nur für wissenschaftliche Überlegungen fundamentale Bedeutung. Jonas baut auch eine hilfreiche Brücke zum praktischen Geltungsbereich seiner Verantwortungsethik. Danach bedeutet Verantwortung, „den Einzelfall zu prüfen und zu entscheiden, ob diese oder jene Handlung moralisch vertretbar ist. (…) Nie ganz zu klären ist jedoch, ob eine vorsorglich getroffene Entscheidung und die daraus resultierende Handlung tatsächlich langfristig erhoffte positive Wirkungen nach sich ziehen.“ (Nielsen-Sikora, 2015, S. 11) Bedeutsam erscheinen hierbei die Aspekte „prüfen“ und „entscheiden“.

Nach dem „Handwörterbuch Philosophie“ „bezeichnet Verantwortung die Zuschreibung des Denkens, Verhaltens und Handelns eines Menschen an dessen freie Willensentscheidung, für die er genau deshalb rechenschaftspflichtig ist und für die er mit allen Konsequenzen einstehen muss. Verantwortung gründet demnach in der Freiheit des Menschen. Denn nur wenn der Mensch die Möglichkeit hat, sein Denken, Verhalten und Handeln selbst zu bestimmen, kann er dafür auch zur Rechenschaft gezogen werden.“ (Rehfus, 2003, S. 736) Ergänzend hierzu und als praktische Konsequenz führt der Journalist Sven Precht in seinem Essay „Sind wir in unseren Entscheidungen frei?“ aus, dass Verantwortung zu übernehmen, mindestens drei Dinge voraussetzt, nämlich:

  • eine Handlung zu tätigen, wobei auch ein bewusstes Nichthandeln bzw. eine Enthaltung eine Handlung darstellen können,
  • die Folgen einer Handlung einigermaßen absehen zu können, was aber immer nur bedingt möglich ist, und
  • eine Entscheidung aus freiem Willen treffen zu können, ansonsten kann von „meiner“ Entscheidung nicht die Rede sein.

Das oben skizzierte Grundverständnis von Verantwortung, an dem sich das Handeln orientiert und das daran auch messbar wird, findet sich wieder in den Werten, Leitmodellen oder Leitbildern von Organisationen.

Ansprüche an die Leistungserbringer und Rahmenbedingungen der Leistungserbringung

Die Ethik, die bei der Leistungserbringung zum Tragen kommt, steht in einem engen Verhältnis und in Wechselwirkung zum Rahmen der Leistungserbringung und zu deren jeweiligen Besonderheiten. Die Leistungserbringung besteht aus Aktivitäten bzw. Handlungen, die eine Entscheidung voraussetzen. Dieses Handeln bzw. die mit der Umsetzung von Aufträgen verbundenen Handlungen sind vielschichtig und berühren unterschiedliche Vorgaben, Rahmenbedingungen und Erwartungen. Aufgrund der unterschiedlichen Handlungsebenen und der vielfältigen Rollen, die der Leistungserbringer im Rahmen seines Auftrags einnimmt, können die handelnden Personen in ethische Konflikte kommen. Die handlungsleitenden Fragen dabei können sein:

  • Wem gegenüber sind wir in der Leistungserbringung verantwortlich?
  • Auf wen bezieht sich das „richtige Handeln in verantwortlicher Praxis“?
  • Welchen ethischen Ansprüchen müssen unsere Entscheidungen und unsere Handlungen genügen?

Welche Ansprüche und Erwartungen werden nun an die Leistungserbringung oder an Leistungserbringer gestellt? Manche dieser Ansprüche liegen in den Organisationen und deren Selbstverständnis begründet, andere sind externer Natur.

Intern begründete Ansprüche – Organisationsebene

  • Auf Organisationsebene prägen ganz entscheidend fachlich-qualitative Ansprüche die Leistungserbringung.
  • Organisationen stehen in der Verantwortung, ökonomisch zu planen, zu entscheiden und zu handeln.
  • Organisationen stehen in der Fürsorgeverpflichtung gegenüber ihren Mitarbeiter/innen. Diese beinhaltet u. a., Arbeit zur Verfügung zu stellen, qualifizierte Leistungen der Mitarbeiter/innen einzufordern und angemessen zu vergüten sowie Maßnahmen der Personalentwicklung anzubieten. Damit ist auch der Anspruch verbunden, für annehmbare Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz und bei der Arbeit zu sorgen, bspw. dauerhafte Arbeitsverdichtungen, die sich gesundheitsschädigend auswirken können, zu vermeiden.
  • Organisationen sind ihren spezifischen Werten und Leitbildern verpflichtet, in denen im Wesentlichen die Grundlagen und die Ausrichtung ihres Handelns, ihre Kultur, ihre Umgangsformen etc. niedergelegt sind.

Externe Ansprüche

  • Auf externer Ebene bringen die gesellschafts- und fachpolitischen Rahmenbedingungen, in die die Leistungserbringung in der Suchthilfe eingebettet ist, eine Reihe von Ansprüchen mit sich. Diese konkretisieren sich u. a. im Sozialstaatsprinzip und der kommunalen Daseinsvorsorge, im Subsidiaritätsprinzip oder in der Umsetzung von wissenschaftlichen und politischen Leitkonzepten wie der gesellschaftlichen und beruflichen Teilhabe oder Modellen der Resozialisierung und Rehabilitation.
  • Der gesetzliche Rahmen für die Leistungen der Suchthilfe ist sehr vielschichtig und bezieht sich u. a. auf unterschiedliche Sozialleistungsgesetze, das Betäubungsmittelgesetz sowie auf auf eine Vielzahl von Verordnungen wie z. B. die Betäubungsmittelverschreibungsverordnung usw.
  • Der fachlich-wissenschaftliche Diskurs in Form von Debatten oder Konsensbildung schafft Orientierung, setzt aber auch Vorgaben (Stichwort: Evidenzbasierung, Leitlinien etc.).
  • Die Leistungserbringer sind entscheidend mit den Ansprüchen und Vorgaben der Leistungsträger konfrontiert. Dies zeigt sich im Rahmen der gesetzlich bzw. vertraglich vereinbarten Auftragserfüllung: durch Verträge, Rahmenvereinbarungen, Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen, Strukturvorgaben, Vorgaben der Qualitätssicherung etc.
  • Last not least sind die (nicht weniger vielschichtigen) Ansprüche und Erwartungen der Klient/innen bzw. Patient/innen an die Hilfeleistung oder Behandlung zu nennen. Neben bestmöglichen und zeitnah erbrachten Leistungen bestehen berechtige Ansprüche der Hilfesuchenden in einer konsequenten Umsetzung der Grundhaltungen von Achtsamkeit, Partizipation, Emanzipation und Empathie durch Berater/innen und Therapeuten/innen.

Werte und ethisches Verständnis bei einem christlich orientierten Wohlfahrtsverband

Neben dem Anspruchs- und Erwartungsrahmen bildet der Werterahmen ein grundlegendes Fundament der Leistungserbringung. Das spezifische Werte-Fundament für die Leistungserbringung des Deutschen Caritasverbandes als christlich-religiös orientiertem Wohlfahrtsverband ist die katholische Soziallehre. Daraus entsteht letztlich auch das Spannungsfeld für die christlich orientierte Wohlfahrtspflege: Sie steht zwischen der Anforderung, sich im Wettbewerb zu behaupten, und einem christlich-ethischen Anspruch der Soziallehre. Im Wesentlichen ersichtlich wird der Spagat für die Leistungserbringung anhand der Doppelrolle, sowohl Anwalt wie auch Dienstleister für Hilfesuchende zu sein. Gleichzeitig fühlt sich die Wohlfahrtspflege dem Anspruch des Wunsch- und Wahlrechtes sowie der Pluralität im Angebot verpflichtet. Die dahinterstehende Haltung ist im Kern die Frage: „Was willst du, dass ich für dich tun kann?“

Die Basis ethischen Handelns in einem Wohlfahrtsverband wie der Caritas bildet die soziale Verantwortung auf der Grundlage der katholischen Soziallehre. Die katholische Soziallehre beinhaltet Ideen für eine mögliche Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens und das Grundkonzept sozialer Gerechtigkeit. Vereinfacht skizziert geht das Konzept der katholischen Soziallehre auf gesellschaftliche Entwicklungen des 19. Jahrhunderts in Europa zurück. Prägend war die Industrialisierung, verbunden mit einer Arbeiterschaft, die oft in ungeschützten und teilweise elenden Verhältnissen leben musste. Die katholische Soziallehre umfasst vier klassische und eine Reihe weiterer grundlegender Prinzipien, die die Idee der sozialen Gerechtigkeit und die Idee vom gerechten sozialen Zusammenleben verkörpern und mit Leben füllen. Auf die klassischen Prinzipien der Personalität, der Solidarität, der Subsidiarität und des Gemeinwohlprinzips sowie auf das relativ neue Prinzip der Nachhaltigkeit soll hier kurz eingegangen werden.

  • Personenprinzip oder Prinzip der Personalität: Das Personenprinzip betont die Einmaligkeit des Individuums und geht von der Grundprämisse aus, dass gesellschaftliche Ordnungen dem Wohl des Einzelmenschen dienen müssen. „Nach dem obersten Grundsatz dieser Lehre muss der Mensch der Träger, Schöpfer und das Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen sein.“ (Johannes P.P. XXIII, 1961, n219) Die Entsprechung auf Ebene der Leistungserbringung wäre u. a. die Personen- oder Klientenorientierung, aber auch die freie Entscheidung in Verantwortung.
  • Solidaritätsprinzip: Das Solidaritätsprinzip geht von dem Verständnis aus, dass gemeinsame Ziele nur über die Bündelung der Fähigkeiten und Interessen der Menschen verwirklicht werden können. Damit ist die Entschlossenheit verbunden, sich für das Gemeinwohl einzusetzen, und auch die Entschlossenheit, Einfluss und Mittel (Güter und Dienstleistungen), wo sie vorhanden sind, für diejenigen einzusetzen, denen sie fehlen. Die Entsprechung auf Ebene der Leistungserbringer ist das Mandat der Anwaltschaft für die Interessen und Belange der Klientel (Stichwort: Rechtsdurchsetzung).
  • Subsidiaritätsprinzip: Das Subsidiaritätsprinzip (oder das Prinzip der Nachrangigkeit) verkörpert die Hilfe zur Selbsthilfe, auf individueller, gesellschaftlicher oder Organisationsebene. Es ist mit dem urdemokratischen Prinzip verbunden, Zuständigkeiten und Verantwortungen zu verteilen. Die Entsprechung auf Ebene der Leistungserbringung ist auch hier wiederum die Personenorientierung. Das Subsidiaritätsprinzip steht für Werte und fachliche Grundstandards wie die Förderung von Autonomie, Selbständigkeit und Selbstwirksamkeit.
  • Gemeinwohlprinzip: Im Gemeinwohlprinzip ist das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit hinterlegt. Es ist mit der Verantwortung für die Gemeinschaft verbunden. Die Entsprechungen auf Leistungserbringerebene zeigen sich heute ganz maßgeblich in Bemühungen, zur Beteiligungsgerechtigkeit beizutragen, Zugänge zu eröffnen und letztlich gesellschaftliche (soziale und berufliche) Teilhabe zu fördern und zu ermöglichen.
  • Prinzip der Nachhaltigkeit: Neuerdings wird das Prinzip der Nachhaltigkeit auch zu den Sozialprinzipien der katholischen Soziallehre gerechnet. Damit soll eine nachhaltige, dauerhafte und zukunftsfähige Entwicklung ausgedrückt werden. Es ist aktuell das maßgeblichste Prinzip, wenn es in der Leistungserbringung um die Frage der Wirkungsorientierung, der Verhältnismäßigkeit der Mittel, der Effizienz von Maßnahmen und Hilfen und letztlich der Wertschöpfung geht. Hier kommt das „Prinzip Verantwortung“ im Verständnis von Hans Jonas am stärksten zum Ausdruck. Hier wird die Schnittstelle von Ökonomie und Leistungsrahmen besonders eindrucksvoll.

Nach den Vorüberlegungen zum Begriff der Verantwortung, der Beschreibung des Erwartungs- und Anspruchsrahmens für die Leistungserbringung sowie der maßgeblichen Werte für christlich orientierte Leistungserbringer folgen nun Beispiele für mögliche ethische Konflikte auf der konkreten Handlungsebene der Leistungserbringung.

Beispiele für ethische Konflikte auf Handlungs- und Bezugsebene

Wo kann die Leistungserbringung nun ganz praktisch in ethische Konflikte kommen? Oder: Wie viel Raum bleibt Leistungserbringern für ethisches Denken? Wo wäre z. B. eine bestimmte Form, ein bestimmter Umfang der Leistungserbringung ethisch geboten, lässt sich aber aufgrund bestimmter Rahmenbedingungen nicht durchsetzen? Anhand von zwei praktischen Beispielen sollen mögliche Konfliktlinien und die Bewegung der Leistungserbringung im ethischen Raum aufgezeigt werden.

Indikationsgeleitete Vermittlung in eine Rehabilitationsfachklinik

Am „richtigen Handeln in verantwortbarer Praxis“ bei der indikationsgeleiteten Vermittlung von Klient/innen bzw. Patient/innen in eine Rehabilitationsfachklinik – unter Konkurrenzbedingungen und bei steigendem Kostendruck – bilden sich die vielfachen fachlichen und ethischen Dimensionen ab. Sie betreffen die folgenden Aspekte:

  • Berücksichtigung der Patientenorientierung, des Wunsch- und Wahlrechts
  • Sicherstellung der fachlich-indikationsgeleiteten Beratung und Entscheidung
  • Kostendruck und wirtschaftliche Absicherung der Einrichtung
  • Druck zur Arbeitsplatzsicherung
  • Umsetzung organisationsinterner Vorgaben bzw. Anweisungen
  • Gefahr der Vorteilsnahme (Geld- und Sachspenden, Absprachen)
  • Einhaltung bzw. Umsetzung der Fürsorgeverpflichtung als ethischer Konflikt für leitungsverantwortliche Mitarbeiter

Eine Reihe möglicher ethischer Konfliktlinien kann sich aus der Dynamik des Zusammenspiels dieser Bereiche ergeben – wobei der Umgang mit Konflikten, das Austarieren von unterschiedlichen Interessen der Beteiligten, das Abwägen bei Entscheidungen sowie das Ausbalancieren von Erfordernissen und Notwendigkeiten in Beratungs- und Behandlungsprozessen zum alltäglichen und professionellen Job der Mitarbeiter/innen in der Suchthilfe gehört – egal, auf welcher Ebene.

Im Beratungsprozess treffen fachliche, rechtliche und ethische Aspekte aufeinander. Grundsätzlich ist die patientenorientierte Ausrichtung wie insbesondere die Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts auf rechtlicher Ebene und über Vereinbarungen geregelt sowie auf der Basis fachlicher Standards vorgegeben (Quelle SGB IX etc.). Aber wie die Patientenorientierung im Rahmen der Leistungserbringung, in Beratung und Therapie und im Entscheidungsprozess zur Vermittlung in eine geeignete Behandlungsform bzw. Einrichtung tatsächlich realisiert wird, ist auch eine Haltungsfrage der handelnden Akteure. Besteht ausreichend Zeit und Raum im Beratungsprozess, damit eine patientenorientierte Haltung konsequent zur Entfaltung kommen kann? Bleibt die Patientenorientierung eine Floskel oder gar Farce im beruflichen Alltag? Wie ernst werden Klient/innen in ihren Entscheidungen für eine bestimmte Behandlungsform oder eine bestimmte Behandlungseinrichtung genommen? Bestehen echte oder auch nur gefühlte Vorgaben seitens des Dienstgebers, ausschließlich oder in erster Linie in Häuser des eigenen Trägers oder des eigenen Verbundes zu vermitteln? Wirken sich der finanzielle Druck zur Refinanzierung, der Wunsch nach wirtschaftlicher Absicherung der Einrichtung oder dem Erhalt von Arbeitsplätzen unmittelbar auf den fachlich-therapeutischen Prozess aus?

Leitsätze für ein „richtiges Handeln in verantwortbarer Praxis“ in Bezug auf eine indikationsgeleitete Vermittlung können hilfreich und zielführend sein. Die folgenden Leitsätze orientieren sich am „Verhaltenskodex für die Zusammenarbeit zwischen Suchtkliniken und Zuweisern“ des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss, 2009).

  • Eine konsequent fachlich und indikationsgeleitete Beratung und Entscheidung durch Mitarbeitende erfolgt auf der Grundlage der Freiheit und Unabhängigkeit der Beratung, die auch durch den jeweiligen Dienstgeber berücksichtigt wird.
  • Beratung wie Entscheidung respektieren das Wunsch- und Wahlrecht der Klient/innen bzw. Patient/innen und folgen grundsätzlich einer patientenorientierten Haltung im Beratungsprozess.
  • Die Indikation für die Zuweisung in eine Behandlungseinrichtung orientiert sich in erster Linie an der rehabilitativen Zielsetzung (Indikationen/Spezialindikationen, Diagnosestellungen, Erwerbsfähigkeit, Wohnort- und Arbeitsplatznähe, Beziehungsebene etc.) und erfolgt nach allgemein anerkannten Regeln (Konsens der Fachgesellschaften, Leitlinien, therapeutische Standards).
  • Ein Ermessensspielraum kann bestehen: Die Priorisierung eigener Häuser kann bei einem indikationsbezogenen Alleinstellungsmerkmal des vorgeschlagenen Hauses (Klient wünscht ausdrücklich ein Haus der Caritas) oder bei gleicher fachlicher Eignung mehrerer möglicher Häuser unterschiedlicher Anbieter erfolgen. Nicht zu vergessen ist aber, dass die Zuweisung nicht autonom durch Klienten und Leistungserbringer erfolgt, sondern letztlich immer vom zuständigen Leistungsträger, unter Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts, entschieden wird.
  • Die fachlichen Entscheidungen (therapeutisch, ärztlich) sind unabhängig von ökonomischen Erwägungen zu treffen. Die therapeutische Haltung und der Behandlungsnutzen sind für die Entscheidung maßgeblich.
  • Wirtschaftliche Belange sind in frei-gemeinnützigen Einrichtungen ethischen und sozialen Maßstäben unterzuordnen. Eine entsprechende Regelung soll im Leitbild verankert werden.

Ambulante Rehabilitation Sucht

Die aktuelle Situation der ambulanten Rehabilitation Sucht (ARS) stellt ein etwas anderes Beispiel dar, lässt aber durchaus mögliche ethische Konfliktlinien in der Leistungserbringung ersichtlich werden. Die Behandlungsform der ambulanten Rehabilitation Sucht steht derzeit massiv unter wirtschaftlichem, aber auch unter fachlichem Druck. Insbesondere die Einführung des Rahmenkonzeptes Nachsorge und die klare Abgrenzung zwischen therapeutischen und nachsorgeorientierten Leistungen hat die Sachlage für die Leistungserbringer weiter problematisiert. Nicht wenige Träger verabschieden sich aus der Leistungserbringung aufgrund einer zu geringen wirtschaftlichen Perspektive. Zu einer ganzen Reihe an fachbezogenen Themen und Details sind die Suchtverbände derzeit mit der Leistungsträgerseite im Gespräch. Dazu gehören:

  • Finanzierung/Wirtschaftliche Ebene: Die Leistungsanbieter haben den Anspruch, kostendeckend zu arbeiten. Eine Vollkostenrechnung der Leistungsform ist seit der Konzipierungs- und Erprobungsphase vor 25 Jahren nicht erfolgt. Mit bestehendem Kostensatz ist eine Kostendeckung vielfach nicht gegeben und nur über die Einbindung der Leistungsanbieter in das Gesamtangebot der kommunalen ambulanten Grundversorgung, ggf. unter Einbringung finanzieller Eigenleistungen, möglich.
  • Fachliche Bewertung des Rahmenkonzeptes: Im Rahmen der Leistungserbringung stellt sich zunehmend die Frage, inwieweit das Rahmenkonzept noch den aktuellen fachlichen Anforderungen und Möglichkeiten entspricht. Beispielsweise müsste darüber nachgedacht werden, die für die Bewältigung der ärztlichen Tätigkeiten notwendige Personalbemessung von der Anzahl der Gruppen zu entkoppeln. Entsprechendes gilt für die Frage, wie die erforderliche Diagnostik zukünftig effektiver sichergestellt werden kann. Und auch die Frage nach den Kriterien zur Zulassung von Psychologischen Psychotherapeut/innen in Ausbildung müsste überdachte werden.
  • Personaleinsatz/Personalgewinnung: Der Fachkräftemangel hat sich für alle in der ARS maßgeblich tätigen Berufsgruppen (Sozialarbeit/Sozialpädagogik, Medizin, Psychologie) akut verschärft. Dies gilt insbesondere für den generell unterversorgten ländlichen Raum. Nötig wäre eine realistische Bemessung der fachlichen Erfordernisse auf allen Ebenen, um die professionellen Standards der ambulanten medizinischen Rehabilitation weiter angemessen umzusetzen und gleichzeitig den betriebswirtschaftlichen Erfordernissen der aktuellen Entwicklungen gerecht zu werden.

Ethische Konfliktlinien zeigen sich vor diesem Hintergrund insbesondere im folgenden Spannungsfeld: Es besteht der Anspruch, ambulante medizinische Rehabilitationsleistungen in der gebotenen fachlichen Qualität anzubieten und den Klient/innen die bestmögliche und bedarfsorientierte Behandlung zukommen zu lassen. Hierzu ist es erforderlich, entsprechend qualifiziertes Personal vorhalten und die Leistungen unter adäquaten Rahmen- und Arbeitsbedingungen erbringen zu können.

Gemessen an den oben formulierten ethischen Leitsätzen kann der finanzielle Druck zur Refinanzierung der Leistung zu erheblichem ethischen Druck führen. Für die Berater/innen und Therapeuten/innen entsteht er mit den beiden Fragen, inwieweit sie Leistungen qualifiziert genug erbringen können und inwieweit die fachlichen und an den Rehabilitationszielen orientierten Indikationsstellungen möglichst unbeeinflusst von ökonomischen Faktoren erfolgen können. Für die Organisationen der Leistungserbringerseite kann die stetige Arbeitsverdichtung zu einer fortwährenden Verletzung der Fürsorgeverpflichtung gegenüber den Mitarbeitenden führen sowie zu einem unangemessenen und ggf. auch zweckentfremdeten Einsatz von finanziellen Eigenmitteln.

Was kann im beschriebenen Beispiel helfen? Hier wird deutlich, wie sich fachliche und ethische Ansprüche gegenseitig bedingen können. Gute und adäquate fachliche Lösungen können dazu beitragen, ethisches Konfliktpotenzial zu entschärfen. Komplexe Probleme erfordern komplexe und konzertierte Lösungen. Deshalb schlagen die in der DHS organisierten Verbände zum Thema ARS ein gemeinsames Vorgehen der Leistungserbringer und Leistungsträger vor. Zielsetzung – neben dem Erreichen einer auskömmlichen Finanzierung – ist dabei, das Rahmenkonzept ARS von 2008 im Rahmen einer Arbeitsgruppe aus DRV/GKV und Suchtverbänden zu prüfen und ggf. den fachlich erforderlichen und realistisch umsetzbaren Anforderungen anzupassen.

Schlussgedanke

Eine ethische (Grund-)Spannung bleibt in der Leistungserbringung immer erhalten. Das Ringen um das „richtige Handeln in verantwortbarer Praxis“ ist eine Gemeinschaftsaufgabe der beteiligten Akteure – ein Prozess auf Ebene der Leistungserbringer wie der Leistungsträger. Grundindikatoren für ein Gelingen dieses Prozesses sind der Ausbau des fachlichen (Qualitäts-)Dialogs, Transparenz in Entscheidung und Ausführung, Konfliktbereitschaft und partnerschaftlicher Umgang auf Augenhöhe. Die Aussage „Wir kennen von allem dem Preis, aber nicht den Wert“ sollten wir uns immer mal wieder ins Gedächtnis rufen und in Verhandlungen und vor Entscheidungen bewusst machen.

Dieser Artikel basiert auf einem Vortrag, den der Autor beim 30. Heidelberger Kongress des Fachverbandes Sucht e.V. am 22. Juni 2017 gehalten hat.

Kontakt:

Stefan Bürkle
Caritas Suchthilfe e.V. (CaSu)
Karlstraße 40
79104 Freiburg
Tel. 0761/200 303
casu@caritas.de
www.caritas-suchthilfe.de

Angaben zum Autor:

Stefan Bürkle ist Geschäftsführer der Caritas Suchthilfe e.V. (CaSu) – Bundesverband der Suchthilfeeinrichtungen im Deutschen Caritasverband, Freiburg.

Literatur:
  • Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss, 2009): Verhaltenskodex für die Zusammenarbeit zwischen Suchtkliniken und Zuweisern (nicht veröffentlicht)
  • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS, 2016): Ambulante Rehabilitation Abhängigkeitskranker – Gemeinsames Rahmenkonzept DRV und GVV, vom 03.12.2008. Vorschlag der DHS zur Überarbeitung
  • Johannes P.P. XXIII (1961): Mater et Magistra
  • Hans Jonas (1979): Das Prinzip Verantwortung – Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation
  • Jürgen Nielsen-Sikora (2015): Ist das ‚Prinzip Verantwortung‘ noch aktuell? Working Papier, Forschungskolleg Siegen, Universität Siegen
  • Sven Precht: Sind wir in unseren Entscheidungen frei?, in: Netzwerk Ethik Heute, https://ethik-heute.org/sind-wir-in-unseren-entscheidungen-frei/ (letzter Zugriff 21.11.2017)
  • Wulff D. Rehfus (Hrsg., 2003): Handwörterbuch Philosophie, Göttingen

Titelfoto©Wolfgang Weidig