rehapro-Projekte in der Suchtreha

Im Rahmen des ersten Förderaufrufs des Bundesprogramms „Innovative Wege zur Teilhabe am Arbeitsleben – rehapro“ werden seit Herbst 2019 55 Modellprojekte gefördert. Darunter befinden sich auch rund ein Dutzend Projekte, die in der Suchtreha verankert sind. Drei dieser Projekte, die in Mitgliedseinrichtungen des buss durchgeführt werden, sollen hier näher vorgestellt werden. Die zuständigen Mitarbeiter*innen berichten, welche Ziele die Projekte verfolgen und welche Maßnahmen umgesetzt werden.


Ein rehapro-Projekt im Nordwesten: SEMRES – Mit Lotsen und dem Rehakompass aus rauer See in den richtigen Hafen!

Projektname: SEMRES – Steuern mit dem Rehakompass: Alle in einem Boot. Schnittstellenmanagement zur frühzeitigen Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs und rechtzeitigen Vermittlung in die Rehabilitation von Menschen mit Suchterkrankungen

Dr. Natalie Schüz

Martina Jährmann-Rittner

Dr. Ulrich Böhm

Seit Jahren gehen die Anträge für Suchtrehabilitation zurück. Zudem wissen wir, dass es durchschnittlich mehr als zehn Jahre dauert, bis Suchtkranke in der medizinischen Rehabilitation für Abhängigkeitserkrankte ankommen. Die Deutsche Rentenversicherung Oldenburg-Bremen hat in Kooperation mit der Fachklinik Weser-Ems, dem RehaCentrum Alt-Osterholz sowie der Fachstelle Sucht Oldenburg und der Ambulanten Suchthilfe Bremen über den Fördertopf rehapro einen Antrag beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales eingereicht, um neue Zugangswege in die Rehabilitation zu kreieren. Die Projektidee wurde bewilligt, das Projekt ist angelaufen und soll zunächst bis Ende 2024 evaluiert und, wenn erfolgreich, verstetigt werden. Die wissenschaftliche Begleitforschung wird über die Hochschule Emden/Leer unter Leitung von Prof. Knut Tielking durchgeführt.

Was bedeutet SEMRES und was soll konkret erfolgen?

SEMRES bedeutet: Schnittstellenmanagement zur frühzeitigen Ermittlung des Rehabedarfs und rechtzeitigen Vermittlung in die Reha bei Suchterkrankungen.

Die so genannten Lotsen sind angestellte Psycholog*innen und Gesundheitswissenschaftler*innen der DRV Oldenburg-Bremen. In einem ersten Schritt schulen sie Netzwerkpartner darin, Menschen mit psychischen Belastungen und/oder problematischem Konsum in ihren Lebenswelten anzusprechen und in das Projekt zu vermitteln. Zu den Netzwerkpartnern gehören:

  • Sozialleistungsträger (z. B. Jobcenter, Arbeitsagenturen, Krankenkassen),
  • betriebliche Strukturen (z. B. IHK, Arbeitgeberverband),
  • medizinische Strukturen (Hausärztenetz, Psychotherapeutenkammer, Verband der Betriebs- und Werksärzte) und
  • soziale Strukturen (z. B. Sportvereine, Familienberatungsstellen).

Die Zielgruppe sind Menschen mit zu erwartenden oder beginnenden Rehabilitationsbedarfen. Die identifizierten Problemfelder weisen dabei auf eine Abhängigkeitserkrankung oder psychische Beeinträchtigungen hin.

In einem zweiten Schritt weisen die geschulten Netzwerkpartner Menschen aus der Zielgruppe den Lotsen zu. In einem strukturierten Anamnesebogen werden gezielt Symptome erfragt, die psychische Beeinträchtigungen erfassen, aber auch suchtbedingte Störungen. Bei ausreichenden Hinweisen für eine substanzbedingte Störung vermitteln die Lotsinnen und Lotsen schließlich die betreffenden Personen in den Rehakompass.

Was findet im „Rehakompass“ statt?

Die von den Lotsinnen und Lotsen akquirierten Teilnehmer*innen erhalten im Sucht-Rehakompass über zwei Tage im Rahmen von neun Modulen einen Einblick in die Behandlungsangebote und Räumlichkeiten einer Rehabilitationsklinik für Abhängigkeitserkrankte, und sie bekommen Informationen und Empfehlungen bezüglich ihres persönlichen Rehabilitationsbedarfs. Sie begegnen Mitarbeitenden der Fachklinik, der kooperierenden Suchtberatungsstelle und aktuellen Rehabilitanden. Über Psychoedukation erweitern sie ihr Wissen über Suchterkrankungen und werden sensibilisiert, kritisch ihren Umgang mit Suchtmitteln zu betrachten.

An Tag 1 beginnt die Maßnahme mit einer Vorstellung der verantwortlichen Mitarbeitenden, der Fachklinik sowie der Ziele des Rehakompasses. Die Teilnehmer*innen lernen sich kennen, und ihre Erwartungen werden erfragt (Modul 1). Im Anschluss erfolgt ein Gesundheitscheck, der die Ermittlung von Laborwerten, eine Anamnese und eine fachärztlich orientierende Untersuchung umfasst. Parallel wird eine Psychodiagnostik durchgeführt, die auf die Bereiche berufliche Teilhabe und aktuelle psychische Beschwerden ausgerichtet ist (Modul 2). Am Nachmittag findet je nach aktueller Corona-Situation entweder ein analoger oder ein virtueller Rundgang durch die Einrichtung statt. Idealerweise stellen Mitarbeitende einzelner Berufsgruppen ihr Angebot vor (Modul 3). Im anschließenden Modul 4 wird es durch eine Psychoedukation zum Thema Stress und Belastungen persönlicher. Inhaltlich geht es um die Identifikation des individuellen Stressgeschehens, die Reflexion individueller Stresserfahrungen sowie den individuellen Suchtmittelkonsum als dysfunktionalem Stressbewältigungsmechanismus. Nach kurzer Pause steht das psychische Wohlbefinden im Mittelpunkt. Die Teilnehmer*innen lernen verschiedene Entspannungs- und Achtsamkeitsübungen kennen (Modul 5). Der erste Tag endet mit einem Rückblick und einem Ausblick auf Tag 2.

Der zweite Tag startet mit einer Psychoedukation zu den Themen Abhängigkeit, Suchtmittelmissbrauch und deren Folgen. Die Vermittlung allgemeinen Wissens dazu und ein Fragebogen zum individuellen Suchtmittelkonsum sollen zu einer kritischen Reflexion des eigenen Konsumverhaltens anregen (Modul 6). Die verbleibende Zeit am Vormittag ist der Vorstellung des lokalen Hilfesystems sowie der Inhalte und des Ablaufs einer Rehabilitations-/Präventionsmaßnahme vorbehalten (Modul 7). In Modul 8 besteht die Möglichkeit, sich mit aktuellen Rehabilitanden auszutauschen. Am Nachmittag des zweiten Tages führen ein Arzt oder eine Ärztin und ein*e die Maßnahme umfänglich begleitende Sozialarbeiter*in oder Psycholog*in Einzelgespräche mit den Teilnehmenden. Gemeinsam wird die Maßnahme rekapituliert, und die Teilnehmenden erfahren die Ergebnisse des Gesundheitschecks und der Psychodiagnostik. Abschließend wird eine konkrete Empfehlung für eine Weiterbehandlung ausgesprochen. Dies soll in ein organisiertes Übergabeverfahren an die Lotsinnen und Lotsen münden und das Ausfüllen von benötigten Formularen beinhalten.

Ziel des Projektes SEMRES

Ziel des Projektes SEMRES ist damit eine konkrete Empfehlung für die Teilnehmer*innen. Im Rehakompass wird die Richtung festgelegt: zum Beispiel die direkte Vermittlung in die Rehabilitation (ambulant, ganztägig ambulant oder stationär) oder in eine alternative Unterstützungsmaßnahme, z. B. in einer Suchtberatungsstelle. Das Verfahren ist ergebnisoffen.

Kontakt:

rehakompass@drv-oldenburg-bremen.de
Tel. 0421/34 07-230

Angaben zu den Autor*innen:

Dr. Ulrich Böhm, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie/ Sozialmedizin, Ärztliche Leitung, Therapiehilfe gGmbH, RehaCentrum Alt-Osterholz, Fachklinik für Suchterkrankungen, Bremen
Martina Jährmann-Rittner, Psychologische Psychotherapeutin, Therapeutische Leitung, Fachklinik Weser-Ems, Diakonisches Werk Oldenburg
Dr. Natalie Schüz, Wissenschaftliche Mitarbeiterin/Umsetzungsberaterin rehapro, Koordinationsmanagement Sozialmedizin, Deutsche Rentenversicherung Oldenburg-Bremen


Begleiteter Wiedereinstieg in Arbeit – mit dem rehapro-Projekt „BEAS“ neue Wege finden

Projektname: BEAS – Begleiteter Einstieg in das Arbeitsleben mit Starthilfe

Stephan Peter-Höner

Erwin Seiser

Menschen, die aufgrund von Sucht- und/oder psychischer Erkrankung aus dem Arbeitsleben gefallen sind, haben bei der Reintegration ins Arbeitsleben erfahrungsgemäß erhebliche Schwierigkeiten. Die Praxis zeigt, dass sie aufgrund der regional zuletzt sehr guten Arbeitsmarktlage oftmals zwar einen Arbeitsplatz finden, diesen aber schon bei geringer Störung im Ablauf wieder verlieren, sei es aufgrund mangelnder Belastbarkeit oder eines Rückfalls in alte Gewohnheiten. Das führt in der Regel zu weiteren, längeren Arbeitslosenzeiten und zu einer Misserfolgsprägung.

Eine anspruchsvolle Phase: der Wiedereinstieg ins Arbeitsleben

So hören wir in der Fachklinik Fischer-Haus in Gaggenau oftmals in der Entlassphase aus der Reha: „Was erwartet mich, wenn ich nach der Rehabehandlung an meinen alten Arbeitsplatz zurückkehre?“, „Wie geht mein Chef mit mir um, wie geben sich die Kolleginnen und Kollegen?“, „Das wird sicherlich kritisch, gab es doch zuletzt mehrere schwierige Situationen aufgrund meines Suchtproblems bei der Arbeit.“ Aber auch der Neuantritt eines Arbeitsplatzes bringt Verunsicherung: „Schaffe ich es dieses Mal, Fuß zu fassen?“, „Wie meistere ich kritische Situationen am Arbeitsplatz?“ Dies alles sind zentrale Themen bei der Planung der Zeit nach der Rehabehandlung. Viele gute Vorschläge und  erarbeitete Strategien im Gepäck, verlassen die Rehabilitand*innen die Klinik und gehen hinein ins echte Leben. Aber was ist, wenn es anders kommt, wenn die Planungen sich nicht umsetzen lassen? Wenn das Erlernte nicht ausreicht? In der Regel – so die Rückmeldungen vieler Betroffener – kommt es zum (erneuten) Arbeitsplatzverlust, oft auch begleitend zum Rückfall, eine Abwärtsspirale beginnt oder setzt sich fort.

Die Projektidee: Unterstützung und Begleitung

Wie lässt sich das vermeiden oder besser machen? Welche Möglichkeiten gibt es, Übergänge und schwierige Situationen nach einer erfolgreichen Stabilisierungsmaßnahme so zu gestalten, dass Erfolge verstetigt werden? Hier hat unser stark fraktioniertes Sozialsystem sicherlich noch Einiges an Verbesserungspotenzial – aber auch die Sozialverantwortung von Unternehmen bietet Ansatzpunkte, wünschenswert wäre z. B.eine wohlwollendere Herangehensweise mit der Aussicht auf einen langfristigen Erfolg einer (Re-) Integrationsstrategie.

Erfolgversprechende Ansätze für Projekte gab es schon einige, allerdings fehlte bis dato eine stabile Finanzierung und auch die Gesamtsicht über die unterschiedlichen Beschwerdeebenen. Mit dem Bundesprogramm „Innovative Wege zur Teilhabe am Arbeitsleben – rehapro“ des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales steht ein Förderprogramm zur Verfügung, das die Durchführung solcher Projeke zur Überwindung von Schnittstellen ermöglicht.

Im Frühsommer 2017 erreichte uns der 1. Aufruf der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg zur Einreichung von Projektideen für das Bundesprogramm rehapro. Ausgelobt – so war die damalige Information – hatte die Bundesregierung einen Fördertopf für innovative Projekte, die Übergänge an den Schnittstellen zwischen den SGB-Bereichen gestalten sollten. Die Fördersumme wurde mit einer Milliarde Euro festgesetzt.

Auf Basis der noch ziemlich spärlichen Vorgaben und Informationen setzten wir uns umgehend an eine Projektskizze. Idee war, ein differenziertes neues Unterstützungssystem für Menschen zu entwickeln, die aufgrund von Sucht- und/oder psychischer Erkrankung aus dem Arbeitsleben gefallen sind und damit bei der Reintegration ins Arbeitsleben erhebliche Schwierigkeiten haben. Leitend war dabei auch unsere Erfahrung, dass aufgrund der regional sehr guten Arbeitsmarktlage oftmals zwar ein Arbeitsplatz gefunden werden konnte, dieser aber schon bei geringer Störung im Ablauf wieder verloren ging, was in der Regel zu weiteren, längeren Arbeitslosenzeiten und zu einer Misserfolgsprägung führt. Des Weiteren leitete uns der schon lang vorhandene Wunsch, Suchtrehabilitation konsequent zu Ende zu denken, also die Integration in Arbeit und Gesellschaft in jeder Phase der Rehabilitation als handlungsleitend zu begreifen und somit Interventionen und Strategien aus medizinischer, beruflicher und sozialer Rehabilitation zu verknüpfen.

Als Projektziel wurde definiert, zunächst im Landkreis Rastatt und im Stadtkreis Baden-Baden eine strukturierte Hilfe für Menschen mit Suchterkrankung bei der Einstellung und (mindestens) im ersten Beschäftigungsjahr zur Verfügung zu stellen. Bei der Definition des Projektzieles wurde uns klar, dass es hierfür eines mehrdimensionalen Hilfeansatzes bedarf. Die Hilfe sollte durch eine sozialtherapeutische Fachkraft erfolgen, die regelmäßige Gespräche mit den Teilnehmenden führt und gegenüber dem Arbeitgeber der betroffenen Person eine Moderatorenfunktion übernimmt.

Abb. 1: Aktivitäten der Einrichtung bezogen auf die Rehabilitand*innen

In das Konzept von „BEAS – Begleiteter Einstieg in das Arbeitsleben mit Starthilfe“ flossen unsere Erfahrungen aus den Projekten „Step by Step“ (ein Arbeitsintegrationsprojekt für langzeitarbeitslose Menschen mit Sucht und/oder psychischen Problemen) und „Starthilfe“ (ein unternehmensbezogener Unterstützungsansatz) ein sowie aus dem Förderverein zur Wiedereingliederung für Suchtkranke (in dem konkrete Arbeitsplätze vermittelt und begleitet werden).

Neu an BEAS sind:

  • die aktiv gesuchten und strukturierten Kontakte und Kooperationen mit Arbeitgebern,
  • die Aufrechterhaltung dieser Kontakte im Hinblick auf Unterstützung in Krisensituation für Mitarbeitende und Unternehmen,
  • weiterhin die verbindliche Begleitung am Arbeitsplatz und
  • die Netzwerkarbeit in arbeitsbezogenen Kontexten.

Zentrales Ziel ist neben dem Finden eines angemessenen Arbeitsplatzes die nachhaltige Stabilisierung des Arbeitsverhältnisses.

Abb. 2: Aktivitäten der Einrichtung bezogen auf die Unternehmen

Abb. 3: BEAS Projektregionen

In BEAS werden neben den erwerbsbezogenen Integrationsschritten (incl. der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben) unterstützende Impulse und Leistungen im Bereich der weiteren sozialen Teilhabe  berücksichtigt und verfolgt.

Als weiteres Projektziel wurde die Übertragung des Ansatzes auf die angrenzenden Landkreise Ortenau, Karlsruhe Stadt und Landkreis sowie Pforzheim Stadt und Enzkreis benannt, da hier schon gute Kontakte zu möglichen Kooperations- und Netzwerkpartnern bestanden.

Von der Idee zum geförderten Projekt – beteiligte Institutionen

Für die wissenschaftliche Evaluation wurde von der DRV Baden-Württemberg das Universitätsklinikum Freiburg, Sektion Versorgungsforschung und Rehabilitationsforschung (SEVERA), eingebracht, das sich unter Leitung von Prof. Dr. Erik Farin-Glattacker unmittelbar in die Entwicklung mit einschaltete.

Als Projekttitel wählten wir das Akronym „BEAS“, das für Begleiteter Einstieg ins Arbeitsleben mit Starthilfe steht.

In mehreren Konkretisierungs- und Verfeinerungsrunden wurde aus dieser Projektskizze gemeinsam mit Ulrich Hartschuh, dem Projektkoordinator bei der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg, ein detailliertes Projektkonzept entwickelt, das schließlich neben drei weiteren Projektvorhaben der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg von dieser bei der Fachstelle rehapro eingereicht wurde.

In weiteren Prüf- und Rückkopplungsrunden mit der Fachstelle wurde die Projektidee durchleuchtet und das Umsetzungskonzept mit Klaus Marhoffer, dem Projektleiter bei der DRV Baden-Württemberg, verfeinert. Als Ergebnis wurde BEAS mit Förderbescheid vom 6.12.2019 als eines der bundesweit ca. 60 Umsetzungsprojekte des 1. Förderaufrufs für rehapro ausgewählt und konnte nach ungefähr zweieinhalbjähriger Vorlaufzeit zum 1.1.2020 starten. Die Projektlaufzeit ist auf fünf Jahre bis zum 31.12.2024 festgesetzt. Das Fördervolumen insgesamt beträgt knapp zwei Millionen Euro, davon entfallen auf den Fischer-Haus e.V. für die Durchführung der Projektmaßnahme ca. 1,5 Millionen Euro.

Nach einer ersten Projektphase mit vorbereitenden Klärungen und Maßnahmen bezüglich der Evaluation und Details der Interventionen ist BEAS mittlerweile gut angelaufen und die ersten Teilnehmer*innen sind ins Projekt aufgenommen. Und schon steht der nächste Meilenstein an, nämlich die Gewinnung der zweiten Kooperationsregion Karlsruhe.

Kontakt:

Erwin Seiser
Fachklinik Fischer-Haus
Mönchkopfstraße 21
76571 Gaggenau
E.Seiser@Fischer-Haus.de

Angaben zu den Autoren:

Stephan Peter-Höner, Leiter der Fachklinik Fischer-Haus, BEAS-Projektleitung/Steuerung fachlich
Erwin Seiser, Verwaltungsleiter und Kaufm. Vorstand der Fachklinik Fischer-Haus, BEAS-Projektleitung/Steuerung administrativ


Berufliche Teilhabebegleitung in der Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankungen (BORA-TB) – ein rehapro-Projekt aus der Perspektive einer Suchtrehabilitationsklinik

Projektname: BORA-TB – Berufsorientierte Teilhabebegleitung in der Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankungen

Elena Herbach

Ulrike Dickenhorst

Aufgrund der riskanten Wechselwirkung zwischen einem abhängigen Suchtmittelkonsum und der Gefahr, den Arbeitsplatz zu verlieren, stellt die berufliche Integration einen der wichtigsten Faktoren zur Stabilisierung von Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen dar (Henkel & Zemmlin 2015). Somit ist erklärtes Ziel der Suchtreha, die berufliche Teilhabe im Sinne des SGB 6 und SGB 9 zu erhalten und/oder wiederherzustellen und eine Erwerbsminderung zu verhindern (Weinbrenner & Köhler 2013).

Aus den Katamneseergebnissen des Entlassjahres 2018 (N=11.090) des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. wissen wir, dass die Arbeitslosenquote bei den alkoholabhängigen Rehabilitand*innen bei 41,6 Prozent und den drogenabhängigen Rehabilitand*innen bei 58,7 Prozent liegt. Für Rehabilitand*innen, die erwerbstätig sind, jedoch erwerbsbezogene Problemlagen aufweisen (BORA-Gruppe 2), würde eine weitergehende berufliche Stabilisierung auch positive Auswirkungen auf den gesundheitlichen Lebensstil, die intrapsychische Befindlichkeit und die soziale Gemeinschaft sowie das Familienleben haben (Zobel 2017).

Die Untersuchungsergebnisse von Vollmer und Domma (2020) bestätigen, dass erwerbstätige Rehabilitierte eine höhere Lebenszufriedenheit, eine höhere Selbstwirksamkeitserwartung und ein geringes Rückfallrisiko aufweisen und Rückfälle frühzeitiger stoppen konnten. Die sechsmonatige Abstinenz während der Therapie zeigte eine hohe Relevanz für den Status der Erwerbsfähigkeit, sowie das Alter: Jüngere Arbeitslose hatten eine dreifach erhöhte Wahrscheinlichkeit, ein Jahr nach Therapieende erwerbstätig zu sein. Dagegen hatten ältere Rehabilitand*innen eine höhere Wahrscheinlichkeit, durchgehend abstinent zu leben. Weitere relevante Faktoren, die den Erhalt des Arbeitsplatzes stabilisieren konnten, waren der Berufsabschluss, die Wohnregion, die Anzahl der Vorbehandlungen sowie die Höhe des Arbeitsentgeltes.

Berufliche Orientierung in der Reha

In der stationären Rehabilitation findet seit 2015 – seit die gemeinsamen „Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezuges in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter“ veröffentlicht wurden – eine bedarfsorientierte Förderung statt. Die Rehabilitand*innen werden hierzu in die BORA-Gruppen 1 bis 5 eingeteilt.

Allerdings finden die in der Rehabilitation erreichten Teilziele im Wiedereingliederungsmanagement der Jobcenter oder in den Angeboten der Agentur für Arbeit zur Erhöhung der „Return to Work“-Quote keine passgenaue Entsprechung. Als besonders problematisch zeigen sich Übergänge und Schnittstellen in den Behandlungs- und Betreuungsphasen sowie unabgestimmte Förderkonzepte. So haben Koch et al. (2020) gezeigt, dass trotz Kontaktoptionen mit nachfolgenden Stellen, diese nur zu 30 Prozent wahrgenommen wurden, 20 Prozent keinen Termin verabredet haben und die Kontaktanbahnung aus der Rehabilitation zu 46 Prozent nicht fortgesetzt wurde.

An dieser Stelle setzt das Modellvorhaben zur berufsorientierten Teilhabebegleitung in der Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankungen (BORA-TB) an. Es wurde federführend von der Deutschen Rentenversicherung Westfalen im Rahmen des Bundesprogramms „Innovative Wege zur Teilhabe am Arbeitsleben – rehapro“ beantragt. Das rehapro-Förderprogramm ist verankert im §11 SGB 9 und wird gefördert mit einer Milliarde Euro des BMAS. Der erste Förderaufruf wurde am 04.05.2018 ausgesprochen, der zweite am 25.05.2020. Antragsberechtigt sind Leistungsträger nach dem SGB 6 und dem SGB 2, die Projektlaufzeit kann bis zu fünf Jahre betragen. Eine wissenschaftliche Begleitung des Projektes ist möglich, die Gesamtevaluation des Förderprogramms findet durch ein bundesweites Konsortium um das Institut für Arbeit (IAQ) an der Universität Duisburg-Essen statt.

Struktur und Inhalt von BORA-TB

Das Modellvorhaben BORA-TB beinhaltet eine neue Leistung für abhängigkeitserkrankte Rehabilitand*innen: Teilhabebegleiter*innen fungieren als zentrale Ansprechpartner*innen für den gesamten Prozess der Rehabilitation und mindestens sechs Monate bis maximal zwölf Monate, mit dem Ziel, die berufliche Reintegration zu fördern und zu fordern. Das Innovative an diesem Ansatz ist die erstmalige Einführung einer Person in das System, die den Prozess der trägerübergreifenden beruflichen Integration unterstützt, moderiert, stabilisiert usw., besonders um die Nahtlosigkeit bei Systemübergängen zu gewährleisten.

Das Modellvorhaben wird in zwei Modellregionen durchgeführt. Ein Standort ist die ländliche Region des östlichen Ostwestfalens: Rehabilitand*innen der Bernhard-Salzmann-Klinik des LWL-Klinikums Gütersloh aus den Postleitzahlbereichen 32… und 33… werden in die Studie eingeschlossen und von Teilhabebegleiter*innen des Caritasverbandes Gütersloh und des diakonischen Werkes in Herford begleitet. Der zweite Standort ist der großstädtische Raum Dortmund. Die im LWL-Klinikum Dortmund aufgenommenen Rehabilitand*innen werden von Teilhabebegleiter*innen des Klinikums begleitet.

Das Modellvorhaben BORA-TB wird durch Prof. Dr. Thorsten Meyer von der Universität Bielefeld an der Stiftungsprofessur für Rehabilitationswissenschaften und Rehabilitative Versorgungsforschung der Fakultät Gesundheitswissenschaften begleitet, u. a. werden die Standortunterschiede zwischen ländlichen und städtischen Versorgungsstrukturen erfasst und bewertet. Des Weiteren werden die Arbeitsbedingungen der zentral oder dezentral eingesetzten Teilhabebegleiter*innen erhoben und Schlussfolgerungen auf die Ergebnisqualität gezogen. Die erfassten Daten werden zum einen summativ statistisch ausgewertet (Ergebnisevaluation) mit der Frage: Welche Effekte zeigen die Interventionen auf die Rehabilitand*innen und Versorgungsprozesse? Zum anderen erfolgt mit qualitativen Methoden eine formative Evaluation, um die Wirkmechanismen der Teilhabebegleitung in den verschiedenen Versorgungskontexten auf Prozess- und Rehabilitandenebene zu verstehen. Die Ergebnisse werden in entsprechende Empfehlungen für eine Projektimplementierung bei einer möglichen Verstetigung einfließen.

Projektziele

Die Projektziele beinhalten die Förderung der Motivation der Rehabilitand*innen, eine weiterführende berufliche Teilhabeleistung in Anspruch zu nehmen und eine langfristig berufsorientierte Perspektive zu entwickeln und zu festigen. Die Rate der sich in einem Beschäftigungsverhältnis befindenden Rehabilitand*innen sollte sich erhöhen, und für den Forschungszeitraum sollte eine Beschäftigung von mindestens zwölf Monaten möglich sein. Die AU-Dauer (Arbeitsunfähigkeit) sollte in dem Zeitraum verringert werden. Das Betreuungsverhältnis von Teilhabegleiter*in zu Rehabilitand*in sollte 1:30 nicht überschreiten, um eine gute Betreuung zu gewährleisten. Falls sich das Projekt als zielführend erweist, könnte die zukünftige Finanzierung von Stellen der  Teilhabebegleiter*innen über eine höhere Integrationsquote und eine Reduktion der Neuzugänge in die Erwerbsminderungsrente erreicht werden. Natürlich ist jede Reintegration einer/s Versicherten als Erfolg zu bewerten.

Im Projektverlauf werden neue Netzwerke dokumentiert, die Rehabilitand*innen werden zur Akzeptanz der Maßnahmen befragt, z. B. anhand von qualitativen Interviews. Besonderes Augenmerk liegt auf den bio-psycho-sozialen Teilhabehemmnissen. Sie werden sensibel erhoben, Hilfebedarfe erfasst und adäquate Maßnahmen eingeleitet. Auch die Gruppe der Rehabilitand*innen, die sich gegen eine Teilnahme entschieden hat, wird zu ihren Motiven befragt. Bei vorliegender Einverständniserklärung werden die soziodemographischen Daten mit in die Teilhabeplanung eingezogen sowie später die Ergebnisse der Ein-Jahres-Katamnese in der Datenbewertung berücksichtigt. In der Regel schließen die Rehabilitand*innen nach der Rehabilitation eine ambulante Weiterbehandlung/‌Fortführung/Nachsorge an, und die Kooperation zwischen Teilhabebegleiter*innen und weiterbehandelnden Suchtberatungsstellen ist regelhaft gewünscht.

Der erste Kontakt zu den Teilhabebegleiter*innen wird nach drei bis vier Wochen in der Klinik verabredet. Bis zu dem Termin haben die Rehabilitand*innen eine differenzierte sozialmedizinische BORA-Diagnostik durchlaufen und es werden mit ihnen, orientiert am individuellen beruflichen Teilhabebedarf, Therapiepläne erstellt und -interventionen verordnet.

Folgendes Flow Chart (Abb. 1) bildet den gesamten Prozess in der Bernhard-Salzmann-Klinik ab.

Abb. 1: Prozess im Projekt BORA-TB

Vielfach haben die Rehabilitand*innen während der Rehabilitation für die berufliche (Neu-) Orientierung und (Wieder-) Eingliederung eine wechselnde Motivationslage. Die Ambivalenz bzgl. des beruflichen Wiedereinstiegs zeigt sich z. B. in der Unvereinbarkeit von Wunschtätigkeit und realen Arbeitsmarktangeboten, in Ängsten, die beruflichen Erwartungen nicht erfüllen zu können, oder darin, die eigenen körperlichen, psychischen oder sozialen Vermittlungshemmnisse als unüberwindbar zu bewerten oder sich vor konflikthaften Auseinandersetzungen im Berufsalltag zu fürchten.

Hinzu kommt, dass die Rehabilitand*innen zu Beginn ihrer Behandlung meist andere Themen priorisieren, wie z. B. die Einleitung von existenzsichernden Maßnahmen, Wohnraumsicherung, die Erarbeitung von Therapiezielen, die Behandlung komorbider Störungen, die Bewältigung des Suchtmittelverzichts oder familiäre Problemlagen. Neigt sich die Behandlung dem Ende zu, sind die Rehabilitand*innen motivierter, sich mit dem Thema der beruflichen Orientierung auseinanderzusetzen.

Qualifizierung der Teilhabebegleiter*innen

Für eine fachlich hochwertige Teilhabebegleitung ist eine Qualifizierung der Teilhabebegleiter*innen mit praxisrelevantem Wissen notwendig. Die Durchführung der Qualifizierungen obliegt der „Landeskoordinierungsstelle berufliche und soziale Integration Suchtkranker in NRW“ (LKI) in Paderborn. Vor der praktischen Umsetzung des Modellvorhabens wurden die Teilhabebegleiter*innen in folgenden sechs Basismodulen geschult:

  • Modul 1: Einführung in das neue Aufgabenfeld der BORA-Teilhabebegleitung: Auftrag, Rolle und Ziele
  • Modul 2: Aufgaben und Anforderungen an BORA-TB / Netzwerke aufbauen, gestalten, koordinieren
  • Modul 3: Leistungen und Möglichkeiten der Jobcenter und Agenturen für Arbeit
  • Modul 4: Auswirkungen und Möglichkeiten des Bundesteilhabegesetztes
  • Modul 5: Betriebliche Suchthilfe, Eingliederungsmanagement, juristische Aspekte
  • Modul 6: Aufgaben und Leistungen der Deutschen Rentenversicherung

Zusätzlich organisiert die Landeskoordinierungsstelle fünf weitere Qualifizierungen zu fachspezifischen Themen:

  • motivierende Gesprächsführung
  • Sucht und Migration
  • Motivieren durch persönliche Präsenz
  • Persönlichkeitsstile/-störungen und die Herausforderungen in der Beratung
  • Genderbezug und Sucht

In den ersten Qualifizierungen konnten neben den Teilhabebegleiter*innen auch die Kooperationspartner*innen des Modellvorhabens teilnehmen. Insgesamt wurde deutlich, dass die einzelnen Kolleg*innen bereits sehr umfangreiches Fachwissen durch ihre vorherigen Berufserfahrungen in folgenden Fachrichtungen mitbringen: Suchttherapie, rechtliche Betreuung, arbeitsmarkt­orientierte Hilfen, Agentur für Arbeit, Integrationsfachdienst usw. Die bereits vorhandenen Qualifikationen ermöglichten die Bildung eines internen Expertenpools für den fachlichen Austausch. Trotz der unterschiedlichen Standorte in Dortmund, Gütersloh, Herford und Bielefeld sind alle Kollegen und Kolleginnen in einem sehr guten, regelmäßigen und engen Austausch.

Zur guten Vernetzung aller Mitarbeitenden des Modellvorhabens ist auch die Netzwerkarbeit mit Kostenträgern und anderen Versorgungsschnittstellen essentiell. Um diese Netzwerke aufzubauen und zu pflegen, werden mithilfe der Koordination der LKI pro Standort dreimal jährlich Netzwerktreffen stattfinden. Die Netzwerktreffen sollen dazu dienen, alle Akteur*innen untereinander bekannt zu machen, Raum für einen fachlichen Austausch zu schaffen und Referent*innen zu wichtigen Themen einzuladen. Die ersten Netzwerktreffen finden bereits dieses Jahr im November an allen drei Standorten statt.

Für die Gewährleistung eines reibungslosen Übergangs in die BORA-Teilhabebegleitung sind Fallkonferenzen mit den Rehabilitand*innen und allen relevanten Akteur*innen aus der medizinischen Behandlung geplant.

Akzeptanz der Maßnahme

In den ersten Monaten hat sich gezeigt, dass ein Teil der Rehabilitand*innen auf das Projekt skeptisch reagiert, u. a. konnte die Datenevaluation der Universität Bielefeld nicht eingeschätzt werden. Grundsätzlich haben die Rehabilitand*innen auch die Möglichkeit, an dem Projekt teilzunehmen, ohne dass Daten zu wissenschaftlichen Zwecken weiter bearbeitet werden. Die Ergebnisse würden dann über die Katamneseerhebung ausgewertet, wenn das Einverständnis dazu vorliegt.

Aktuell erfolgt die Kontaktaufnahme zu den Rehabilitand*innen durch den/die Teilhabebegleiter*in so früh wie möglich, um zu informieren und eine tragfähige Beziehung aufbauen zu können. In der ersten Phase der Rehabilitation willigen wenige Rehabilitanden direkt in die Teilhabebegleitung ein. Mit zunehmender Dringlichkeit zum Ende der Behandlung wird erneut Kontakt aufgenommen, um eine berufliche Perspektive zu erarbeiten.

Durch den Projektstatus haben die Teilhabebegleiter*innen die Möglichkeit, unterschiedliche Formen und Zeitpunkte der Ansprache auszuprobieren. Letztendlich wird die Evaluation durch die Universität Bielefeld aufzeigen, welche Form von BORA-Teilhabebegleitung sich langfristig positiv auf die berufliche Orientierung und Reintegration auswirken wird.

Kontakt:

Ulrike Dickenhorst
Bernhard-Salzmann-Klinik
Buxelstraße 50
33334 Gütersloh
ulrike.dickenhorst@lwl.org

Angaben zu den Autorinnen:

Ulrike Dickenhorst, Therapeutische Leitung, Bernhard-Salzmann-Klinik, LWL-Rehabilitationszentrum Ostwestfalen, Gütersloh
Elena Herbach, Sozialdienst, Bernhard-Salzmann-Klinik, LWL-Rehabilitationszentrum Ostwestfalen, Gütersloh

Literatur: