Wolfgang Rosengarten

KISucht Hackathon 2024

Suchthilfe und Digitalisierung

Wolfgang Rosengarten

Die Digitalisierung bietet für die Suchtprävention und Suchthilfe Chancen und neue Möglichkeiten. Allerdings ist es der Suchthilfe nicht leichtgefallen, sich diesen Entwicklungen zu öffnen. Zu groß waren lange Zeit die Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes und einer zusätzlichen finanziellen und personellen Belastung. Ein wichtiger Meilenstein waren 2020 die „Essener Leitgedanken zur digitalen Transformation in der Suchthilfe“, die thesenartig zusammenfassen, wie die Suchthilfe gemeinsam mit den Verbänden und Leistungsträgern den digitalen Wandel für die Weiterentwicklung der Hilfeangebote nutzen kann. Entstanden ist das Thesenpapier aus der gewachsenen Erkenntnis, dass die Suchthilfe die Digitalisierung selbst gestalten muss, wenn sie ihre digitale Transformation nicht anderen Akteuren überlassen will.

Die „Essener Leitgedanken“ wurden im Rahmen eines Fachgesprächs erarbeitet, das auf Initiative der AG Suchthilfe der Arbeitsgemeinschaft der obersten Landesgesundheitsbehörden (AOLG) und mit Finanzierung des Bundesgesundheitsministeriums durchgeführt wurde. Beteiligt waren 21 Expert:innen aus unterschiedlichen Bereichen der Suchthilfe (Ministerien, Träger, Verbände, Fachverbände) und aus dem Bereich Digitalisierung. Nur wenige Wochen nach der Erarbeitung der „Essener Leitgedanken“ veränderte die Corona-Pandemie die Ausgangslage dramatisch.

Während es vor der Corona-Pandemie nur vereinzelte Online-Beratungsangebote gab, hat die Online-Beratung seit Beginn der Pandemie an Bedeutung gewonnen.  Das Format trug dazu bei, dass viele laufende Beratungen und Betreuungen fortgeführt werden konnten, und ermöglichte auch in Zeiten der Lockdowns eine kontaktlose Inanspruchnahme für Hilfesuchende und deren Angehörige.

Bereits vor der Pandemie waren erste Konzeptideen für eine bundesweite Online-Suchtberatungsplattform entstanden. Aber erst unter dem Eindruck der Erfahrungen, die während der Coronazeit gemacht wurden, konnte schließlich mit der Förderung des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) die Implementierung der bundesweiten träger- und länderübergreifenden Onlineplattform „DigiSucht“ realisiert werden. Das Projekt „DigiSucht“ wurde von Fachkräften aus Suchtberatungsstellen, Landesstellen für Suchtfragen, Sozial- und Gesundheitsministerien der Länder sowie der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) in Kooperation mit der Firma delphi erarbeitet. Im Anschluss an die vom BMG geförderte Entwicklungs- und Modellphase der Plattform ermöglicht seit dem 1. Januar 2024 die gemeinsame Finanzierung der Länder den nahtlosen Weiterbetrieb der Plattform DigiSucht.

Mit DigiSucht hat die Suchthilfe einen digitalen Leuchtturm im Bereich der gemeinwohlorientierten psychosozialen Arbeit etabliert, der nur durch die gelungene Kooperation von Bund und Ländern unter Einbindung der Wohlfahrts- und Suchthilfeverbände realisiert werden konnte.

Suchthilfe und Künstliche Intelligenz (KI)

Willkommen zum Hackathon „KI in der Suchthilfe“! Foto: nuvio gGmbH, Felix Ladewig

In der Entwicklung weiterer digitaler Werkzeuge werden jedoch kontinuierlich Fortschritte gemacht. So hat die Künstliche Intelligenz (KI) mit der Veröffentlichung von ChatGPT im letzten Jahr auch außerhalb der IT-affinen Fachöffentlichkeit einen erheblichen Schub an Interesse und Aufmerksamkeit erfahren. KI-Anwendungen werden zurzeit allerdings fast ausschließlich von gewinnorientierten Unternehmen entwickelt und eingesetzt. Während sie im Gesundheitsbereich z. B. in der Versorgung bereits genutzt werden, bleibt ihr Potenzial in der Suchtprävention und Suchthilfe, wie im gemeinwohlorientierten Bereich insgesamt, derzeit noch weitgehend außen vor. Das Bundesministerium für Gesundheit hat daher im Rahmen seiner Förderung innovativer Projekte im Januar 2024 den zweitägigen „KISucht Hackathon 2024“ gefördert. Organisiert und durchgeführt wurde die Veranstaltung von „nuvio – Institut für Gesundheitsgestaltung“ in Kooperation mit der Brandenburgischen Landesstelle für Suchtfragen e. V. (BLS).

Wozu ein Hackathon?

Impulsvortrag. Foto: nuvio gGmbH, Felix Ladewig

Ursprünglich aus dem IT-Bereich stammend, hat das Veranstaltungsformat „Hackathon“ inzwischen auch in anderen Arbeitsfeldern Einzug gehalten. Es ist ein kreativer Ideenwettbewerb, bei dem Expert:innen verschiedener Fachrichtungen in einem intensiven Austausch innerhalb von 24 bis 48 Stunden innovative Lösungen entwickeln.

Der „KISucht Hackathon 2024“ brachte Fachleute aus ganz unterschiedlichen Aufgabenbereichen der Suchthilfe und Suchtprävention mit Expert:innen aus dem Feld der KI zusammen. Gemeinsam gingen sie der Frage nach, ob und wie Künstliche Intelligenz die Arbeit in der Suchtprävention und Suchthilfe unterstützen könnte. In vier interdisziplinären Teams erarbeiteten die 30 Teilnehmenden aus Verwaltungen, Verbänden, Suchthilfeträgern, Wissenschaft und IT innovative Ideenskizzen für mögliche KI-Modellprojekte zu aktuellen Herausforderungen der Suchthilfe und Suchtprävention. Begleitet wurde der Hackathon von Impulsvorträgen zum Entwicklungsstand der Künstlichen Intelligenz sowie zu einem KI-Vorhaben im Bereich des Kinderschutzes.

Vor dem Hintergrund des zunehmenden Fachkräftemangels sowie der Notwendigkeit, die Zugangshürden zum Hilfesystem zu senken, standen für die Teams zwei konkrete Aufgabenstellungen im Fokus:

  • Wie könnte KI dazu beitragen, den Zugang zu den Angeboten der Suchthilfe zu verbessern?
  • Wie könnte KI zur Vereinfachung von Arbeitsprozessen in Einrichtungen der Suchthilfe und Suchtprävention beitragen?

Ergebnisse des Hackathons

Teamarbeit. Foto: nuvio gGmbH, Felix Ladewig

Um den Zugang zum Suchthilfesystem zu erleichtern, wurde von einem Team die Idee eines KI-Chatbots entwickelt, der in der Lage ist, menschliche Gespräche zu verstehen und darauf zu reagieren. So soll er individuelle Risikofaktoren erkennen und maßgeschneiderte Hilfsangebote vorschlagen können, die speziell auf die Bedürfnisse und Herausforderungen der jeweiligen Person zugeschnitten sind, z. B. die Weiterleitung zur Onlineplattform DigiSucht oder direkt zu einer Beratungsstelle oder Selbsthilfegruppe.

Ein anderes Team entwickelte die Idee von einer KI-gestützten Personal- und Terminverwaltung. Vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels sollen damit die psychosozialen Fachkräfte in den Beratungsstellen so weit wie möglich von administrativen Aufgaben entlastet werden.

Künstliche Intelligenz löst aufgrund ihrer Komplexität und ihres Potenzials, menschliche Arbeitsplätze zu ersetzen, oft Ängste aus. Ein weiterer Grund für Ressentiments gegenüber KI ist der Mangel an Transparenz und Kontrolle über die Entscheidungen, die von KI-Systemen getroffen werden. Dass es auch möglich ist, KI-Systeme so zu gestalten, dass sie transparent arbeiten sowie verantwortungsvolle Ergebnisse produzieren und am Ende den Nutzer:innen die Kontrolle über zu treffende Entscheidungen obliegt, zeigte das Praxisbeispiel von Prof. Dr. Robert Lehmann (TH Nürnberg). Er gab Einblicke in sein Projekt KAIMo, ein mehrstufiges Assistenzsystem, das Fachkräfte im Kinderschutz evidenzbasiert im Prozess der Urteilsfindung und ethischen Reflexion unterstützt.

Produktive Pausengespräche. Foto: nuvio gGmbH, Felix Ladewig

So wichtig wie die entwickelten Projektvorhaben und die Impulsvorträge waren während des Hackathons auch die grundsätzlichen Diskussionen sowohl im Plenum als auch in den Pausengesprächen über den Einsatz von KI in der Sozialen Arbeit.

Die Veranstaltung hat deutlich gemacht, wie sinnvoll, fruchtbar und letztlich auch unerlässlich es ist, dass sich auch die Suchthilfe und Suchtprävention mit den Chancen und Risiken von KI auseinandersetzt und sicherstellt, dass der Einsatz von KI in diesen Arbeitsfeldern im Einklang mit gesellschaftlichen Werten und Zielen erfolgt.

Durch die Auseinandersetzung mit dem Thema schärften die Teilnehmenden des Hackathons ihr Bild von Künstlicher Intelligenz. Es wurde klar, dass KI nicht gleichzusetzen ist mit der Vorstellung von einer übermenschlichen Superintelligenz, die der Menschheit absichtlich oder versehentlich Schaden zufügen könnte. Vielmehr zeigte sich, dass KI für den Praxisalltag einer Suchthilfeeinrichtung eine enorme Arbeitserleichterung bedeuten kann, wenn z. B. Informationen strukturiert erfasst und selbstständig in die entsprechenden Rubriken eingeordnet werden, insbesondere bei Dokumentationsaufgaben.

Perspektiven

Ideensammlung. Foto: nuvio gGmbH, Felix Ladewig

Natürlich muss die weitere Entwicklung im Bereich der KI einerseits gesetzlich reguliert werden (im Juni 2023 verabschiedete das Europäische Parlament seine Verhandlungsposition zum Gesetz über künstliche Intelligenz, dem weltweit ersten umfassenden Regelwerk zur Bewältigung von KI-Risiken) und es muss darauf geachtet werden, dass sie sich nicht gegen den Menschen richtet oder soziale Verwerfungen erzeugt. Andererseits wäre es angesichts der Engpässe bei der personellen und finanziellen Ausstattung sozialer Träger fahrlässig, KI nicht als Instrument zur Bewältigung dieser Herausforderungen zu nutzen.

Die dringend notwendige Diskussion zu diesem Thema in der Suchthilfe und Suchtprävention wurde mit dieser Veranstaltung angestoßen. Dabei war es eine wunderbare Erfahrung zu sehen, mit wie viel Neugier und Kreativität die Kolleg:innen aus der Suchthilfe und Suchtprävention potenziellen Einsatzmöglichkeiten von KI in ihrem Arbeitsfeld begegneten. Zusammen mit den Perspektiven der Teilnehmenden aus dem IT-Bereich bot der Hackathon einen kreativen und inspirierenden Rahmen für neue Ideen. Dank dafür gebührt dem Team von nuvio, aber vor allem auch dem Bundesministerium für Gesundheit, das sich auf diese innovative Form des Fachaustauschs und der Wissensvermittlung eingelassen hat.

Konkrete Schritte

Man darf gespannt sein, wie sich die Thematik weiterentwickeln wird und welche konkrete Anwendung KI- oder Algorithmeneinsätze in der Suchtprävention und Suchthilfe finden werden, um die Missionen dieser Arbeitsfelder zu unterstützen.

Sowohl für diesen Schritt als auch für das Erlernen der notwendigen Kompetenz, um die Technologien zur Anwendung zu bringen, wird es unbedingt notwendig sein, dass die Suchtprävention und Suchthilfe aktiv den Kontakt zu entsprechenden Hochschulen oder Start-ups sucht. Mit Fördermitteln des Bundes oder der Länder sollte dieser Prozess weiter unterstützt werden.

Viele digitale Werkzeuge sind bundesweit und trägerübergreifend einsetzbar. Für die Entwicklung und die Implementierung solcher Instrumente werden jedoch Investitionsmittel benötigt, die in der Suchthilfe und Suchtprävention schwerlich von einzelnen Trägern übernommen werden können. Um zu wirtschaftlichen und nachhaltigen Lösungen für den Einsatz digitaler Werkzeuge zu kommen, müssen Poolfinanzierungsmodelle eingesetzt werden, über die Bund und Länder Mittel zur Verfügung stellen. Damit können bundesweit zum Einsatz kommende Vorhaben konzeptioniert, implementiert und dauerhaft finanziert werden.

Die Onlineplattform DigiSucht ist ein erstes Mut machendes Beispiel für solch eine gemeinsame Finanzierung und Entwicklung eines innovativen, zeitgemäßen Instruments auf dem Weg der digitalen Transformation der Suchthilfe.

Uns interessiert Ihre Meinung

Wie ist Ihre Haltung zum Einsatz von KI in der Suchthilfe und Suchtprävention? Welche Möglichkeiten sehen Sie? Für wie wichtig und produktiv halten Sie Veranstaltungen wie den KISucht Hackathon? Würden Sie selbst gern an einem teilnehmen?

Schreiben Sie uns gerne Ihre Meinung an: redaktion@konturen.de

Angaben zum Autor:

Wolfgang Rosengarten ist Leiter des Referats Prävention, Suchthilfe im Hessischen Ministerium für Familie, Senioren, Sport, Gesundheit und Pflege in Wiesbaden. Vorher war er über 20 Jahre Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen e.V. (HLS) in Frankfurt am Main.

Kontakt:

Wolfgang Rosengarten
w.rosengarten(at)t-online.de