Corinna Mäder-Linke, Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel

Weiterbildung Suchttherapie im digitalen Format!?

Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel

Corinna Mäder-Linke

Die Corona-Pandemie hat dazu geführt, dass im Rahmen der Weiterbildung zur / zum Suchttherapeut*in erstmals digitale Formate zur Wissensvermittlung eingesetzt wurden. Über die Erfahrungen damit berichtet Corinna Mäder-Linke in Teil I dieses Artikels.  Gleichzeitig hat die pandemiebedingte Notwendigkeit, Treffen in physischer Präsenz zu vermeiden, einen hohen Bedarf an Weiterbildung im Umgang mit digitalen Medien (technisch wie juristisch) offengelegt. Mit diesem Aspekt beschäftigt sich Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel in Teil II. 

TEIL I

Einleitende Worte: das Tor zum postpandemischen Leben

Nach über einem Jahr ist die Corona-Pandemie nicht mehr nur ein Einschnitt, sondern ein echter Lebensabschnitt geworden: Menschen haben existenzielle Bedrohungen erlebt, sind in vielerlei Hinsicht an ihre Grenzen gegangen, sind gealtert, gewachsen, gereift, je nachdem. Die notwendig gewordenen Einschränkungen nehmen eine Zeitspanne ein, in der aus regelmäßigen Handlungen Gewohnheiten werden können, und da Anpassung eine Kernkompetenz ist, haben wir die Regeln zu Abstand, Hygiene und Alltagsmaske verinnerlicht und in unseren Alltag integriert. Genauso entgeistert, wie wir am Anfang die leeren Autobahnen und Innenstädte betrachteten, sehen wir nun auf volle Cafés. Und trifft man Freunde, stellt sich insgeheim oder auch laut die Frage nach der Art der Begrüßung – umarmen oder lieber nicht.

Doch neben der Anpassung und der Gewohnheit gibt es noch eine echte kritische Distanz gegenüber der „alten Normalität“. So lohnt es sich, sowohl im privaten als auch im beruflichen Bereich Überlegungen anzustellen, welche der in der Corona-Zeit gemachten positiven Erfahrungen wir in der Zukunft beibehalten möchten. Der folgende erste Teil beleuchtet diese Frage im Hinblick auf die Weiterbildungen im Kontext der Suchttherapie.

Die Geschichte der Weiterbildung Suchttherapie 

Lange Zeit galt Sucht moralisch als Laster und Fehlverhalten, das die Betroffenen mit einer Willensentscheidung ändern könnten. Erst das Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts vom Juni 1968 erkannte eine Abhängigkeit als Krankheit an. Auch wenn die in den Konzepten der Einrichtungen beschriebenen Therapiemethoden in den 1970er Jahren den Eindruck erweckten, sie verfolgten eher eine Strafe, als dass sie sich an theoretischem Wissen über eine Erkrankung orientierten, entstand durch die höchstrichterliche Entscheidung ein Recht auf eine vom Sozialversicherungssystem finanzierte Behandlung der Suchtkrankheit. Damit einhergehend wurde das Dilemma deutlich, dass für suchtkranke Menschen ein medizinisches Versorgungssystem nachgefragt wurde, zum damaligen Zeitpunkt aber keine speziellen Behandlungskonzepte für Suchtkranke vorlagen und es an suchtspezifisch ausgebildetem Fachpersonal mangelte. Wichtige Impulse für die Betrachtung der Sucht als Krankheit und die Behandlung abhängigkeitskranker Menschen gingen von der von Bund und Ländern 1975 veröffentlichten Psychiatrie-Enquête aus, forderte sie doch unter Berücksichtigung der multikonditionalen Entstehung des Alkoholismus ein komplexes therapeutisches Programm, das nur durch Zusammenarbeit mehrerer Therapeut*innen verschiedener Fachrichtungen ermöglicht werden kann (vgl. Deutscher Bundestag, 1975).

Den Bedarf nach einer spezifischen Qualifizierung für hauptamtlich in der Suchthilfe Tätige aufgreifend, konzipierten Suchtfachverbände oder Institute Curricula für die „Weiterbildung zur / zum Sozialtherapeut*in – Sucht“, die aus einem verhaltenstherapeutischen oder tiefenpsychologischen Krankheitsmodell ableitbar sind. In 15 Seminarwochen, verteilt über einen Zeitraum von drei Jahren, wurden – vor dem Hintergrund des jeweiligen Verfahrens – theoretische Erklärungsansätze zur Suchtentstehung sowie Kenntnisse über Diagnosen und darauf aufbauend die Planung von Interventionstechniken vermittelt. Ein weiterer Baustein war die Selbsterfahrung. Vor dem Hintergrund eines Verständnisses der eigenen Biografie sollten die Weiterbildungsteilnehmer*innen sich einen emotionalen Zugang zu ihren eigenen Wünschen, Idealen, Illusionen und Ängsten erarbeiten können. Somit sollten sie in der Lage sein, in der zukünftigen therapeutischen Arbeit zwischen sich und der/dem Klient*in unterscheiden zu können und zu verhindern, sie/ihn unbewusst zur Projektionsfläche der eigenen Bedürfnisse und Ängste zu machen. Die dritte Komponente der Weiterbildung stellten die Seminare zum Erlernen praktischer Kompetenzen dar, in denen die Anwendung des erlernten Wissens in der therapeutischen Arbeit der Weiterbildungsteilnehmer*innen mit abhängigkeitskranken Menschen supervisorisch betrachtet wurde.

Mit der im Jahre 1978 von den Rentenversicherungsträgern und den Gesetzlichen Krankenversicherungen verabschiedeten Empfehlungsvereinbarung Sucht für den stationären Bereich der medizinischen Rehabilitation (und 1981 für das ambulante Setting) lagen nun erstmals Qualitätsstandards vor, die die Behandlung suchtkranker Menschen überprüfbar machten und nach außen transparent auf einem professionellen Niveau festschrieben (vgl. VDR, 1978).

In den Jahren nach Inkrafttreten dieser Vereinbarung hatte sich ein ausufernder und kaum noch überschaubarer Markt an Zusatzausbildungen für Mitarbeitende der Rehabilitation abhängigkeitskranker Menschen entwickelt mit einem breiten und sehr heterogenen Weiterbildungsangebot bei fehlenden Mindeststandards. Der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) beauftragte im Jahre 1991 eine Projektgruppe, die unter der Beteiligung der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) formale und inhaltliche Beurteilungskriterien für die Weiterbildungscurricula im Tätigkeitsfeld der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker erarbeitete. Des Weiteren formulierte man Zugangsvoraussetzungen zur Teilnahme an der Weiterbildung hinsichtlich der Qualifikation und des Arbeitsplatzes. Nach Abstimmung dieser Kriterien mit den Spitzenverbänden der Krankenkassen wurden sie 1992 mit der Veröffentlichung in der Zeitschrift „Deutsche Rentenversicherung“ bindend (vgl. VDR, 1992).

Im Jahre 2011 überarbeiteten Renten- und Krankenversicherung gemeinsam die Beurteilungskriterien und veröffentlichten sie als „Auswahlkriterien zur Prüfung von Weiterbildungen für Gruppen- und Einzeltherapeuten im Tätigkeitsfeld der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker gemäß den Anlagen 1 und 2 der Vereinbarung „Abhängigkeitserkrankungen“ vom 4. Mai 2001 in der Fassung vom 23. September 2011“ (vgl. Deutsche Rentenversicherung Bund, 2013). Vor allem Lehrinhalte der sozialmedizinischen Kategorien bzw. die Übertragung verhaltenstherapeutischer oder psychoanalytischer Diagnostik, Therapieplanung und Prognose in die Kriterien der Leistungsträger vor dem Hintergrund der Nomenklatur des ICF (International Classification of Functioning) und der Sozialgesetzbücher SGB VI oder SGB V galt es aufzunehmen.

Digitale Strategien der Weiterbildung Suchttherapie

Derzeit bieten in Deutschland acht Institute, darunter sowohl Hochschulen als auch Suchtfachverbände oder andere gemeinnützige Gesellschaften, insgesamt neun von der Deutschen Rentenversicherung (DRV) und der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) anerkannte Curricula für die Weiterbildung zur / zum Suchttherapeut*in an. Staatliche anerkannte Sozialarbeiter*innen / Sozialpädagog*innen, Psycholog*innen mit Diplom oder Master sowie Ärzt*innen, die in einer Einrichtung der medizinischen Rehabilitation abhängigkeitskranker Menschen tätig sind, werden zur Weiterbildung zugelassen und können dabei zwischen den Curricula der Richtlinienverfahren – psychoanalytisch, verhaltenstherapeutisch und zukünftig systemisch – wählen (vgl. Deutsche Rentenversicherung Bund, 2021).

Bei der Überprüfung der Curricula in den Jahren 2011 bis 2016 wurde von DRV und GKV viel Wert darauf gelegt, die geforderten 600 Unterrichtseinheiten der Weiterbildung in Gänze in Präsenz umzusetzen, so dass den Weiterbildungsträgern weder die Möglichkeit eingeräumt wurde noch die Notwendigkeit bestand, im Rahmen ihrer Angebote auch auf digitale Formate zurückzugreifen. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die mit der Pandemie ab März 2020 einhergehenden Kontakt- und Reisebeschränkungen die Weiterbildung Suchttherapie unvorbereitet trafen. Da abzusehen war, dass SARS-CoV-2 für einen nicht unbeträchtlichen Zeitraum Einfluss auf das private und berufliche Leben und hier eben auch auf die Durchführung von Veranstaltungen in Präsenz nehmen würde, taten tragfähige Lösungen Not. Nachdem Seminare im März abgesagt werden mussten, gelang es in kürzester Zeit, die Curricula auf ein online-Format umzustellen, so dass alle Teilnehmer*innen der aktuellen Kurse ihre Weiterbildung ab Juni 2020 per Videokonferenzen fortsetzen konnten. Dass dabei die DRV und GKV als kooperative Partner zur Verfügung standen, um gemeinsam flexible, der Situation angepasste, pragmatische Lösungen zu finden, erleichterte die Umstellung sehr.

Nunmehr blicken wir auf ein Jahr digitalen Unterrichts zurück – mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen, sowohl für Weiterbildungsträger als auch für die Teilnehmer*innen. Der Reiz des Neuen und die Erleichterung, eine Möglichkeit gefunden zu haben, die Weiterbildung nicht unterbrechen zu müssen, motivierte zu Beginn alle Beteiligten, sich schnell in die Handhabung von Zoom, MS Teams und GoToMeeting einzuarbeiten. Man genoss die Vorteile der eingesparten Reisezeit und der Übernachtungskosten, die eine oder der andere auch das Arbeiten von zu Hause.

Im Laufe der Zeit kristallisierte sich dann eine differenzierte Bewertung bezogen auf die Lehrinhalte heraus. Ließen sich theoretische Inhalte effektiv und effizient, mit einer hohen Konzentration auf die zu behandelnden Themen digital unterrichten, stellte die Vermittlung therapeutischer Fähigkeiten in Form von Selbsterfahrung und Supervision eine immer größer werdende Herausforderung dar. Der Lernprozess, dessen es bedarf, um dem abhängigkeitskranken Menschen mit seinem zerstörerischen Umgang mit sich und der Umwelt als Therapeut*in professionell begegnen zu können, ist in einem Setting ohne physische Kontakte schwer zu initiieren und zu steuern.  Wahrzunehmen, wie es sich anfühlt, mit Akzeptanz des aktuellen So-Seins, mit Respekt vor dem eigenen Entwicklungsschicksal und in Wahrnehmung aller verbalen und nonverbalen Äußerungen von den anderen Weiterbildungsteilnehmer*innen verstanden zu werden, ist für zukünftige Therapeut*innen elementar. Diese Erfahrung stellt die Voraussetzung dafür dar, Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung in der Therapie als hilfreiche/r Partner*in zur Verfügung zu stehen. Wenn der Raum ein virtueller ist, man sich nicht gegenseitig in die Augen sehen und sich nicht mit allen Sinnen erleben kann, wird es auf Dauer schwierig, diese Art, sich und dem Gegenüber zu begegnen, zu verinnerlichen.

An dieser Stelle, so die Erfahrung in der Weiterbildung zur / zum Suchttherapeut*in, zeigen sich die Grenzen der Digitalisierung der Lehre. Unabhängig davon bleibt unbenommen, dass für die Vermittlung theoretischer Kenntnisse, für Arbeitsgruppentreffen und Absprachen online-Formate gewinnbringend, zeit-, energie- und finanzsparend sind. Wenn man eine Vision der zukünftigen Gestaltung der Weiterbildung zeichnen dürfte, dann wäre das idealerweise eine Kombination aus einerseits digitaler Wissensvermittlung theoretischer Inhalte und andererseits der Befähigung der Person der / des Therapeut*in in physischer Präsenz.

Genauso, wie wir digitale Angebote in den beruflichen Alltag nachhaltig zu integrieren haben, werden wir in den kommenden Monaten Beziehung wieder neu lernen müssen. Vermutlich wird es nicht jeder und jedem leichtfallen, das auf sich bezogene Leben im Homeoffice, aber auch in der Freizeit, wieder für andere zu öffnen, und es wird eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein, das postpandemische Miteinander in den verschiedenen Kontexten zu gestalten.

Weiterbildung als Zukunftsaufgabe

Die Erfahrungen aus der Weiterbildung Suchttherapie ähneln dem allgemeinen Trend. Die Corona-Krise beschleunigte die Digitalisierung des Fort- und Weiterbildungsmarktes in vorher nie gekanntem Ausmaß, beeinflusste tradierte Handlungs- und Denkmuster und setzte so neue Impulse für die Qualifizierung. Eine aktuelle Umfrage unter deutschen Unternehmen zeigt, dass vor Beginn der Pandemie nur 35 Prozent aller Qualifizierungsmaßnahmen digital angeboten wurden, während es inzwischen bereits 54 Prozent sind (vgl. Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft e.V., 2021).

Gleichzeitig mussten die Unternehmen in der Corona-Krise (und darüber hinaus) den Spagat zwischen Sparzwang und steigendem Qualifizierungsbedarf schaffen. Sie waren und sind großem finanziellen Druck ausgesetzt und es liegt nahe, am Qualifizierungsbudget zu sparen. Diese Vermutung wird durch eine Umfrage belegt, die zeigt, dass bei 21 Prozent der befragten Unternehmen das entsprechende Budget im Zuge der Corona-Pandemie gesunken ist. Zugleich gaben 84 Prozent der befragten Unternehmen an, dass sich Fort- und Weiterbildung als Thema auf der Vorstandsagenda befindet. Dabei besteht der Wunsch nach innovativen Lernformaten, nach systematischer Evaluation von Lernerfolgen, einem klaren Business Case für Qualifizierung und dem Aufbau adäquater IT-Infrastruktur, die dezentrales Lernen unterstützt (vgl. Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft e.V., 2021).

Es wird also auch eine Aufgabe der Politik sein, die Unternehmen zu befähigen, ihren Mitarbeitenden Weiterbildungen zu ermöglichen und diese in einem angemessenen Format, bestehend aus analogen und digitalen Komponenten, durchführen zu können. Erste diesbezügliche Schritte sind getan. Mit der Nationalen Weiterbildungsstrategie gibt es seit 2019 ein abgestimmtes Vorgehen in Deutschland, das von Bund, Ländern, Wirtschaft, Gewerkschaften und der Bundesagentur für Arbeit festgelegt wurde. Weiterbildungen sollen danach als fester Bestandteil beruflicher und unternehmerischer Entwicklung etabliert und eine gemeinsame Weiterbildungskultur in Deutschland geschaffen werden (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales – Geschäftsstelle Nationale Weiterbildungsstrategie). Mit dem Arbeit-von-morgen-Gesetz hat das Bundesarbeitsministerium einige zentrale Vereinbarungen aus der Strategie umgesetzt (vgl. Bundesgesetzblatt, 28.05.2020). Ähnlich wie das Arbeit-von-morgen-Gesetz, zielt auch das Qualifizierungschancengesetz auf eine Ausweitung der Weiterbildungsförderung ab. Es richtet sich vor allem an beschäftigte Arbeitnehmer*innen. Konkret an jene, (a) deren berufliche Aufgaben von Technologien ersetzt werden können, (b) die anderweitig von Strukturwandel betroffen sind oder (c) in einem Beruf tätig sind, in dem Fachkräftemangel herrscht („Engpassberuf“) (vgl. Bundesgesetzblatt, 21.12.2018).

Im Hinblick auf den demografischen Wandel der Mitarbeitenden in den ambulanten, ganztägig ambulanten und stationären Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe ist es dringend notwendig, staatlich anerkannte Sozialarbeiter*innen, Sozialpädagog*innen, Psycholog*innen oder Ärzt*innen zur / zum Suchttherapeut*in weiterzubilden. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass es gelingt, Weiterbildungsangebote den Erfordernissen, die eine Krise mit sich bringt, flexibel anzupassen und Mitarbeitende kontinuierlich auf hohem Niveau zu qualifizieren. Diese Erkenntnisse und Erfahrungen müssen wir für die Zukunft nutzen, um weiter dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.

TEIL II

Pandemie verschärft bekannte Probleme 

Ohne einen positivistischen Eindruck erwecken zu wollen, lässt sich aufgrund der während der Corona-Pandemie gemachten Erfahrungen der vergangenen eineinhalb Jahre doch feststellen, dass das Infektionsgeschehen und die daraus abgeleiteten politischen Maßnahmen viele Probleme verschärft und intensiver ins Bewusstsein vieler Menschen gebracht haben, auf die u. a. Suchtfachverbände, Träger und Fachkräfte bereits seit langem hingewiesen haben: Expert*innen oder Berichte in der Tagespresse (vgl. Möhrle 2020; Starzmann 2021) machten wiederholt auf eine Zunahme von Substanzgebrauchsstörungen (nicht nur) während der Pandemie aufmerksam, die Finanzierungsstrukturen insbesondere der ambulanten Suchthilfe basieren vielerorts auf tradierten Modellen (vgl. Bossong & Renzel 2019), die häufig wenig flexibel und ungeeignet sind, angemessen auf Veränderungen zu reagieren, und die Rekrutierung qualifizierter Fachkräfte für die Arbeit im Suchtbereich erweist sich schon lange als problematisch (vgl. fdr+ 2019). Dies sind nur einige Themen, die bereits während der letzten Jahre vor Ausbruch der Pandemie Gegenstand einer Reihe von Arbeitstreffen und Veranstaltungen waren – zu grundsätzlichen Änderungen geschweige denn messbaren Verbesserungen haben diese häufig nicht geführt.

Um keinen falschen Eindruck zu erwecken: Kreative Lösungen und innovative Projekte wurden von verschiedenen Trägern der Suchthilfe in den letzten Jahren immer wieder vorangetrieben und ausprobiert. Und auch Bund und Länder haben sich mit der Förderung von Modellprojekten immer wieder an einzelnen Aktivitäten beteiligt und diese zum Teil auch erst ermöglicht. Schon seit 20 Jahren wird das Internet zur Vermittlung von Präventions- und Informationsangeboten genutzt (vgl. Delphi 2019), die auch schon vor der Pandemie kontinuierlich ausgebaut und erweitert wurden. Aber zu keinem Zeitpunkt ist die Diskrepanz zwischen den grundsätzlichen Möglichkeiten der Nutzung digitaler Medien und den Lücken in der Umsetzung so deutlich geworden wie beim Ausbruch der Pandemie. Die vorübergehende Schließung zahlreicher Hilfsangebote im Frühjahr 2020 illustriert die Hilflosigkeit, mit der auch viele Suchtfachkräfte konfrontiert waren, und die Lücken in der systematischen Implementierung von Angeboten, die nicht ausschließlich darauf ausgerichtet waren, Klient*innen und Patient*innen face-to-face mit Fachkräften in Kontakt zu bringen, waren nicht mehr zu übersehen. Um es deutlich zu sagen: Dies war und ist kein Spezifikum der Suchthilfe, sondern war und ist auch in vielen anderen Bereichen der Fall. Aber auch unser Fachgebiet ist „kalt erwischt“ worden.

Und plötzlich alles digital? – Neue Anforderungen an Fachkräfte und Klient*innen 

Jenseits der globalen Probleme, die für alle Bürger*innen mit der Pandemie einhergingen und -gehen, ist ein Teil der oben erwähnten Hilflosigkeit auch auf fehlendes Wissen zurückzuführen. Damit sind hier nicht der Mangel an Kenntnissen über ätiologische Konzepte substanzbezogener Störungen gemeint oder grundsätzliche Fragen zum Umgang mit unseren häufig multimorbid erkrankten Klient*innen und Patient*innen. Aber sicher kann jede Facheinrichtung von Fragen berichten, mit denen sie sich auseinandersetzen musste und die schwer zu beantworten waren bzw. sind, z. B. wie Beratung und Behandlung unter Nutzung digitaler Medien mit dem besonderen Datenschutz bei der Verarbeitung von gesundheitsrelevanten Daten umzusetzen sind, welche Medien am besten geeignet sind, um unsere Klient*innen und Patient*innen zu erreichen, oder schlicht, wie man diese benutzt. Wer erteilt Genehmigungen für die Nutzung bestimmter Programme und wie überzeuge ich meinen Leistungsträger davon, dass unter Nutzung digitaler Medien erbrachte Leistungen hinsichtlich ihrer therapeutischen Qualität ebenso gut sind wie im face-to-face-Kontakt?

Erwähnung finden muss an dieser Stelle, dass die Erbringung digitaler therapeutischer oder anderer Hilfsangebote weit über technische, gesetzliche und andere regulatorische Aspekte hinaus auch in der inhaltlichen und konzeptuellen Umsetzung neue Anforderungen an Fachkräfte und Klient*innen oder Patient*innen stellt; darauf wurde oben schon hingewiesen. Die Nutzung digitaler Medien in unserem Gebiet erfordert mehr und anderes Wissen als die reine Schaffung technischer Voraussetzungen auf dem Computer – aber ohne Letzteres geht es eben auch nicht.

Insgesamt haben wir es also mindestens mit drei Anforderungen an Fachkräfte zu tun, die bislang nicht oder nur unzureichend Gegenstand von Aus- und Weiterbildung sind: Wir brauchen a) mehr technisches Wissen über die grundsätzlichen Möglichkeiten, die digitale Medien bieten, b) mehr Sicherheit über die regulatorischen Rahmenbedingungen, von Datenschutz bis zur Anerkennung digital vermittelter therapeutischer Leistungen, und c) Kenntnisse über die Anpassung unserer Angebote an neue Medien und deren Auswirkungen auf Beratungs- und Behandlungstätigkeiten.

Digitalisierung als Querschnittsthema in Bildungsangeboten

Auch wenn diese Liste nur holzschnittartig ist, weist sie unmittelbar auf bestehende Lücken in den Curricula der Aus- und Weiterbildung der in den unterschiedlichen Bereichen der Suchthilfe tätigen Fachkräfte hin. Die Forderung, sich mit Digitalisierung und Hybridstrukturen auseinanderzusetzen und die entsprechenden Qualifikationen von Fachkräften zu stärken, ist nicht neu (vgl. Klein 2021). Die Pandemie hat uns aber eindringlich mit der Notwendigkeit konfrontiert, diese Anforderungen nicht als isoliertes „weiteres Element“ der Aus- und Weiterbildung zu betrachten, das an geeigneter Stelle an bestehende Seminare und Kurse „angeflanscht“ wird. Es wird notwendig sein, Digitalisierung unter verschiedenen Gesichtspunkten als das große Querschnittsthema in unsere Bildungsangebote zu integrieren. Dazu müssen wir weiterhin Berührungsängste abbauen, Vorurteile bekämpfen und uns mit Neuem auseinandersetzen. Wenn in den letzten Monaten bei manchen der Eindruck entstanden ist, dass dies dazu führt, dass wir mehr Ressourcen gebraucht haben, um letzten Endes weniger gute Angebote zu schaffen, als wir es kannten, dann ist dies zum einen sicher der Tatsache geschuldet, dass (technische) Rahmenbedingungen vielerorts aus der Zeit gefallen waren und ein erheblicher Innovationsstau bestand. Zum anderen ist die oben erwähnte Integration der Digitalisierung in unsere Arbeitsprozesse noch lange nicht erfolgt und wird nur allzu oft als mehr oder minder lästige Zusatzbelastung betrachtet.

Aus- und Weiterbildung hat hier eine große Aufgabe in den nächsten Jahren zu bewältigen, damit Bewährtes nicht verloren geht und Neues sinnvoll integriert werden kann. Nur mit Hilfe starker Bildungsstrukturen wird es uns gelingen, auch zukünftig die Qualität der Suchthilfe – unabhängig von den Versorgungssektoren – auf einem Niveau zu halten, das angemessen auf Veränderungen reagieren und diesen selbstbewusst begegnen kann. Dieser Appell richtet sich an Lehrende und Lernende gleichermaßen. Moderne Aus- und Weiterbildung im Suchtbereich muss mehr sein als das Teilen von Folien unter Nutzung eines digitalen Tools oder die häufig beobachtete Passivität der Zuhörer*innen beim Blick auf den Bildschirm.

Aber auch hier besteht Anlass für Optimismus. Viele Dozent*innen und Seminarteilnehmer*innen haben in den letzten Monaten intensiv gearbeitet und hervorragende Beispiele geliefert, wie sich Wissensvermittlung und die Anwendung digitaler Medien kombinieren lassen. Dass eine Tätigkeit im Suchtbereich als interessante, anspruchsvolle und moderne Form der Berufsausübung wahrgenommen wird, wird bei der Suche nach zukünftigen Fachkräften eine erhebliche Rolle spielen.

Kontakt:

Corinna Mäder-Linke
Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss)
Wilhelmshöher Allee 273, 34131 Kassel
cml@suchthilfe.de

Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel
IFT Institut für Therapieforschung München
Leopoldstraße 175, 80804 München
Pfeiffer-Gerschel@ift.de

Angaben zu den Autor*innen:

Corinna Mäder-Linke, Diplom-Sozialpädagogin, Master of Arts (Arbeits- und Organisationspsychologie), Sozialtherapeutin-Sucht (GVS), Supervisorin (DGSv), ist Geschäftsführerin des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss). Vorher war sie als Geschäftsführerin des Gesamtverbandes für Suchthilfe e.V. (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland tätig und verantwortete dort sechs Jahre den Bereich Fort- und Weiterbildung, inklusive der Weiterbildung zur / zum Suchttherapeut*in. Sie ist Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft Weiterbildung Suchttherapie.
Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut (VT) und Supervisor, ist Geschäftsführer des IFT Institut für Therapieforschung München und der IFT-Gesundheitsförderung. Außerdem ist er als Psychotherapeut in eigener Praxis tätig.

Literatur:

TEIL I

  • Bundesgesetzblatt Jahrgang 2018, Teil I Nr. 48: Gesetz zur Stärkung der Chancen für Qualifizierung und für mehr Schutz in der Arbeitslosenversicherung, Seite 2651 – 2656, Bundesanzeiger Verlag, 21.12.2018.
  • Bundesgesetzblatt Jahrgang 2020, Teil I Nr. 24: Gesetz zur Förderung der der beruflichen Weiterbildung im Strukturwandel und zur Weiterbildung und Ausbildungsförderung, Seite 1044 – 1055, Bundesanzeiger Verlag, 28.05.2020.
  • Bundesministerium für Arbeit und Soziales – Geschäftsstelle Nationale Weiterbildungsstrategie: Umsetzungsbericht Nationale Weiterbildungsstrategie, Berlin, 2021.
  • Deutscher Bundestag: Psychiatrie-Enquete; Heger Verlag, 1975.
  • Deutsche Rentenversicherung Bund: Vereinbarungen im Suchtbereich, Seite 79 – 832; Auflage 08 / 2013.
  • Deutsche Rentenversicherung Bund: Von der Deutschen Rentenversicherung und der Gesetzlichen Krankenversicherung geprüfte Weiterbildungscurricula nach den Auswahlkriterien zur Prüfung von Weiterbildungen für Gruppen- und Einzeltherapeuten im Tätigkeitsfeld der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker gemäß den Anlagen 1 und 2 der Vereinbarung „Abhängigkeitserkrankungen“ vom 04.05.2001 in der Fassung vom 23. September 2011, 2021. Internetabruf am 02.08.2021: https://www.deutsche-rentenversicherung.de/DRV/DE/Experten/Infos-fuer-Aerzte/Fort-Weiterbildung-Aerzte/weiterbildung_therapeuten_sucht.html
  • Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft e.V.: Die Zukunft der Qualifizierung in Unternehmen nach Corona, Essen, 2021.
  • Verband Deutscher Rentenversicherungsträger: Empfehlungsvereinbarung über die Zusammenarbeit der Krankenversicherungsträger und der Rentenversicherungsträger bei der Rehabilitation Abhängigkeitskranker – Suchtvereinbarung, 1978.
  • Verband Deutscher Rentenversicherungsträger: Deutsche Rentenversicherung 7-8/1992, Seite 468 – 479, 1992.

TEIL II