Joachim J. Jösch

Sucht und Sexualität

Joachim J. Jösch

Sexualität ist ein Grundbedürfnis jedes Menschen. Sie ist für jeden mit ganz unterschiedlichen Hoffnungen, Erwartungen und Erfahrungen verbunden. Sie ist geprägt von Normen und Wertvorstellungen der Gesellschaft und dem Lebensumfeld, in dem jemand aufwächst und lebt. Vater und Mutter sind die frühesten und wichtigsten Bindungspersonen eines Kindes. Das Verhältnis zwischen Eltern und Kind legt die Grundlagen für die Bindungsfähigkeit und beeinflusst das spätere (Beziehungs-)Leben. Kinder brauchen gute Vorbilder, um später selbst erfolgreich Bindungen eingehen zu können.

Im Fachkrankenhaus Vielbach, einer Rehaklinik zur Behandlung alkohol- und medikamentenabhängiger Männer, wurde im Rahmen einer Klausur zur Weiterentwicklung der Behandlungskonzeption deutlich, dass dem wichtigen Lebensbereich der Sexualität bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Es wurde beschlossen, die Rehabilitanden zu dem Thema zu befragen und die Behandlungsangebote entsprechend der Ergebnisse zu verändern. In diesem Artikel soll beschrieben werden, wie das Thema Liebe und Sexualität im Fachkrankenhaus Vielbach Einzug gehalten hat und welche Aktivitäten sich daraus entwickelt haben – ein Praxis- und Erfahrungsbericht, der eine neue Perspektive in der Behandlung von Suchtkranken aufzeigen möchte.

Mehr als jeder zweite der Vielbacher Rehabilitanden ist nicht durchgehend mit seinen leiblichen Eltern aufgewachsen. Bald jeder zweite, der mit seinem Vater (zumindest zeitweise) aufgewachsen ist, glaubt nicht, dass er von ihm geachtet und geliebt wird oder wurde. Die durchgängige und zeitweilige Entbehrung des Vaters und das damit einhergehende Fehlen des männlichen Vorbildes haben im Hinblick auf Beziehungsfähigkeit bei vielen Patienten problematische männliche Rollenbilder entstehen lassen. Dies stellt eine Herausforderung für eine Rehabilitationsbehandlung dar, die Grundlagen für ein gelingendes Leben mit Liebe, Freundschaft und Emotionalität schaffen will.

Gut 80 Prozent der Vielbacher Rehabilitanden erwartet beim Verlassen der Klinik zunächst ein Leben ohne Partnerin/Partner. Viele Patienten wünschen sich jedoch eine Partnerschaft. Dabei ist abzusehen, dass viele dieser Patienten erhebliche Probleme bei der Realisierung ihres Wunsches haben werden. (Das ist durch die Auswertung der regulären Behandlungsstatistik bekannt.) Dennoch wurde das Thema nur in wenigen Fällen therapeutisch bearbeitet.

Für eine nachhaltige Stabilisierung der Abstinenz der Patienten spielen Liebe, Sexualität und Partnerschaft eine wichtige Rolle. Die gewünschte Partnerschaft, der Umstand, zu lieben und geliebt zu werden, sowie eine befriedigende Sexualität sind Quellen von Glück und Wohlbefinden, Anerkennung und Selbstwerterleben. Trotzdem waren diese elementaren zwischenmenschlichen Empfindungen und Interaktionen weder als Erfahrung noch als Zukunftskonzept der Rehabilitanden in dieser expliziten Form regelhaft Themen der Suchtbehandlung in Vielbach.

Ergänzend zu den im Rahmen der Konzept-Klausur erarbeiteten Diskussionsergebnissen und Ideen beschäftigten sich Klinikleitung und therapeutisches Team mit zahlreichen Statements, die Patienten schon 1988 (!) zum Schwerpunktthema „Sexualität in der Suchttherapie“ in der Vielbacher Patientenzeitschrift SuchtGlocke geäußert hatten. Vielfältige Erfahrungen, Sorgen und Wünsche waren dort abgedruckt. Als Basis für konzeptionelle Neuerungen und die Einführung neuer Behandlungselemente waren sie jedoch nicht ausreichend, u. a. weil ihnen die Aktualität fehlte. Die Sichtung der Fachliteratur brachte Leitung und Team auch nicht weiter, da sich 90 Prozent der identifizierten Publikationen auf sexuelle Störungen und deren körperliche und psychische Ursachen beschränkten.

Was wir unsere Patienten schon immer mal fragen wollten – Die Befragungswelle 2015

2014 fassten Klinikleitung und therapeutisches Team den Entschluss, die Patienten zum Themenkomplex „Partnerschaft und Sexualität“ zu befragen. Zur Vorbereitung wurden alle Rehabilitanden zu einem Vortrag eingeladen, in dem der Ärztliche Leiter über die Relevanz dieser menschlichen Bedürfnisse für ein zufriedenes Leben informierte. Im zweiten Teil der Veranstaltung warb er bei den Zuhörern dafür, an einer nachfolgenden Befragung zum Thema teilzunehmen. Ziel der Befragung sei es, sowohl die somatische als auch die psychotherapeutische Behandlung stärker an den Bedürfnissen der Patienten im Bereich Liebe und Sexualität auszurichten. Anschließend diskutierten die Patienten ausgiebig über die angebotenen Informationen. Deutlich wurde hier eine große Zustimmung zu der Klinikinitiative, das Thema Sexualität angemessen in das ‚offizielle‘ Therapiegeschehen zu integrieren. Ein Patient formulierte treffend: „Wir haben das immer im Kopf, reden auch untereinander drüber – aber eher nicht mit den Therapeuten.“

Dass die Patienten großes Interesse an der angekündigten Therapie-Innovation hatten, zeigte sich bei der Befragung. Nur wenige Patienten beteiligten sich nicht. Auf Anonymität, freiwillige Teilnahme und Durchführung außerhalb der Therapiezeiten wurde dabei strikt geachtet.

Patienten berichten in der SuchtGlocke

Noch bevor die Auswertung abgeschlossen war, startete die ausschließlich aus Patienten bestehende Redaktion der Klinikzeitung SuchtGlocke (SG) eine eigene Umfrage zu dem Schwerpunktthema „Sucht & Sexualität“. 84 sehr persönliche Beiträge wurden in der SG-Ausgabe Nr. 55 abgedruckt. Die Redaktion entschied sich, den Themenbereich zu vertieften. „Liebe und Geborgenheit“ war das Schwerpunktthema in der nachfolgenden SG-Ausgabe Nr. 56. Hier wurden 51 Beiträge von Mitpatienten und Ehemaligen, die auf die abgedruckten „Sucht & Sexualität“-Beiträge reagiert hatten, zusammengetragen. Folgende Aspekte spielen in den abgedruckten Beiträgen eine wichtige Rolle:

Sexuelle Störungen

In ihren Beiträgen zum Thema Sexualität in der SuchtGlocke thematisieren Patienten immer wieder sexuelle Störungen, die sie mit ihrem permanenten Konsum von Alkohol in Verbindung bringen. Einige sprechen sexuelle Versagensängste, Schüchternheit und Unerfahrenheit an. Andere sprechen von Stressreaktionen auf sexuelle Wünsche der Partnerin, die sie überfordern.

Immer wieder berichten Patienten von exzessivem Alkoholkonsum als Reaktion auf scheinbar nicht lösbare Konflikte in der Partnerschaft. Und davon, wie in der Folge die „gegenseitige Liebe und Wertschätzung gestorben“ seien. Am Ende sei man „mit der Flasche verheiratet“ gewesen. Der tiefe „Wunsch nach Liebe“ sei „ertränkt“ worden. Gegen das Alleinsein nach gescheiterter Beziehung und die damit verbundenen schmerzhaften und deprimierenden Gefühle habe „nur der Konsum von Alkohol und Drogen geholfen“ oder zumindest für Schmerzlinderung gesorgt.

Triebabfuhr und Gewalt

Wenn auch die Partnerin abhängigkeitskrank war, habe es kein Korrektiv mehr zum materiellen und gesundheitlichen Scheitern gegeben. Das Leben im Rausch sei zur alltäglichen Normalität geworden. Sexualität habe, wenn überhaupt, auch nur noch im Rausch stattgefunden. Meist eher mechanisch, als sexuelle Triebabfuhr, die aber nicht die gewünschte Befriedigung verschafft habe.

Meist verbunden mit intensiven Schuld- und Schamgefühlen, bekennen nicht wenige der Schreiber, unter starkem Alkoholeinfluss auch gewalttätig gegenüber ihrer – inzwischen meist ehemaligen – Partnerin geworden zu sein. In einigen Fällen sei aber auch die ebenfalls Suchtmittel konsumierende Partnerin ihnen gegenüber gewalttätig geworden. Keiner der Patienten schreibt davon, dies in der derzeitigen Therapie thematisiert zu haben.

Gefühle

In den Patientenbeiträgen wird deutlich, wie schwer es vielen fällt, über ihre Gefühle zu schreiben. Verschiedenste Erfahrungen mit Sexualität werden – zum Teil ausführlich – geschildert. ‚Liebe‘ taucht meist nur als Sehnsucht auf.

Einige Patienten bedauern das Fehlen von Mitpatientinnen in der Therapie. Vorteile einer Therapie in einer Männerklinik werden jedoch häufiger benannt. „Von Frauen unbeobachtet“, könne man sich unter Männern „echter“ und „authentischer“ verhalten. Dann ginge es auch „ehrlicher“ zu – nicht nur bei den patienteninternen Schilderungen von sexuellen Erfahrungen.

Pornographie

Viele Patienten schauen sich während der Zeit ihres Klinikaufenthaltes Pornographie an. Die häufige Erwähnung des Themas lässt auf einen recht hohen Stellenwert schließen. Doch für die meisten ist es offenbar nur eine Notlösung, die bloße Triebabfuhr ohne wirkliche Befriedigung ermöglicht. Durchgängig deutlich wird der dahinter liegende Partnerschaftswunsch vieler Patienten. Ähnlich verhält es sich wohl auch mit wiederholt geschilderten Bordellbesuchen während des Therapieaufenthaltes.

Masturbation

Der Konsum von Pornos dient den Patienten meist als sexuell stimulierende Vorlage zur geschlechtlichen Selbstbefriedigung. Das Thema Masturbation taucht in einer Vielzahl von Beiträgen auf. „Tut gut“, „erleichtert“, „Notbehelf“, „besser als nix“, „schales Gefühl danach“, „wie ein kurzer Sonnenschein, der kurz durch dunkle Wolken dringt“ und „ich schäme mich“ sind angeführte Bewertungen.

Sexuelle Orientierung

Mehrfach wird angesprochen, wie in der Vielbacher Männerklinik mit nicht-heterosexueller Orientierung umgegangen wird. Aus den Berichten homosexueller Patienten lässt sich schließen, dass diese hinsichtlich der Toleranz, die ihnen ihre heterosexuell orientierten Mitpatienten entgegenbringen, unsicher sind. Wiederholt werden Hemmungen angesprochen, sich während der Therapie zur eigenen Homosexualität zu bekennen. Die Angst davor, nach dem ‚Outen‘ von der eigenen Bezugsgruppe ausgegrenzt zu werden, scheint groß zu sein.

Für Suchtkranke ist es besonders wichtig, selbstbewusst zu ihrer Sexualität wie auch zu ihrer sexuellen Orientierung stehen zu können. Ein selbstbestimmtes Leben mit sozialer Teilhabe, frei von Sucht, ist nicht vereinbar mit permanenter sexueller Selbstverleugnung. Ein wichtiges Thema für entsprechende neu zu konzipierende Schulungs- und Therapieangebote.

Die beschriebenen Patientenaussagen machten dem Klinikteam – ergänzend zu den zuvor schon gewonnenen Erkenntnissen – deutlich, wie wichtig eine Einbeziehung der Themen Liebe, Sexualität und Partnerschaft in den Therapieprozess für eine gelingende und nachhaltige Rehabilitation der Patienten ist.

‚Normale‘ Wünsche, ‚unnormale‘ Verwirklichungschancen – Die Befragungswelle 2016

Im Frühjahr 2016 startete die Klinik eine neue Befragungsrunde. An dieser zweiten Befragung nahmen 69 Patienten teil. Zusammen mit den 63 Teilnehmern der ersten Befragung wurde so eine Gesamtteilnehmerzahl von 132 erreicht.

Der Fragebogen umfasste 64 Fragen. Zwei Psychologie-Studentinnen nahmen anschließend die Auswertung des umfangreichen Datenmaterials vor. Die Ergebnisse beeindrucken in ihrer Deutlichkeit, auch hinsichtlich der Patientenwünsche und -ängste für die Zeit während und nach der Rehabilitation. Partnerschaft und Sexualität sind für viele Patienten ähnlich wichtig wie Abstinenz. Patienten wollen ‚Teilhabe‘ – auch in sozialen Beziehungen und in Bezug auf Sexualität.

Hervorzuheben ist die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit:

  • 80 % der Patienten leben nicht in einer Partnerschaft!
  • 82 % der Partnerlosen wünschen sich eine
  • 85 % der Patienten nehmen an, eine Partnerschaft erleichtere ihnen ein Leben ohne Suchtmittel.
  • 92 % der Patienten ist Sexualität wichtig bis sehr wichtig.

Weitere aus Kliniksicht interessanteste Ergebnisse sind:

Sexualleben

  • 72 % der Patienten sind mit ihrem Sexualleben derzeit unzufrieden. 4,4 % sind manchmal zufrieden.
  • 75,8 % der Patienten masturbieren mehrmals in der Woche, 34,8 % täglich.
  • 51,5 % der Patienten haben schon einmal eine Prostituierte aufgesucht.
  • 47,1 % der Patienten haben während der Therapie schon einmal eine Prostituierte aufgesucht oder beabsichtigen dies.
  • 31,8 % der Patienten nutzen häufig bis immer erotische oder pornographische Produkte (Bilder, Filme). 40,9 % geben an, diese manchmal zu nutzen.
  • 25,5 % der Patienten geben an, eine „sexuelle Störung“ zu haben.
  • 62,1 % der Patienten möchten über gesundheitliche Störungen, die negative Auswirkungen auf die männliche Sexualität haben, und deren Behandlung informiert werden.

 Einsatz von Suchtmitteln

  • 47,7 % der Patienten fällt es schwer, ohne vorherigen Konsum von Suchtmitteln eine Frau bzw. einen Mann anzusprechen.
  • 59,6 % der Patienten haben Sex in den letzten Jahren meistens unter dem Einfluss von Suchtmitteln erlebt.
  • 54,8 % der Patienten haben schon einmal Drogen oder ähnliche psychoaktive Substanzen eingesetzt, um ihr erotisches Erleben anzuregen.

Partnersuche im Internet

  • 53 % der Patienten haben schon einmal überlegt, im Internet auf Partnersuche zu gehen.
  • 36,8 % der Patienten haben mit Partnersuche im Internet schon Erfahrungen gemacht.
  • 65,2 % der Patienten möchten in der Therapie über Partnersuche im Internet (Verfahren, Kosten und Risiken) informiert werden.

Beziehung zu Klinikmitarbeiter/innen

  • 78 % der Patienten haben schon einmal Gefühle von Verliebtheit in Bezug auf Klinikmitarbeiter/innen gehabt. Keiner von ihnen hat das Thema schon einmal in einem therapeutischen Gespräch angesprochen.
  • 40,7 % der Patienten haben schon einmal sexuelle Phantasien in Bezug auf Klinikmitarbeiter/innen gehabt. Lediglich 1,5 % von ihnen haben das Thema schon einmal in einem therapeutischen Gespräch angesprochen.

Gewalterfahrungen und familiärer Hintergrund

  • 51,6 % der Patienten sind bis zum 18. Lebensjahr nicht durchgehend mit ihren leiblichen Eltern aufgewachsen.
  • 57,4 % der Patienten wurde bis zu ihrem 18. Lebensjahr durch die Eltern oder andere Erwachsene körperliche Gewalt angetan.
  • 28 % der Patienten wurde bis zu ihrem 18. Lebensjahr durch die Eltern oder andere Erwachsene sexuelle Gewalt angetan.

Feed back

  • 86,4 % der Patienten bewerteten die Befragung als gute Idee.
  • 90 % der Patienten begrüßten es, nach ihren Erfahrungen und Bedürfnissen in Bezug auf Liebe und Sexualität gefragt zu werden. 

Aus der Befragung geht hervor, dass sich die Patienten bei den Themen sexuelle Gesundheit, Partnersuche und Beziehungsanbahnung Beratung und Hilfe von Seiten der Klinik wünschen. Dem anonym geäußerten übergroßen Wunsch nach Partnerschaft und Sexualität scheint eine große Hilflosigkeit der Patienten hinsichtlich der Realisierung entgegenzustehen. Nicht nur in den therapiefreien Zeiten sind immer wieder Sprüche wie „Wahre Liebe gibt’s nur unter Männern“ und Frauen abwertende Äußerungen zu hören. Dem Umstand, dass ersehntes sexuelles und Liebesglück nicht oder nur schwer erreichbar scheinen, versuchen viele Patienten mittels Rationalisierung und Kompensation zu begegnen.

Beeindruckend war, wie viele Patienten sich während und nach der Befragung für die Klinikinitiative bedankten. Deutlich wurde, dass die Patienten sich und ihre Interessen wahr- und ernstgenommen fühlen.

Fachtagung „Sucht & Sexualität – Mann (S)sucht Liebe“

Um die Fachöffentlichkeit für Liebe und Sexualität als Thema in der Suchtbehandlung zu sensibilisieren und die eigenen Aktivitäten vorzustellen, veranstaltete das Fachkrankenhaus Vielbach im September 2016 die Tagung „Sucht & Sexualität – Mann (S)sucht Liebe“. Fast 200 Fachkräfte der Suchthilfe aus ganz Deutschland, der Schweiz und Luxemburg diskutierten zusammen mit Experten darüber, wie wichtig gelingende Partnerschaft und erfüllende Sexualität für ein Leben frei von Sucht sind. Es ging u. a. um die Fragen: Wie wirkt es sich auf die Abstinenz aus, wenn sich keine Partnerin/kein Partner findet? Können in einer Suchtrehabilitation die Chancen auf Verwirklichung des Wunsches nach einer Partnerin/einem Partner und entsprechende Handlungsmöglichkeiten erweitert werden, und wenn ja, wie?

Die Fachtagung stieß auf sehr großes Interesse. Aus den Diskussionen im Plenum und den Arbeitsgruppen gingen viele Impulse für die therapeutische Praxis hervor.

„Nicht ohne uns über uns“ – Überlegungen zu Neuerungen in der Behandlung

In Vielbach diskutieren Klinikleitung und therapeutisches Team über Ergänzungen des Behandlungskonzeptes, die einen sehr privaten Lebensbereich ihrer Rehabilitanden betreffen. Mit der umfangreichen Befragung der Betroffenen entspricht die Klinik dem Grundsatz der UN-Behindertenrechtskonvention „Nicht ohne uns über uns“. Gleichberechtigte soziale Teilhabe von sozial benachteiligten Abhängigkeitskranken setzt Partizipation und konsequente Personenzentrierung auch in der Rehabilitation voraus. Das fordert die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) ganz aktuell von den Reha-Trägern. In die Überlegungen zu Neuerungen in der Behandlung, die den Bereich Liebe, Sexualität und Partnerschaft betreffen, werden die Patienten regelmäßig einbezogen.

Entsprechende neue therapeutische Interventionen werden sukzessive vereinbart und in Therapieplanung und -struktur eingepasst. Die konkrete Umsetzung wird durch Mitarbeitende des therapeutischen Teams vorgenommen. Hier gilt es zu beachten, dass diese Mitarbeitenden eine von ganz persönlichen Lebensumständen und Erfahrungen geprägte Einstellung zum Thema Partnerschaft und Sexualität haben. Deshalb sollten für diese Aufgaben besonders geeignete Mitarbeitende ausgewählt werden. Themenspezifische Fort- und Weiterbildungen sind hilfreich. Insbesondere in der Anfangszeit dieser neuen Angebote sollten die Mitarbeitenden bei der Reflexion und Verbesserung ihres therapeutischen Handelns durch Supervision unterstützt werden.

Angebote der Klinik

Neue Angebote finden nun im Rahmen von Beratungen, medizinischen Untersuchungen und Behandlungen sowie Schulungen statt. Mit und ohne therapeutische Anleitung tauschen sich Patienten darüber aus, wie sie Liebe, Lust und Leidenschaft in ihrer ‚nassen‘ Zeit erlebt haben. Und sie reden über Freude, Neugier, Unsicherheit und Angst, die sie bei dem Gedanken empfinden, diese intensiven sexuellen Gefühle zukünftig mit klarem Kopf erleben zu wollen.

Das MännerCamp „Fit fürs L(i)eben“

Alle Patienten nehmen jetzt während ihres Reha-Aufenthaltes an dem dreitägigen MännerCamp „Fit fürs L(i)eben“ teil. An diesen fest im Therapieplan verankerten Tagen werden in verschiedenen Modulen ganz konkrete Themen zum Bereich „Liebe, Sexualität und Partnerschaft“ bearbeitet, z. B. „Die Sache mit der Liebe“, „Frauen verstehen lernen“, „Was Frauen erwarten“, „Wie präsentiere ich mich?“, „Der erste Kontakt“, „Vorsicht beim Dating“, „Sex und Leistungsdruck“, „Pornos“, „ Fremdgehen“, „Was es für eine dauerhaft gelingende Partnerschaft braucht“ und „Was tun, wenn keine Partnerschaft zustande kommt?“.

Bevor die Klinik das Angebot „Fit fürs L(i)eben“ einführte, wurden die Inhalte vom therapeutischen Team geclustert. An diesem Prozess waren auch die Patienten beteiligt. Themenauswahl und Schwerpunktsetzung wurden nach der vorgesehenen Evaluierung im Hinblick auf Wirksamkeit und Teilnehmerakzeptanz optimiert. Zentrales Ziel, das die die Klinik mit dem MännerCamp anstrebt, ist die Erweiterung von Handlungsbefähigung und damit die Verbesserung von Verwirklichungschancen hinsichtlich Partnerschaft und Sexualität für die Rehabilitanden.

Rolle der Mitarbeiter/innen

Eine große Zahl an Patienten gibt in der Befragung Gefühle von Liebe und sexuellem Begehren gegenüber Klinikmitarbeiter/innen an. In einer gemischtgeschlechtlichen Klinik wäre diese Zahl vermutlich deutlich geringer. Hier muss die therapeutische Leitung sehr aufmerksam – auch mit supervisorischer Unterstützung – dafür Sorge tragen, dass insbesondere die Bezugstherapeuten professionell mit dieser Thematik umgehen.

Bei Beratungs-/Therapiegesprächen von männlichen Therapeuten gilt es, zwischen einem konstruktiven Arbeitsbündnis und unangemessener Solidarität zu differenzieren. Vater-Sohn-Übertragungen, Vermischungen mit eigenen schmerzhaften Erfahrungen mit Frauen sowie eventuell die eigene belastete Einstellung zum Thema Partnerschaft und Sexualität u. ä. müssen beachtet werden.

Bei Beratungs-/Therapiegesprächen von Therapeutinnen gilt es, darauf zu achten, nicht in mögliche Fallen zu geraten wie: die Mutter-Rolle zu übernehmen, Ersatz-Partnerin zu sein, in eine emotionale Abhängigkeit zu geraten, Beziehungsmuster des Klienten zu Frauen unhinterfragt zu wiederholen oder durch die eigene eventuell belastete Einstellung zum Thema Partnerschaft und Sexualität beeinflusst zu werden.

Ärztliche Untersuchung

Bei der ärztlichen Untersuchung der Patienten wird in Vielbach jetzt darauf geachtet, Fragen nach sexuellen Störungen regelhaft durch einen Arzt, nicht eine Ärztin, zu stellen. Hier gilt es, sich früh zu entscheiden, für welche der festgestellten Störungen welche Therapie (somatisch oder/und psychotherapeutisch) angezeigt ist und welche Störungen während der stationären Rehabilitation oder vielleicht anschließend behandelt werden sollten. Entscheidend sind die Wünsche des von den Klinikmitarbeiter/innen – eventuell auch von Konsiliarärzten – fachlich gut beratenen Patienten.

Liegt eine entsprechende medizinische Indikation (erektile Dysfunktion) vor, kann Patienten „Viagra“, „Cialis“ o. Ä. verordnet werden. Der Verordnung wird ein Beratungsgespräch zwischen Patient und Bezugstherapeut/in regelhaft vorgeschaltet.

Psychotherapie

Traumatisierende Ereignisse, die negativen Einfluss auf die Bindungs- und Beziehungsfähigkeit eines Patienten genommen haben, sollen regelhaft im Rahmen der psychotherapeutischen Befunderhebung festgestellt und behandelt werden.

Neun von zehn Patienten nehmen an, eine Partnerschaft erleichtere ihnen ein suchtmittelfreies Leben. Nicht wenige Patienten machen die/den potenziellen Partner/in quasi für ihr Wohlergehen und damit ihre Abstinenz verantwortlich. Eine solche Einstellung in Gruppen- und Einzeltherapiegesprächen therapeutisch zu bearbeiten, ist lohnenswert. Dieser Prozess unterstützt die Patienten auf ihrem Weg in die Eigenverantwortlichkeit und stärkt ihre Abstinenzfähigkeit.

Tiergestützter Behandlungsansatz

Erfahrungen, die in Vielbach im Rahmen des tiergestützten Behandlungsansatzes gesammelt wurden, helfen ebenfalls bei der Umsetzung von therapeutischen Interventionen in diesem Themenbereich. Die Referentin Sonja Darius traf bei der Fachtagung Sucht & Sexualität zur Rolle von Tieren bei der Heilung von Bindungs- und Beziehungsstörungen die Feststellung: „Ohne das Knüpfen neuer, gelingender Beziehungen wird den meist alleinstehenden Patienten nach der Therapie ein Neustart in ein gutes, suchtfreies Leben nur schwer gelingen. Tiergestützte therapeutische Angebote wie im Fachkrankenhaus Vielbach können gute Voraussetzungen für neue, gelingende Beziehungsaufnahmen schaffen und stellen damit einen wertvollen Beitrag zur Sicherung der Nachhaltigkeit der Suchtrehabilitation dar.“

Auch die Erfahrungen externer Kolleginnen und Kollegen fließen in die Weiterentwicklung des Vielbacher Konzeptes ein. Im Rahmen verschiedener Suchtkongresse stellt die Klinik ihr Sucht & Sexualität-Projekt vor und diskutiert es mit den Teilnehmenden.

(Zwischen-)Resümee

Mit der offenen Thematisierung des privaten Lebensbereiches „Liebe, Sexualität und Partnerschaft“, der auch in der Therapie angemessen Platz finden soll, hat das Fachkrankenhaus Vielbach unbeabsichtigt ‚Zauberlehrling‘ gespielt. Die Mitarbeiter/innen waren erst erschrocken, dann erstaunt über die vielfältigen klinikinternen wie externen Reaktionen.

Die Patienten haben der Klinik mit ihren Beiträgen in der SuchtGlocke und ihren Antworten im Rahmen der Befragung einen ‚Schatz’ anvertraut. Sie haben den Mitarbeiter/innen mitgeteilt, was sie in einem sehr intimen Bereich ihres Lebens bewegt. Ihre Erfahrungen und Fragen, ihre Probleme und Ängste, ihre Wünsche und Träume. Leitung und Team der Klinik wollen auf möglichst viele Fragen Antworten geben, Ängste nehmen, Hoffnung stiften und zusammen mit ihnen realistische Zugänge zu gelingender Partnerschaft und Sexualität schaffen.

Wie weit gehend? Das werden sie zusammen ausprobieren.

Kontakt:

Joachim J. Jösch
Fachkrankenhaus Vielbach
Nordhofener Str. 1
56244 Vielbach
Tel. 02626/9783-25
joachim.joesch@fachkrankenhaus-vielbach.de

Angaben zum Autor:

Joachim J. Jösch leitet das Fachkrankenhaus Vielbach seit 2006. Zusammen mit der stationären Vorsorge „Neue Wege“ und der „Nachsorge Ambulante Integrationshilfe“ bildet das Fachkrankenhaus das Sucht-Hilfe-Zentrum Vielbach.

Weiterführende Literatur:
  • Fachklinik Bad Tönisstein (Hrsg.) (1993): Bad Tönissteiner Blätter. Beiträge zur Suchtforschung und ‑therapie. Bd. 5, H. 2. Bad Tönisstein
  • Patienten des Fachkrankenhaus Vielbach (2017): Wann ist Mann eine Mann? In: Patientenzeitschrift SuchtGlocke, Jg. 32, H. 57, S. 14-23
  • Robert Koch Institut (Hrsg.) (2014): Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Gesundheitliche Lage der Männer in Deutschland. Berlin
  • Stiftung Männergesundheit (Hrsg.) (2017): Sexualität von Männern. Dritter Deutscher Männergesundheitsbericht. Gießen

Titelfoto©Ulrike Niehues-Paas