Antje Matthiesen

Substitutionsbehandlung während der Corona-Pandemie

Antje Matthiesen

Im Januar 2020 tauchten erste Nachrichten über eine unbekannte, leicht übertragbare, mit schweren Krankheitsverläufen einhergehende Infektionskrankheit auf. Dies sorgte für Aufregung, auch unter suchterkrankten Menschen und denen, die mit und für sie arbeiten. Die Sorge, dass sich schnell Infektionsketten unter dieser vulnerablen Bevölkerungsgruppe ausbreiten würden, einhergehend mit der Sorge, dass mit einer Vielzahl an möglichen Todesfällen zu rechnen sei aufgrund der gesundheitlich z. T. stark vorbelasteten Personen, war nicht nur bei uns im Träger spürbar. Zudem wurde ein Ansturm auf die Einrichtungen erwartet, bedingt durch den befürchteten Zusammenbruch des Drogenmarktes sowie infektionsbedingte Schließungen von Substitutionspraxen. Gerade die großen Substitutionspraxen wurden als potentielle Zentren für die Verbreitung von SARS-CoV-2 unter dem Personal und den Patient*innen eingeschätzt – besonders unter dem Aspekt der täglichen Vergabe des Substituts unter Sicht.

Kurze Vorstellung des Trägers Notdienst Berlin e.V.

Eine jahrelange Suchtmittelabhängigkeit führt häufig zu gesundheitlichen, sozialen und finanziellen Problemen wie Schulden, Wohnungs- und Arbeitslosigkeit sowie gesellschaftlicher Isolation. Die Teilhabe ist deutlich eingeschränkt. Daher bietet der Notdienst für suchtmittelgefährdete und -abhängige Berlin e.V. eine Kombination aus verschiedenen aufeinander abgestimmten Hilfen für die Betroffenen, um eine sinnvolle und nachhaltige Perspektive zu eröffnen. Wir informieren, beraten, betreuen und begleiten Menschen und vermitteln sie bei Bedarf in weiterführende Hilfen. Die Vermittlung in weiterführende Hilfen gelang jedoch unter Pandemiebedingungen kaum, da Einrichtungen geschlossen oder anderweitig genutzt wurden.

Grundsätzlich unterstützen wir bei der gesellschaftlichen Re-Integration, der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und der Entwicklung einer sinnstiftenden Tagesstruktur und Aufgabe. Unsere Schwerpunkte liegen in den Bereichen:

  • Beratung/ambulante Rehabilitation
  • Substitution (Psychosoziale Betreuung und Betreutes Wohnen)
  • Beschäftigung, Qualifizierung, Tagesstruktur
  • Angebote nur für Frauen
  • Angebote für Familien

Psychosoziale Betreuung für Substituierte am Standort Genthiner Straße in Berlin

Einen besonderen Ansatz verfolgen wir in unseren vier Ambulanzen für integrierte Drogenhilfe, A.I.D. Dies bedeutet: konzeptionell eng verzahnte und interdisziplinäre Zusammenarbeit von Medizin und Sozialarbeit unter einem Dach für die Zielgruppe opioidabhängige Menschen. In diesen Schwerpunktpraxen werden jeweils zwischen 220 bis 330 Patient*innen mit Ersatzstoffen medizinisch behandelt und begleitend psychosozial betreut. Diese Einrichtungen bieten vor allem den schwerstabhängigen, so genannten Nicht-Wartezimmer-fähigen Patient*innen ein auf ihre Bedürfnisse spezialisiertes und eng verknüpftes Angebot. Im Mai 2020 eröffneten wir, mitten in der ersten Corona-Welle, in Lichtenberg unseren vierten Berliner Ambulanzstandort – in Zusammenarbeit mit dem Praxiskombinat Neubau, in dem auch mit dem Originalersatzstoff Diamorphin behandelt wird.

Corona – die neue Situation

Nicht nur die bereits erwähnten Ängste vor Praxisschließungen und Ansteckung vor Ort beschäftigten Mitarbeiter*innen und Patient*innen. Auch der Weg zur Substitutionspraxis wurde nun zu einem unkalkulierbaren Ansteckungsrisiko. Die Bitte der Regierung an die Bevölkerung, möglichst zuhause zu bleiben, verschärfte die Problematik und war für diesen Personenkreis kaum umsetzbar.

Zusätzlich strömten täglich neue Drogenabhängige in die Praxen, die aus Angst vor einem zusammenbrechenden Drogenschwarzmarkt in die Substitution aufgenommen werden wollten. Diese eigentlich positive Entwicklung stellte sich schon bald als temporär heraus, da viele dieser Neu-Patient*innen die Praxis schnell wieder verließen. Dies führte zu einem erheblichen Mehraufwand bei Praxispersonal und PSB-Mitarbeiter*innen.

Auch fehlende Vermittlungsoptionen durch geschlossene, reduziert besetzte oder anderweitig genutzte Behörden, Einrichtungen und/oder Kliniken prägten den Arbeitsalltag. Stationäre Behandlungsplätze (Entgiftungsbehandlung, Entwöhnungs-, aber auch Schmerztherapie) waren nur noch schwer, wenn überhaupt, verfügbar.

Mit dem Infektionsschutzgesetz, den SARS-CoV-2-Infektionsschutzmaßnahmenverordnungen, den Corona-Beschlüssen des Landes Berlin sowie der Eingliederungshilfe-Covid-19-Verordnung wurden schnell die rechtlichen Rahmenbedingungen angepasst, vorgegeben und fortlaufend aktualisiert. Hier galt es, pragmatisch zwischen Sicherstellung der Versorgung und Infektionsschutz abzuwägen. Dazu gehörte auch, soweit möglich und vertretbar, die Menschen nicht in die Praxen/Einrichtungen kommen zu lassen und die dafür zur Verfügung stehenden neuen Möglichkeiten der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV) und der Richtlinie der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung Opioidabhängiger (BÄK-Richtlinie) vollumfänglich zu nutzen. Obwohl bereits 2017 Neuregelungen getroffen worden waren, wurden diese vor der Pandemie eher zaghaft genutzt.

Neue Vorkehrungen und Arbeitsweisen

Masken und Desinfektionsmittel für die Klient*innen

Die Aufrechterhaltung der Grundversorgung für die Patient*innen/Klient*innen war für uns selbstverständlich und ist zudem ein expliziter Auftrag. Die zur Aufrechterhaltung der Angebote notwendigen Veränderungen mussten schnell umgesetzt werden, dazu gehörten:

  • Einlassmanagement in den Praxen/Einrichtungen
  • „Sicherung der Einrichtungen“ mit individuell angepassten Hygienekonzepten
  • verstärkte Nutzung der Take-Home-Regelungen
  • Überprüfung und – wo möglich – Anpassung der Rahmenbedingungen der Behandlung/Betreuung
  • noch engere Abstimmung zwischen Medizin und PSB
  • Umgang mit dem anfänglichen „Sturm“ in die Behandlung
  • Nutzung digitaler Medien wie Messenger, SMS, Chatberatung, Videokonferenzen
  • Etablierung neuer Angebote wie „Fenstern“ oder „Walk to talk“
  • Aufklärung und Durchführung von Testangeboten (ab 12/2020)
  • Aufklärung und Vermittlung in Impfangebote (ab 03/2021)

Schnell etablierten sich auch bei uns im Träger neue Methoden des miteinander Arbeitens, besonders die „Vikos“. Videokonferenzen wurden das neue Kommunikationsinstrument im Träger sowie darüber hinaus. Die dafür notwendigen technischen Ausstattungsgegenstände wie Laptops und Smartphones wurden auf schnellem Wege angeschafft. Das Schulen der Mitarbeiter*innen gelang meist im üblichen „Do it yourself“-Verfahren – nicht immer reibungslos, aber letztlich mit dem gewünschten Ergebnis.

Auswirkungen für die Substitutionspatient*innen

Die SARS-CoV-2-Pandemie wurde für die Substitutionspatient*innen nicht zur anfänglich erwarteten Katastrophe. Ob das an dem eher jüngeren Alter, dem nur selten vorhandenen Übergewicht oder der eventuell präventiven Wirkung der Substitutionsmedikamente liegt, ist bislang unklar. Die klassischen Superspreader Events wie Kreuzfahrten, Skitouren oder Abibälle gehören zudem weniger zum bevorzugten Freizeitverhalten dieser Bevölkerungsgruppe, und die soziale Distanz haben viele auch schon vor der Pandemie verinnerlicht.

Positiv, vor allem für die medizinische Behandlung, waren die 2017 angepassten gesetzlichen Neuregelungen der BtMVV sowie der ärztlichen Richtlinien, die eine gute Grundlage für die Anpassungen in der Pandemiezeit darstellten. Dazu gehörten der Aufruf zur konsequenten Nutzung der erweiterten Take-Home-Regelungen, die Möglichkeit der Abrechnung von mehr Gesprächen (auch telefonischer und/oder digitaler Art) oder der Postversand von BtM-Rezepten (amtliche Formblätter zur Verschreibung von Betäubungsmitteln). Einige Praxen erweiterten ihre Öffnungszeiten und/oder sorgten durch ein Einlassmanagement für Entzerrung der Patient*innenströme, was sicherlich half, einen Massenausbruch von Covid-19-Infektionen in den Praxen und damit einhergehende Schließungen zu verhindern.

Die Ausweitung der Take-Home-Regelungen und die dafür an vielen Stellen von Patient*innen, PSB und Ärztin/Arzt gemeinsam vorgenommene Einschätzung der jeweiligen Möglichkeiten sorgte für eine neue positive Bewertung dieses Behandlungsdreiecks. Aufklärung über die aktuelle Pandemieentwicklung, Hygienemaßnahmen, Infektionsgefahren sowie die geltenden Auflagen und Bestimmungen war so schnell und wirkungsvoll möglich.

Schnelltest

Eine spannende Erfahrung war, dass es Patient*innen gab und gibt, die lieber wieder häufiger in die Praxis kommen wollten und wollen, da ihnen diese Aktivität als Tagesstruktur, aber auch als menschlicher Kontakt, fehlt. Durch den Lockdown und die eingeschränkten Möglichkeiten, das eigene Grundbedürfnis nach sozialem Kontakt ausreichend zu stillen, haben die Einrichtungen einen (noch) wichtigeren Stellenwert bei den Patient*innen/ Klient*innen eingenommen. Über einen längeren Zeitraum waren die Betreuungseinrichtungen der einzige Ort, der auch weiterhin täglich geöffnet hatte. Die auch dort notwendigen Einschränkungen wurden weniger negativ wahrgenommen als „draußen“. Vor allem, dass mit den täglichen Ansprechpartner*innen vor Ort auch mal „wohltuende Smalltalks“ möglich waren, wurde positiv kommuniziert. Hier gab es eine große Dankbarkeit der Patient*innen/Klient*innen. Vielerorts entstand ein neues „gutes Miteinander“.

Die medizinische Versorgung wurde an einigen Stellen umfassender, und Corona als Gesundheitsthema sorgte für ein größeres Bewusstsein für die eigene gesundheitliche Fürsorge. Im Zuge der Impfvorbereitung führte der Blick in den Impfausweis zu der einen oder anderen Nachimpfung, mitunter aber auch dazu, dass ein Impfausweis überhaupt erst einmal ausgestellt wurde. Die verschärften Hygieneregeln und natürlich die Maskenpflicht hatten zudem deutlich weniger Erkältungs- und Grippeinfekte im Herbst/Winter 2020 zur Folge.

Kooperierende Ärztinnen und Ärzte berichteten, dass sich manche Patient*innen durch die Vereinsamung ihnen gegenüber offener zeigten. Gespräche über Rückfälle oder den Konsum anderer Substanzen konnten gut für therapeutische Interventionen genutzt werden. Die Pandemie selbst stellte zudem oft ein „verbindendes Thema“ zwischen den Lebenswelten der Klient*innen und der Helferpersonen dar.

Schutz durch Impfung

Die Entscheidung, suchterkrankte Menschen wegen ihrer schweren psychischen Erkrankung in die Impfpriorisierungsgruppe 2 aufzunehmen und damit bevorzugt zu impfen, war für die Menschen ein sehr wichtiges Signal. Immer wieder berichteten uns Patient*innen/ Klient*innen, wie neu es für sie sei, als besonders schützenswert angesehen zu werden. Dass die Impfpriorisierung 2 auch für das Behandlungs- und Betreuungspersonal galt, sorgte für große Entspannung und Erleichterung im Arbeitsalltag der Mitarbeitenden.

Ausblick: Verbesserungen für Behandler*innen und Patient*innen

Die Pandemie bot die Möglichkeit, auch die Substitutionsbehandlung zu vereinfachen. Abläufe wurden an vielen Stellen verschlankt, und plötzlich waren innerhalb kürzester Zeit Änderungen von Vorgaben möglich, die unter „normalen Umständen“ undenkbar gewesen wären.

Beim diesjährigen interdisziplinären Suchtkongress in München wurde von einer hohen Corona-Disziplin der Patient*innen gesprochen, von deutlich gesunkenen Behandlungsabbrüchen bis hin zu neuen therapeutischen Zugängen, weil sich die jeweiligen Blickwinkel veränderten. Suchtmediziner*innen berichteten von einem vereinfachten Verfahren, positiven Erfahrungen mit der Ausweitung der Take-Home-Regelungen (inklusive Diamorphin!), einer höheren Patientenzufriedenheit sowie einer Flexibilität der Behandlung. Auch dass weder der Schwarzmarkt mit Substitutionsmedikamenten überflutet wurde noch es zu zahlreichen „verlorenen“ Rezepten kam, war für viele eine Überraschung. Die Rede war an verschiedenen Stellen von einer „stillen Normalisierung“ dieser so wichtigen Behandlung, und demzufolge wurde (erneut) die Forderung laut, dass die ärztlichen Richtlinien dem wissenschaftlichen Stand (nach Pandemie) anzupassen seien.

Kontakt:

Antje Matthiesen
Notdienst für suchtmittelgefährdete und -abhängige Berlin e.V.
(Notdienst Berlin e.V.)
Genthiner Straße 48
10785 Berlin
Tel. 030-233 240 100
info@notdienstberlin.de
https://drogennotdienst.de/ 

Angaben zur Autorin:

Antje Matthiesen hat beim Notdienst Berlin e.V. die „Fachbereichsleitung Arbeit & Beschäftigung, Substitution & PSB, Frauen“ inne. Die gelernte Tischlerin und Sozialpädagogin ist seit fast 20 Jahren beim Notdienst Berlin in verschiedenen Funktionen tätig.