Laura Hertner, Panagiotis Stylianopoulos, Dr. Simone Penka

Substanzkonsum geflüchteter Menschen

Dr. Simone Penka

Panagiotis Stylianopoulos

Laura Hertner

Dass geflüchtete Menschen Suchtmittel konsumieren, ist anzunehmen. Dennoch wissen wir wenig über die Art der konsumierten Substanzen, über Konsummuster oder -motivationen. Insgesamt gibt es international wenig Daten zum Substanzkonsum von geflüchteten Menschen. Studien, wie beispielsweise zusammengefasst in dem systematischen Review von Horyniak et al. (2016) oder Lo et al. (2017), weisen jedoch auf eine erhebliche Heterogenität in den Mustern sowie Prävalenzraten des Suchtmittelkonsums hin.

Eine bisher häufige Annahme ist, dass geflüchtete Menschen aus Abstinenz-orientierten Herkunftsregionen aufgrund kultureller und religiöser Faktoren weniger Substanzen konsumieren als die europäische Bevölkerung, die u. a. einen sehr liberalen Umgang mit Alkohol pflegt (z. B. Salas-Wright & Schwartz, 2019). Im Kontrast hierzu steht die Annahme, dass eine – durch zahlreiche Studien erwiesene – erhöhte Prävalenz von Traumafolgestörungen bei geflüchteten Menschen auch eine erhöhte Prävalenz von Suchterkrankungen als komorbide psychische Erkrankung bedingt (Horyniak et al., 2016; Vaughn et al., 2015; Weaver & Roberts, 2010; Lindert et al., 2021). Letztere Annahme bildet sich allerdings in der Praxis nicht in der Inanspruchnahme von Einrichtungen der Suchthilfe ab. Aus der Wissenschaft wissen wir, dass geflüchtete Menschen, aber auch Menschen mit Migrationshintergrund, aufgrund kultureller, ökonomischer und rechtlicher Gründe als schwer erreichbar für suchtspezifische Versorgungsangebote zu betrachten sind (Penka et al., 2008). Verschiedene Studien deuten darauf hin, dass Menschen mit Migrationshintergrund deshalb in Einrichtungen der Suchthilfe unterrepräsentiert sind (Kimil, 2016; Rommel & Köppen, 2014; Schwarzkopf et al., 2021). Für geflüchtete Menschen im Spezifischen liegen hierzu bislang keine Daten vor.

Um Suchthilfeangebote und Prävention für geflüchtete Menschen zu gestalten und bedarfsadäquat auszurichten, scheint vor allem ein tiefgreifendes Verständnis für Konsummotive und Faktoren, die den Substanzkonsum beeinflussen, notwendig. Das Teilprojekt „Erfassung des Substanzkonsums und Prinzipien guter Praxis bei Hilfsangeboten“ des durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsverbundes PREPARE (Prevention and Treatment of Substance Use Disorders in Refugees)* liefert nach drei Jahren Laufzeit hierzu Anknüpfungspunkte. Dieser Artikel präsentiert aus dem Teilprojekt „Erfassung des Substanzkonsums und Prinzipien guter Praxis bei Hilfsangeboten“ gewonnene Erkenntnisse zum Substanzkonsum geflüchteter Menschen und zu einer passgenaueren Versorgung durch das Suchthilfesystem. Die Ergebnisse geben Aufschluss über die von geflüchteten Menschen konsumierten Substanzen, über Konsummuster sowie Substanzkonsum fördernde Faktoren. Darüber hinaus werden 39 Strategien „Guter Praxis“ skizziert, mit deren Hilfe Einrichtungen der Suchthilfe für geflüchtete Menschen zugänglicher werden können und eine gute Versorgung gewährleistet werden kann.

Wer konsumiert welche Substanzen?

Im Rahmen von PREPARE wurden zwischen 2019 und 2021 an acht Standorten – Berlin, Bremen, Frankfurt (Main), Hamburg, Hannover, Köln, Leipzig und München – 108 semistrukturierte Interviews sowie 218 strukturierte Befragungen mit Schlüsselpersonen der lokalen Sucht- und Geflüchtetenhilfe sowie weiteren Personen durchgeführt. Die gesammelten Erkenntnisse wurden anschließend in zehn Fokusgruppen diskutiert. Leitfragen der Interviews und Befragungen waren: Wer konsumiert Substanzen in besonders auffälliger Art und Weise? Welche Substanzen werden konsumiert? Welche Probleme treten im Zusammenhang bzw. in Folge von Substanzgebrauch auf? Welche Faktoren beeinflussen den Substanzgebrauch? Die Schlüsselpersonen waren aufgefordert, sich vor allem auf geflüchtete Menschen zu beziehen, die seit 2015 in Deutschland angekommen waren. Im entsprechenden Zeitraum waren in Summe Syrien, Afghanistan und Irak die Hauptherkunftsländer von Menschen, die einen Erstantrag auf Asyl in Deutschland gestellt hatten (bpb, 2022).

Es zeigte sich deutlich, dass es vor allem geflüchtete junge Männer sind, die in puncto Substanzkonsum auffallen. Dies muss vor dem Hintergrund interpretiert werden, dass junge Männer gemäß den Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in den Jahren 2015 bis 2020 die größte Gruppe unter den Asylantragstellenden in Deutschland ausmachten (bpb, 2022). Über den Substanzkonsum von Frauen wurde vergleichsweise wenig berichtet. Es bleibt unklar, ob und in welchem Ausmaß der Suchtmittelkonsum von geflüchteten Frauen ungesehen bleibt, z. B. aufgrund der konsumierten Substanzen oder der gesellschaftlichen Rollenbilder. Schlüsselpersonen betonen in ihren Berichten häufig, dass der Konsum geflüchteter Frauen landläufig weit unterschätzt wird.

Interessanterweise zeigen unsere Daten, dass geflüchtete Menschen nicht auf einzelne bestimmte Substanzen zurückgreifen, die ihnen beispielsweise aus den Herkunftsländern vertraut sind, sondern dass die lokale Verfügbarkeit bzw. die Verfügbarkeit innerhalb der eigenen Peergroup die Art der konsumierten Substanz(en) bzw. die Konsummuster bedingt. Somit sind Alkohol und Cannabis den Befragungen zufolge die am häufigsten konsumierten Substanzen. Aber auch Medikamente, Heroin und – v. a. in Leipzig und dem Umland – Amphetamine werden konsumiert.

Häufig wird die Frage gestellt, ob geflüchtete Menschen bereits in den Herkunftsländern Suchtmittel konsumiert haben und der aktuelle Substanzkonsum eine Kontinuität bereits bestehender Abhängigkeiten darstellt. Viele Fachkräfte konnten hierzu keine Angaben machen. Da viele geflüchtete Menschen sehr jung in Europa ankommen, ist neben der Betrachtung der individuellen Konsumbiografie die Betrachtung der substanz- bzw. konsumbezogenen Normen im Herkunftskontext überaus zentral. Selbst wenn, z. B. aufgrund des jungen Alters, in den Herkunftsländern noch nicht selbst konsumiert wurde, sind die dortigen gesellschaftlichen Haltungen rund um Suchterkrankungen, Substanzkonsum und Suchtmittel prägend. Unterschiede zwischen den gesellschaftlichen Haltungen im hiesigen und dem Herkunftskontext bedingen Konsequenzen, beispielsweise für die individuelle Konsumkompetenz.

So verdient gerade der Alkoholkonsum geflüchteter Menschen als ein Beispiel dieses Zusammenspiels eine intensivere Betrachtung: Die hohe Verfügbarkeit, Erschwinglichkeit und die ausgeprägte gesellschaftlicher Akzeptanz von Alkohol in Deutschland kann bei Menschen, die in Bezug auf Alkohol in restriktiven Kontexten sozialisiert wurden, den Anschein von Harmlosigkeit erwecken. Extrem riskanter Alkoholkonsum ist die Folge.

Welche Faktoren fördern den Substanzkonsum geflüchteter Menschen?

Das mit Abstand am häufigste benannte Konsummotiv geflüchteter Menschen ist Selbstregulierung bei psychischen Belastungen – sich zu betäuben, zu vergessen, sich davon abzulenken, einfach mal abzuschalten. Diese psychischen Belastungen sind häufig bedingt durch migrationsbezogene Faktoren. Auf einige besonders relevante Faktoren, die den Substanzkonsum geflüchteter Menschen fördern, werden wir im Folgenden eingehen.

Es zeichnet sich in unseren Daten deutlich ab, dass ein Leben in Deutschland ohne Familie, Partner:in und/oder Kinder konsumfördernd wirkt. Dabei ist ein zweiteiliger Mechanismus zu beobachten: Erstens stellen die Einsamkeit und das Vermissen der zurückgelassenen geliebten Menschen sowie die Sorge um deren (Über)Leben eine besondere psychische Belastung dar, die durch Substanzkonsum vermeintlich aushaltbarer wird. Zweitens bietet das Fehlen „sozialer Kontrolle“, von Struktur und Verantwortung innerhalb von Familienverbünden ein Einfallstor dafür, Verhaltensweisen, die im Herkunftsland nicht zu rechtfertigen gewesen wären, auszuprobieren bzw. im schlimmsten Fall die Kontrolle darüber zu verlieren. Gerade bei geflüchteten Frauen scheint sich dieser Effekt stark auf die Art der konsumierten Substanz und die Maßlosigkeit des Konsums auszuwirken: Frauen mit Kindern konsumieren den befragten Schlüsselpersonen zufolge in der Regel ausschließlich und oftmals unauffällig Medikamente, wohingegen Frauen (inklusive Transfrauen) ohne Familien bzw. Kinder durch exzessiven Alkohol-, Cannabis- und Kokainkonsum auffallen.

Ähnlich wie bei anderen Personengruppen bietet Substanzkonsum auch geflüchteten Menschen eine Möglichkeit, sich mit einer sozialen Gruppe zu identifizieren und ein Gefühl erlebter Zugehörigkeit zu schaffen. Den Berichten der Schlüsselpersonen zufolge scheint bei geflüchteten Menschen dieser Aspekt von besonderer Relevanz zu sein, da zum einen soziale Beziehungen durch die Fluchtmigration erschüttert werden, zum anderen das Leben in Deutschland allzu häufig ein Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit, des sozialen Ausschlusses und diskriminierender Erfahrungen mit sich bringt. Somit ist es wenig überraschend, dass sich beispielsweise geflüchtete Jugendliche den alterstypischen Konsummustern anschließen und Alkohol und Cannabis konsumieren.

Auch die Wohnsituation bzw. das sozial-räumliche Wohnumfeld geflüchteter Menschen scheint ein Suchmittelkonsum fördernder Faktor zu sein. Neben allseits bekannten Stressoren des Lebens in Gemeinschaftsunterkünften – in erster Linie wenig Privatsphäre sowie Autonomie –, die vermeintlich über Substanzkonsum reguliert werden können, ist von einer hohen Verfügbarkeit von Suchtmitteln innerhalb dieser Unterkünfte auszugehen. Vielfach wurde von befragten Schlüsselpersonen berichtet, dass gerade unter Mitbewohner:innen Konsumempfehlungen im Sinne von Erfahrungsberichten ausgesprochen werden: „Du bist ja so traurig, du hast ja so Stress. Komm rauch mal!“ (Originalzitat)

Weitere zentrale Faktoren, die sich fördernd auf den Substanzkonsum auswirken, scheinen fehlende Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten zu sein. Für viele bedeutet die Ankunft in Deutschland weniger ein Ankommen als ein Warten, ein Bangen um den Aufenthaltsstatus und letztlich oftmals eine erlebte Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit. Die hieraus resultierende induzierte psychische Belastung, Überforderung und Enttäuschung über die Situation in Deutschland scheinen maßgeblich Substanzkonsum zu fördern.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass sich Perspektiven und Möglichkeiten geflüchteter Menschen in Deutschland je nach Herkunftsland unterscheiden. Der Effekt von herkunftsabhängigen Perspektiven in Deutschland führt scheinbar zu einem schädlicheren Konsum von Suchtmitteln in manchen Subgruppen im Vergleich zu anderen. Eine mangelnde Arbeitserlaubnis bzw. etwaige Barrieren des Arbeitsmarktes resultieren in nur wenigen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur Beschäftigung. Mögliche Folgen sind Langeweile und – da Substanzkonsum u. a. das Erleben von Zeit verändert – in der Konsequenz der Konsum von Suchtmitteln. Hierzu ein zusammenfassendes Zitat: „Also die wissen, das [Substanzkonsum] ist dreckig, aber dreckiger als die Situation, in der sie sich befinden, ist das gar nicht.

Strategien „Guter Praxis“ zum Erreichen und Versorgen geflüchteter Menschen

Im Rahmen unserer Erhebungen wurde deutlich, dass Einrichtungen der Suchthilfe selten, und insbesondere in ländlichen Regionen kaum Kontakt zu geflüchteten Menschen haben. Mitarbeitende von Suchthilfeeinrichtungen lehnten Interviewanfragen sehr häufig ab, da sie über zu wenig Kontakt und Wissen zu der Zielgruppe verfügten. In der Folge gab der Großteil der interviewten Schlüsselpersonen an, im Bereich der Geflüchtetenhilfe zu arbeiten. Diese berichteten von gescheiterten Bemühungen, Konsument:innen in die lokalen Suchthilfeeinrichtungen zu vermitteln. Hierbei wurden Barrieren benannt, die aus der Literatur über Zugangsbarrieren in Bezug auf verschiedene psychosoziale, psychotherapeutische und psychiatrische Einrichtungen bereits bekannt sind, wie beispielsweise Sprachbarrieren oder die Angst vor Stigmatisierung (z. B. Byrow et al., 2020; Straßmayr et al., 2012). Beim Konsums illegalisierter Substanzen kommen Ängste vor rechtlichen und im schlimmsten Fall aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen hinzu (Greene et al., 2021). Um die suchtspezifische Versorgungssituation von geflüchteten Menschen systematisch zu verbessern, wurden im Rahmen der Studie Lösungsansätze identifiziert. Ein Delphi-Prozess mit 22 Expert:innen resultierte in 39 Strategien „Guter Praxis“. Eine Handreichung, die alle Strategien umfasst, aufgeteilt auf neun Themenfelder, steht online zur Verfügung (Hertner, Panagiotis & Penka, 2022).

Die Handreichung enthält Strategien, die auf die benannten strukturellen Aspekte und migrationsbezogenen Stressoren sowie auf Rechte zur Inanspruchnahme verschiedener Gesundheitsdienste Bezug nehmen (z. B. Reduktion strukturell suchtfördernder bzw. aufrechterhaltender Faktoren). Daneben werden einige grundlegende Ansprüche an das Versorgungssystem der Suchthilfe adressiert, wie z. B. die Gewährleistung einer Beständigkeit von Angeboten vor allem durch dauerhafte Finanzierung. Diese Strategien sind im Sinne der strukturorientierten Verhältnisprävention zwar wichtig, liegen aber außerhalb des direkten Einflussbereiches der Einrichtungen. Politische Schritte hierfür sind gefragt. 33 der 39 Strategien bieten hingegen konkrete Anknüpfungspunkte für Einrichtungen der Suchthilfe. Exemplarisch werden einige Strategien an dieser Stelle angeführt.

Eine Vielzahl an Strategien fokussiert auf Ansätze zur Überwindung von Sprachbarrieren. Die hohe Sprachenvielfalt unter geflüchteten Menschen lässt sich nicht über muttersprachliches Personal alleine abdecken. Daher bietet sich der Einsatz von Sprachmittler:innen an. Damit die Versorgung mit Sprachmittler:innen gelingt, sollten folgende Faktoren erfüllt sein:

a) Gewährleistung der Finanzierung, z. B. durch Berücksichtigung etwaiger Kosten in Förderungsanträgen und Budgets,
b) niedrigschwellige und schnelle Verfügbarkeit, z. B. auch durch sprachmittelnde Telefon- oder Videodienstleistende, sowie
c) Professionalität, die gerade im Suchtbereich gewährleistet, dass korrekt und ohne persönliche Wertung übersetzt wird.

Leicht umzusetzen ist die mehrsprachige Übersetzung von schriftlichen Dokumenten in den Einrichtungen, z. B. Datenschutzerklärungen, Behandlungsvereinbarungen.

Als Grundvoraussetzung für eine bedarfsadäquate Versorgung geflüchteter Menschen zeichnet sich in den Strategien das gemeinsame Handeln von Sucht- und Geflüchtetenhilfe ab. Es finden sich in der Handreichung einige Strategien „Guter Praxis“ zur zielgerichteten Netzwerkarbeit dieser beiden Arbeitsbereiche.

Darüber hinaus ist auch ein Wissensaustausch zwischen den beiden Bereichen zu implementieren. Einerseits gilt es, Akteure der Geflüchtetenhilfe für Suchtthemen zu sensibilisieren, Unsicherheiten im Umgang mit Substanzen und Sucht abzubauen und eine eigene reflektierte Haltung gegenüber Konsum und Konsumierenden zu entwickeln. Dadurch können Mitarbeitende der Geflüchtetenhilfe frühzeitig problematischen Suchtmittelkonsum erkennen und mit dem Wissen über verfügbare Angebote der Suchthilfe dorthin vermitteln. Vice versa sollten auch Fachkräfte der Suchthilfe zur Lebenssituation geflüchteter Menschen und deren sozio-politischen Rahmenbedingungen informiert und regelmäßig geschult werden, z. B. in Bezug auf asyl- und aufenthaltsrechtliche Aspekte, Familiennachzug, Regelungen zu Kostenübernahmen und Zuständigkeiten von Kostenträgern. Keinesfalls geht es dabei darum, dass Fachkräfte die Aufgaben des jeweils anderen Arbeitsbereichs übernehmen sollen, sondern lediglich um eine Sensibilisierung für eine spezielle Lebenssituation und die Kenntnis von adäquaten Unterstützungsangeboten. Im Rahmen des Forschungsprojektes wurde mehr als deutlich, dass der Grad der Vernetzung zwischen Sucht- und Geflüchtetenhilfe ausschlaggebend ist für die Versorgungssituation geflüchteter Menschen vor Ort.

Neben der sprachlichen Verständigung und der Netzwerkarbeit kommt auch der Haltung von Suchthilfe-Mitarbeitenden eine große Bedeutung zu. Ideal ist eine transkulturelle Kompetenz im Sinne von diskriminierungsfreier Haltung und Selbstreflexion im Umgang mit geflüchteten Klient:innen. Wichtig ist es, geflüchteten Menschen mit einer offenen, neugierigen und fragenden Haltung auf Augenhöhe, anstatt mit Vorurteilen und Wertung, zu begegnen.

Darüber hinaus sollten geflüchtete Menschen für Themen rund um Substanzkonsum und Suchterkrankungen sensibilisiert und über die ausdifferenzierten Unterstützungsangebote in ihrer Region informiert werden. Die Strategien „Guter Praxis“ schlagen diesbezüglich vor, Präventions- und Aufklärungsangebote an Orten durchzuführen, an denen sich geflüchtete Menschen aufhalten. Damit sind nicht nur interaktive, mehrsprachige Infoveranstaltungen in Gemeinschaftsunterkünften gemeint, sondern auch das Einbringen von Themen rund um Substanzen und Suchterkrankungen in z. B. Deutsch- und Integrationskursen, Selbsthilfegruppen oder sozialen Medien. Zum Informieren und Aufklären über Substanzen und deren Risiken liegen bereits viele Materialien in diversen Sprachen vor, die hierfür genutzt werden können (z. B. von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen).

Beispielhaft haben wir einige Einrichtungen der Suchthilfe zusammengestellt, die verschiedene Strategien „Guter Praxis“ bereits umsetzen und geflüchtete Menschen gut erreichen und versorgen. Die Kollektion der Projektsteckbriefe, die als Inspiration für andere Einrichtungen dienen kann, kann hier heruntergeladen werden.

Ausblick

Die dargestellten Ergebnisse unseres Teilprojektes des PREPARE-Forschungsverbundes zeigen deutlich, dass bisherige Ansätze der Suchtprävention, die im Sinne einer Verhaltensprävention auf Individuen, deren Wissen rund um die Themen Konsum und Sucht sowie auf Versorgungsstrukturen der Suchhilfe fokussieren, unzulänglich sind. Eine Erweiterung um Ansätze strukturorientierter Verhältnisprävention ist wichtig, um den Einfluss von Faktoren, die die Vulnerabilität strukturell erhöhen, einzudämmen. Dabei sind insbesondere die Themenfelder Unterbringung, Ungewissheit über Bleibeperspektiven, Möglichkeiten der Erwerbstätigkeit sowie Nutzungsrechte von Gesundheitsdiensten von Relevanz.

Zudem zeigen die Ergebnisse, dass Angebote der Suchthilfe vielerorts nicht genügend auf die speziellen Bedürfnisse geflüchteter Menschen (z. B. Sprachmittlung, Niedrigschwelligkeit) zugeschnitten sind und geflüchtete Konsument:innen häufig nicht in Einrichtungen der Suchthilfe ankommen bzw. dort nicht dauerhaft angebunden werden. Oftmals sind die Mitarbeitenden der Unterkünfte somit die einzigen Fachkräfte, zu denen längerfristiger Kontakt besteht.

Das Thema Substanzkonsum unter geflüchteten Menschen sollte bundesweit Berücksichtigung finden. Unter anderem deshalb bewerten wir es als vorbildlich, wie im Rahmen aktueller Fluchtbewegungen im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine für bestimmte Personenkreise von aus der Ukraine geflüchteten Menschen unbürokratisch aufenthaltsrechtliche und auch arbeitsrechtliche Ausnahmeregelungen geschaffen wurden (vgl. BAMF, 2022). Es ist davon auszugehen, dass sich diese Rahmenbedingungen auch auf die psychische Gesundheit positiv auswirken und damit eine Anfälligkeit für problematischen Substanzkonsum geringer ausfallen könnte als bei geflüchteten Menschen aus anderen Herkunftsländern wie beispielsweise Afghanistan, Irak oder auch Syrien.

Ebenfalls zeigt das dynamische Migrationsgeschehen, wie wichtig es ist, bestehende Angebote der Suchthilfe für alle Menschen zu öffnen. Insbesondere der Einsatz von Sprachmittler:innen ermöglicht es, flexibel mit Menschen unterschiedlichster Sprachkompetenzen umzugehen. Auch der Ansatz von transkultureller Kompetenz als selbstreflexive und fragende Haltung trägt zu einer Offenheit für alle zugewanderten Menschen bei – mehr als das Erlernen vermeintlichen Wissens über Herkunftsregionen und deren „Kultur“ (Steinhäuser et al., 2021).

Darüber hinaus sind Vernetzungen zwischen Sucht- und Geflüchtetenhilfe sowie ein stetiger Wissensaustausch zwischen diesen Arbeitsbereichen unabdingbar, um für geflüchtete Konsument:innen einen Zugang zu Hilfen und eine bedarfsadäquate Versorgung zu gewährleisten. Die Strategien „Guter Praxis“ sowie die Kollektion „Praxisbeispiele“ bieten Fachkräften der Suchthilfe sowie Einrichtungsleitungen Inspiration, wie eine gute Vernetzung und interdisziplinäres Arbeiten mit dieser Zielgruppe gut gelingen können.

 *) Der Forschungsverbund PREPARE besteht insgesamt aus vier Teilprojekten. So wurde in einem Teilprojekt eine App (BePrepared) entwickelt, die im Rahmen einer Kurzintervention problematischen Alkohol- und Cannabiskonsum reduzieren soll. Ein anderes Teilprojekt bietet an verschiedenen Standorten auch derzeit weiterlaufend Affektregulations-Trainings in Gruppen für geflüchtete Menschen mit riskantem Suchtmittelkonsum oder einer Suchterkrankung an. Weitere Informationen:

https://www.sucht-und-flucht.de/forschung/prepare-forschungsverbund

https://www.mentalhealth4refugees.de/de/prepare

Kontakt:

Laura Hertner
AG transkulturelle Psychiatrie, Charité Universitätsmedizin Berlin
laura.hertner(at)charite.de

Angaben zu den Autor:innen:

Laura Hertner ist Psychologin und promoviert an der Charité – Universitätsmedizin Berlin zum Thema Substanzkonsum geflüchteter Menschen.
Panagiotis Stylianopoulos befindet sich in der Ausbildung zum psychologischen Psychotherapeuten und promoviert ebenfalls an der Charité.
Dr. Simone Penka leitet als Ethnologin und Erziehungswissenschaftlerin in Berlin TransVer –Ressourcen-Netzwerk zur interkulturellen Öffnung (www.transver-berlin.de).

Literatur:
  • Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) (2022). FAQ zur Einreise aus der Ukraine und dem Aufenthalt in Deutschland. Verfügbar unter https://www.bamf.de/DE/Themen/AsylFluechtlingsschutz/ResettlementRelocation/InformationenEinreiseUkraine/_documents/ukraine-faq-de.html
  • Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) (2022). Demografie von Asylsuchenden in Deutschland. Verfügbar unter https://www.bpb.de/themen/migration-integration/zahlen-zu-asyl/265710/demografie-von-asylsuchenden-in-deutschland/
  • Byrow, Y., Pajak, R., Specker, P. & Nickerson, A. (2020). Perceptions of mental health and perceived barriers to mental health help-seeking amongst refugees: A systematic review. Clinical Psychology Review, 75, 101812.
  • Greene, M.C., Haddad, S., Busse, A., Ezard, N., Ventevogel, P., Demis, L., et al. (2021). Priorities for addressing substance use disorder in humanitarian settings. Conflict and Health, 15(1), 1-10.
  • Hertner, L., Stylianopoulos, P. & Penka, S. (2022). PREPARE – Teilprojekt 1: Kollektion „Praxisbeispiele“ der Versorgung geflüchteter Menschen in der Suchthilfe. Verfügbar unter www.sucht-und-flucht.de
  • Hertner, L., Stylianopoulos, P. & Penka, S. (2022). PREPARE – Teilprojekt 1: Handreichung Strategien „guter Praxis“ in der Suchthilfe – Erreichen und Versorgen Geflüchteter Menschen. Verfügbar unter www.sucht-und-flucht.de
  • Horyniak, D., Melo, J. S., Farrell, R. M., Ojeda, V. D. & Strathdee, S. A. (2016). Epidemiology of substance use among forced migrants: a global systematic review. PLoS one, 11(7), e0159134.
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  • Rommel, A. & Köppen, J. (2014). Migration und Suchthilfe – Inanspruchnahme von Leistungen durch Menschen mit Migrationshintergrund. Psychiatrische Praxis, Epub Oct 27.
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