Frauke Gebhardt

Hilfe für Kinder psychisch und suchterkrankter Eltern

Frauke Gebhardt

Schätzungsweise 2,65 Millionen Kinder und Jugendliche leben mit mindestens einem alkoholkranken Elternteil unter einem Dach, 40.000 bis 60.000 Kinder wachsen in einem Haushalt auf, in dem illegale Drogen konsumiert werden. Und bis zu 150.000 Kinder haben Väter oder Mütter, die glücksspielsüchtig sind.

Was bedeutet ein Leben im Schatten der elterlichen Sucht für den Alltag der Kinder? Er ist gekennzeichnet von ständiger Angst und Unsicherheit sowie einem Mangel an emotionaler Zuwendung und Geborgenheit. Häufig erfahren diese Kinder auch Gewalt, Vernachlässigung und Missbrauch. Die gravierenden Belastungen in der Kindheit haben vielfach lebenslange negative Auswirkungen auf die Gesundheit der Betroffenen sowie auf die schulische Bildung und somit auch auf berufliche Erfolge. Überdies sind Kinder suchtkranker Eltern die größte bekannte Risikogruppe für eine eigene Suchterkrankung und hochanfällig für psychische Erkrankungen und soziale Störungen. Gemessen an der Anzahl der betroffenen Kinder gibt es in Deutschland nur wenig Hilfeangebote. So kommen etwa 15.000 Kinder auf jedes der rund 120 bis 200 existierenden Angebote. Die Hilfelandschaft ist zudem von starken regionalen Unterschieden gekennzeichnet.

Um die Situation der Kinder und Jugendlichen aus psychisch und suchtbelasteten Familien zu verbessern, wurde 2014 ein Prozess angestoßen, woraus 2019 insgesamt 19 Empfehlungen hervorgingen. Nun sind zweieinhalb Jahre vergangen, da stellen sich die Fragen „Wo stehen wir jetzt? Und wo wollen und müssen wir noch hin?“

Einige der Empfehlungen wurden bereits umgesetzt oder mit ihrer Umsetzung wurde begonnen. Aber es fehlen an verschiedenen Stellen noch konkrete Aufträge, um notwendige rechtliche Anpassungen sowohl auf Bundesebene als auch in den Bundesländern durchzusetzen, die Vernetzung voranzutreiben und in der Praxis anwendbare Finanzierungswege zu finden. Ebenso offen ist die Ausgestaltung der bereits umgesetzten Empfehlungen, denn erst in der Anwendung wird sich zeigen, ob die Hilfen wirklich vor Ort bei den Betroffenen ankommen.

Der Weg vom Antrag zum Auftrag

Die Einsetzung der „Arbeitsgruppe Kinder psychisch- und suchtkranker Eltern“ (KpkE) war ein Meilenstein. Wie kam es dazu?

2014 schlossen sich 19 Fachverbände zusammen und stellten beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie dem Bundesministerium für Gesundheit einen Antrag auf die Einrichtung einer Sachverständigenkommission zum Thema „Hilfen für Kinder und Familien mit psychisch kranken Eltern“. Diesem Antrag folgten zahlreiche Gespräche mit Politikern und Anhörungen in verschiedenen Ausschüssen, bis schließlich im Juni 2017 mit der einstimmigen Verabschiedung eines interfraktionellen Entschließungsantrages der Fraktionen CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/DIE GRÜNEN das erste große Ziel erreicht wurde.

In dem Antrag forderte der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf, eine zeitlich befristete interdisziplinäre Arbeitsgruppe einzurichten, welche einvernehmlich Vorschläge erarbeiten sollte, um die Situation von Kindern und Jugendlichen aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil psychisch erkrankt ist, zu verbessern. Es sollten Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten sowie rechtliche Rahmenbedingungen geklärt und Handlungsbedarfe zu den vorgegebenen Untersuchungsschwerpunkten identifiziert werden. Weiterhin wurden Aufklärungsmaßnahmen für die Bevölkerung, betroffene Kinder und Familien sowie Fachleute wie Ärzt:innen, Lehrer:innen und weitere Schnittstellenakteur:innen beschlossen. Zudem wurde festgelegt, dass das Thema in der Aus- und Weiterbildung von Professionen, die an der Versorgung von Kindern und deren psychisch erkrankten Eltern beteiligt sind, verankert werden soll.

Im März 2018 tagte die Arbeitsgruppe unter Federführung des Familienministeriums mit Beteiligung des Bundesministeriums für Gesundheit, des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, der Drogenbeauftragten der Bundesregierung sowie 29 Verbänden, Fachgesellschaften und Interessensvereinigungen, sieben Wissenschaftler:innen und zwei Moderatoren zum ersten Mal. Nach vier weiteren Sitzungen, drei Fachgesprächen sowie drei umfangreichen Expertisen (Recht, Forschung und Gute Praxis), in denen die Ist-Situation erfasst wurde, konnten dem Deutschen Bundestag im Dezember 2019 insgesamt 19 Empfehlungen zur Verbesserung der Situation von Kindern und Jugendlichen aus psychisch und suchtbelasteten Familien vorgelegt werden.

Sieben Empfehlungen (Empfehlung 1 bis 6 und 19) zielen auf eine Verbesserung in den Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe. Weitere sieben Empfehlungen (Empfehlung 7 bis 12) beziehen sich auf die Verbesserung der präventiven Leistungen für Kinder und Jugendliche in Hinblick auf die Umsetzung des Präventionsgesetzes. Die verbleibenden sechs Empfehlungen dienen der verbesserten Zusammenarbeit und stärkeren Verzahnung der Hilfen an den Schnittstellen Suchthilfe, Jugendhilfe und Gesundheitswesen (Empfehlung 13 bis 18).

Nach der Abschlussveranstaltung im März 2020 hofften die Expert:innen, durchstarten zu können, doch dann kam die Corona-Pandemie und verschärfte sowohl die Lage der Kinder und Jugendlichen als auch die Situation der Hilfeangebote, bremste den frischen Schwung aus und lenkte den politischen Fokus auf andere Themen.

Von den Empfehlungen zur Umsetzung – Wo stehen wir heute?

Die 19 Empfehlungen lassen sich vier inhaltlich sehr weit reichenden Kernthesen unterordnen, welche die Ziele zusammenfassen, die zur Verbesserung der Situation von Kindern und Jugendlichen aus psychisch und suchtbelasteten Familien erreicht werden müssen:

  • Kernthese I
    Die Leistungen sind sowohl individuell als auch am Bedarf der Familie ausgerichtet flächendeckend auf- und auszubauen und für die betroffenen Kinder über alle Altersgruppen hinweg und ihre Eltern zugänglich zu machen.
  • Kernthese II
    Präventive Leistungen sollten für Kinder und Jugendliche aller Altersgruppen sowie für deren Familien zugänglich sein.
  • Kernthese III
    Um komplexen Bedarfslagen eines oder mehrerer Familienmitglieder gerecht zu werden, müssen die bestehenden Hilfs- und Unterstützungsangebote besser ineinandergreifen.
  • Kernthese IV
    In den örtlichen und regionalen Netzwerken müssen Lotsen die Zugänge zu (weiteren) Hilfen und jeweils bedarfsgerechten Unterstützungsmaßnahmen an den Schnittstellen unterschiedlicher Leistungssysteme erleichtern.

Trotz der neuen Herausforderungen und Einschränkungen, welche die Pandemie mit sich brachte, blieb das Engagement vieler Akteur:innen, die sich für das Wohl der Kinder aus psychisch und suchtbelasteten Familien einsetzen, weiterhin groß. Deshalb konnten Empfehlungen teilweise schon umgesetzt oder mit ihrer Umsetzung konnte begonnen werden.

Kernthese I

Im Rahmen der Kernthese I wird unter anderem empfohlen eine flexible, kontinuierliche und bedarfsgerechte Alltagsunterstützung als Leistung der Kinder- und Jugendhilfe mit einem einklagbaren Rechtsanspruch einzuführen (Empfehlung 1). Der ursprünglich als § 28a SGB VIII vorgeschlagene Gesetzestext wurde im Rahmen der Novellierung des SGB VIII an den § 20 SGB VIII angedockt und stärkt nun den Anspruch der Eltern auf Unterstützung bei der Betreuung des im Haushalt lebenden Kindes. Die fachliche Feststellung von Bedarf und Eignung der Hilfe kann durch die Beratungsstelle erfolgen. Weil nun kein Antrag beim Jugendamt mehr gestellt werden muss, ist der Zugang zum Beratungsangebot deutlich leichter möglich.

Außerdem empfehlen die Expert:innen der Arbeitsgruppe, die Möglichkeit der Kombination mehrerer Hilfen auszubauen, um das bessere Ineinandergreifen voranzutreiben (Empfehlung 1), einen unmittelbaren und flexiblen Zugang zu Angeboten zu gestalten (Empfehlung 2) sowie die Bedarfsgerechtigkeit und die Qualität von Hilfeangeboten mit niedrigschwelligen Hilfezugängen durch entsprechende Maßnahmen zu sichern (Empfehlung 4). Diese Empfehlungen wurden ebenfalls im neuen Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) berücksichtigt. Allerdings gibt es noch viele offene Fragen zur Umsetzung, der Finanzierung und der Gestaltung des Übergangs. Eine ausführliche Stellungnahme zu Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen des § 20 SGB VIII für die Erziehungsberatung wurde im Mai 2022 von der Landesarbeitsgemeinschaft für Erziehungsberatung Bayern e.V. veröffentlicht.

Die Empfehlung 3 legt die Sicherstellung flexiblerer Hilfen nahe, die an dem Bedarf der Familie im Einzelfall ausgerichtet sind. In der Hilfeart wird noch häufig das vorherrschende Bild der „Einversorger-Familie“ zugrunde gelegt. Das muss aufgebrochen und an die Lebensverhältnisse der Familien angepasst werden. Wünschenswert wäre, dass hier die Flexibilität weitergedacht wird – nicht nur bezogen auf die Familienverhältnisse, sondern auch auf die Erkrankungen.

Weiterhin sieht die Arbeitsgemeinschaft großen Handlungsbedarf beim Anspruch auf Beratung von Kindern und Jugendlichen ohne Kenntnis ihrer Eltern (Empfehlung 5). Dies ist besonders relevant, wenn Eltern ihre Krankheit nicht einsehen oder sie noch nicht bereit sind, Unterstützung für ihre Kinder anzunehmen. Bisher hatten Kinder und Jugendliche in diesen Fällen zwar das Recht auf Beratung, allerdings nur, wenn eine Not- und Konfliktlage vorlag, welche in einem ersten Beratungskontext nicht unbedingt offensichtlich ist. Mit dem neuen SGB VIII ist 2021 zumindest die gesetzliche Grundlage geschaffen worden, dass Kinder und Jugendliche auch ohne Not- und Konfliktlage und ohne das Wissen und die Einwilligung der Eltern beraten werden dürfen. Dass dann tatsächlich Kinder den Zugang in die Beratungsstelle finden und wie niedrigschwellig dieser sein kann, sind Herausforderungen für die Praxis.

In Empfehlung 6 werden der „Ausbau und die Förderung einer bundesweit öffentlichkeitswirksam präsentierten, wissenschaftlich evaluierten und umfassend barrierefreien Online-Plattform“ für Kinder und Jugendliche gefordert. Diese soll die Suche nach wohnortnahen Hilfen durch eine Postleitzahlenrecherche vereinfachen.

Es gibt bereits zwei erfahrene Anbieter, die Schritte zu einer Umsetzung der Empfehlung 6 gegangen sind. Sowohl KidKit, das Hilfesystem der Kölner Drogenhilfe (www.kidkit.de), als auch NACOA Deutschland e.V. (www.nacoa.de) halten seit 2003 bzw. seit 2014 Online-Plattformen vor, auf denen sich Betroffene anonym Rat suchen können. KidKit richtet sich an Kinder, Jugendliche und junge Erwachsenen zwischen zehn und 21 Jahren und bietet Hilfe zu den Themen Sucht, (sexualisierte) Gewalt und psychische Erkrankungen in der Familie. Bei NACOA Deutschland e.V. liegt der Schwerpunkt auf der Online- und Telefonberatung für Kinder, Jugendliche, junge Erwachsenen, Angehörige und Fachkräfte zu den Themen Sucht und Traumatisierung in der Familie. Mittels Recherche über Postleitzahlen bzw. digitale Landkarten können sich Betroffene auch eingeständig wohnortnahe Beratung suchen.

Durch ihre unterschiedlichen Arbeitsschwerpunkte ergänzen sich die beiden Angebote. In einer gemeinsamen Initiative streben KidKit und NACOA Deutschland e.V. an, sich zusammenzuschließen und ihre bereits etablierten Angebote im Verbund ausbauen.

Dies ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Um die Strukturen für die Kinder, Jugendliche, Familien und Fachkräfte nachhaltig zu verbessern und die Empfehlung 6 vollständig und qualitätsgesichert umzusetzen, ist es essenziell, dass entsprechende Angebote nicht nur projektfinanziert existieren, sondern in eine Regelfinanzierung überführt werden. Gerade niedrigschwellige Hilfen für (hochtraumatisierte) Kinder und Jugendliche aus stark belasteten Familien dürfen nicht nach Abschluss eines Projektzeitraums wegbrechen oder wegzubrechen drohen, sondern müssen dauerhaft verankert werden und somit eine verlässliche Adresse in der Hilfelandschaft sein.

Für Fachkräfte hat NACOA Deutschland im Auftrag des Bundesfamilienministeriums eine Kommunikationsplattform geschaffen, die es ihnen kostenfrei ermöglicht, sich praxisnah über verschiedene Probleme und Herausforderungen auszutauschen, eigene Angebote dazustellen, geplante Veranstaltungen zu bewerben sowie Studien und Fachinformationen abzurufen: https://coakom.de/

Kernthese II

Die Empfehlungen unter der Kernthese II beziehen sich auf den Bereich der Prävention. Obwohl auch primärpräventive Angebote von Trägern der freien Kinder- und Jugendhilfe sowie der Suchthilfe und der Gesundheitsförderung einen wesentlichen Beitrag zum gesunden Aufwachsen der Kinder und Jugendlichen aus psychisch und suchtbelasteten Familien leisten, geht es bei diesen Empfehlungen in erster Linie um die Leistungen der Krankenkassen nach SGB V.

In der Empfehlung 7 der AG KpkE heißt es, dass die Leistungen der Krankenkassen für Kinder und Jugendliche aus suchtbelasteten oder psychisch belasteten Familien an deren spezifischen Bedarfen ausgerichtet werden sollen und dass die Anzahl der entsprechenden Aktivitäten sowie der erreichten Personen gesteigert werden sollen. Aufgrund der Corona-Pandemie lässt sich anhand der verfügbaren Daten aus dem Präventionsbericht 2021 nicht einschätzen, ob die Ziele der Empfehlung erreicht wurden. Jedoch lässt sich an der Anzahl der gestellten Anträge zur Förderung von vulnerablen Zielgruppen im Rahmen des GKV-Bündnisses für Gesundheit ein hoher Bedarf seitens der Kommunen ablesen.

In Bezug auf das Förderprogramm des GKV-Bündnisses für Gesundheit (ein Zusammenschluss aller Krankenkassen und ihrer Verbände; die Antragsfristen sind mittlerweile abgelaufen) empfahl die Arbeitsgruppe, dass der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen und die BZgA gemeinsam mit den Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden darauf hinwirken, dass Kommunen das Förderprogramm auch in Anspruch nehmen (Empfehlung 8). Anfang 2019, also bereits bevor die Empfehlungen veröffentlicht waren, bewarb der GKV-Spitzenverband den Start des Förderprogramms mit verschiedenen öffentlichkeitswirksamen Maßnahmen. Aufgrund des komplexen Antragsstellungsprozesses gab es seitens der Nutzer:innen zahlreiche Rückmeldungen und Verbesserungsvorschläge hinsichtlich der Programmorganisation und der Finanzierungslogik. Diese werden in einer externen Evaluation erfasst und fließen in einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess ein. Insgesamt erhalten laut GKV-Spitzenverband mittlerweile 25 Kommunen, die den Schwerpunkt ihres Projektes auf die Zielgruppe Kinder und Jugendliche aus psychisch bzw. suchtbelasteten Familien legen, eine Förderung durch das GKV-Bündnis für Gesundheit.

Parallel dazu soll gemeinsam mit Akteure:innen aus Kinder- und Jugendhilfe, Suchthilfe und dem Gesundheitswesen ein Qualitätsentwicklungsprozess auf Bundes- und Landesebene angestoßen werden. Dieser soll auch ermitteln, wie der Zugang zu (Gruppen-)Programmen in den Kommunen erleichtert werden kann (Empfehlung 8). Der Prozess wird gegenwärtig auf Bundesebene angegangen, die Länderebene müsste in einem weiteren Schritt noch folgen. Hierfür wurde bereits mit dem Handlungsrahmen für eine Beteiligung der Krankenkassen im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention eine Grundlage geschaffen. Ein Bestandteil des GKV-Handlungsrahmens ist eine Handreichung für die GKV auf Landesebene, in welcher auch die relevanten Handlungsfelder für eine Beteiligung der GKV, einschließlich des in der Empfehlung 8 geforderten Zugangs zu (Gruppen-)Programmen, aufgeführt werden. Wie es in der Praxis tatsächlich flächendeckend gelingt, die bestehenden Projekte aus dem Modus der Projektförderung in den Modus der Regelfinanzierung zu überführen, bleibt jedoch offen. Denn das Bestreben, das Thema Kinder psychisch und suchtbelasteter Eltern in die Präventionsstrategie einzubringen, orientiert sich an den Ergebnissen der Nationalen Präventionskonferenz (NPK), welche erst 2027 finalisiert werden sollen. Bis sich die Strukturen vor Ort ändern und die Hilfe bei den psychisch und suchtbelasteten Familien ankommt, werden wohl noch einige Jahre vergehen.

Die Träger der nationalen Präventionskonferenz wurden im Rahmen der Empfehlungen aufgerufen, die Zielgruppe Kinder von psychisch und suchtkranken Eltern und deren Familien stärker in den Blick zu nehmen. Das Ziel ist, eine gemeinsame Strategie der Länder, Kommunen, Krankenkassen und Jugendhilfeträger zu Hilfenetzwerken und Gruppenangeboten (Empfehlung 9) zu entwickeln. Im Rahmen des Dialogprozesses brachten Träger und Verbände ihre Positionen und die aus ihrer Sicht erforderlichen Änderungen ein. Ende 2020 beschloss die NPK, die nationale Präventionsstrategie stärker gesamtgesellschaftlich und politikfeldübergreifend auszurichten. Dafür wurden zwei Themen festgelegt, darunter das Thema „Psychische Gesundheit im familiären Kontext“. Eine Gruppe von Verbänden erreichte, dass auch ein Workshop zum Thema Kinder psychisch kranker Eltern durchgeführt werden konnte. Daraus entstand eine Synopse zu Änderungen im SGB V, bezogen auf die psychiatrische Versorgung und Kinder psychisch kranker Eltern, die im Frühjahr 2022 an die Aktion Psychisch Kranke (APK) sowie an Gesundheitspolitiker versendet wurde. Bis heute warten die Verbände gespannt darauf, ob und wie die Änderungsvorschläge angenommen und umgesetzt werden können.

Die in Empfehlung 10 von der Arbeitsgruppe geforderte Förderung von abgestimmten, koordinierten und vernetzten Vorgehensweisen durch die Sozialversicherungsträger bezieht sich in der Praxis auf die Abstimmungen auf der Landesebene in den Gremien der Landesrahmenvereinbarung. Hier steht die Umsetzung in allen Bundesländern noch am Anfang. Daher wurden auch die Empfehlung 11 „Anpassung und Erweiterung der Landesrahmenvereinbarungen im Sinne der Empfehlung 9“ und die Empfehlung 12 „Weiterentwicklung und Umsetzung der Regelungen und Verfahrensweisen in der Prävention auf Grundlage des Präventionsberichtes“ bisher nicht realisiert.

Die Empfehlung 13 schlägt eine gesetzliche Klarstellung im SGB V vor, welche die wechselseitige Transparenz zu den Leistungen zwischen GKV und den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe sicherstellen soll. Diese gesetzliche Anpassung ist mittlerweile erfolgt, wenngleich sie in der Praxis noch keine große Rolle spielen dürfte.

Kernthese III

Die Empfehlungen unter der Kernthese III zielen auf ein besseres Ineinandergreifen der Hilfs- und Unterstützungsangebote, um den komplexen Bedarfslagen eines oder mehrerer Familienmitglieder gerecht zu werden. Die in Empfehlung 14 geforderte Überwindung der Schnittstellen zwischen Kinder- und Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe, z. B. durch die stärkere Nutzung der Gesamtplankonferenz, ist bereits im Gesetz verankert. Allerdings ist unklar, inwieweit die Praxis die Bestärkung der bestehenden Gesetze durch die Empfehlungen wahrnimmt. Auch die rechtliche und finanzielle Absicherung der Kooperation zwischen Kinder- und Jugendhilfe und dem Gesundheitswesen (Empfehlungen 15 und 16) wurde angegangen, jedoch nicht in dem Umfang, den die Expert:innen der Arbeitsgruppe empfehlen, sondern lediglich in Bezug auf die Finanzierung von niedergelassenen Ärzt:innen, die im Rahmen der Gefährdungseinschätzung des Kindeswohls eingesetzt werden (§ 73 c SGB V). Ein guter erster Schritt in die richtige Richtung, der aber noch Luft nach oben lässt, denn wichtige Grundlagen und nächste Umsetzungsschritte fehlen noch. Bis heute sind daher am individuellen Bedarf orientierte, sozialgesetzbuchübergreifende, familienorientierte Hilfen nicht strukturell verortet und kommen bei den Betroffenen auch nicht an.

Über die in der Empfehlung 17a geforderten Komplexleistungen wird nach wie vor diskutiert. Das Medizinsystem sieht diese ausschließlich innerhalb des SGB V, die AG KpkE meint in ihren Empfehlungen jedoch SGB-übergreifende Komplexleistungen, die den Fokus der bisher vorwiegend individuenzentrierten Behandlung auf das gesamte Familiensystem erweitern. Für die betroffenen Familien ist es äußert mühsam, die verschiedenen Hilfesysteme zu verstehen und die für sie notwendigen Hilfen eigenständig einzufordern. SGB-übergreifende Komplexleistungen würden dies erleichtern und gleichzeitig die Bindungsqualität, die Erziehungskompetenz und die Resilienz von Kindern und Eltern fördern. Und auch für die Fachkräfte in den unterschiedlichen Bereichen würden SGB-übergreifende Komplexleistungen die interdisziplinäre Zusammenarbeit maßgeblich erleichtern, das Entstehen von interdisziplinären Einrichtungen und Diensten für Eltern und ihre Kinder fördern (Empfehlung 17b) und das Nebeneinander-Existieren der Leistungssysteme verhindern.

Doch bisher ist noch vieles unklar. Es müssen rechtliche Anpassungen in verschiedenen Sozialgesetzbüchern vorgenommen werden, und es braucht eine Regelung der Fallzuständigkeit sowie eine abgestimmte koordinierte Vermittlung zwischen den Systemen. Am wichtigsten scheint aber momentan die Frage: Wer erteilt den rechtlichen Auftrag zur Flexibilisierung der Unterstützung? Im Koalitionsvertrag ist die Hilfe für Kinder psychisch und suchtkranker Eltern im Bereich Familie verortet, im Bereich Gesundheit fehlt dadurch ein klarer Auftrag. Für ein solches Vorhaben (Empfehlungen 17a und b) müssen sich allerdings alle Hilfesysteme, in denen sich die Familien bewegen, an einen Tisch setzen.

Weiterhin empfiehlt die Arbeitsgruppe, dass die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern, den Kommunen und den Sozialversicherungsträgern einen Handlungsrahmen für ein kommunales Gesamtkonzept zur Entwicklung, Umsetzung, Evaluation und Verstetigung multiprofessioneller, qualitätsgesicherter und rechtskreisübergreifender Hilfesysteme erstellt (Empfehlung 18). Dies wurde kommunal und in einzelnen Bundesländern bereits aufgegriffen, ein bundespolitischer Auftrag fehlt jedoch noch. Nach Kenntnisstand von NACOA Deutschland e.V. gibt es allerdings gerade politische Bestrebungen, die Umsetzung der Empfehlungen 6 und 18 voranzutreiben, was wir sehr begrüßen. Die kommentierte Übersicht „Modelle guter Praxis für kommunale Gesamtkonzepte zur Verbesserung der Unterstützung von Kindern psychisch und suchterkrankter Eltern“ sowie die Handreichung „Kommunale Gesamtkonzepte zur Verbesserung der Unterstützung von Kindern psychisch und suchterkrankter Eltern“ des Instituts für Sozialpädagogische Forschung Mainz bilden dafür eine wertvolle Grundlage.

Kernthese IV

Die letzte Empfehlung (Nr.19) regt die Klarstellung an, dass Hilfe zur Erziehung auch die Unterstützung an den Schnittstellen zu anderen Leistungssystemen umfasst, wenn deren Leistungen erforderlich sind. Die ab 2024 bis 2028 geplanten Verfahrenslotsen (nach § 10b SGB VIII) sind eine Möglichkeit der Umsetzung dieser Empfehlung im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz. Sie sollen sowohl eine unabhängige Unterstützung und Begleitung bei der Antragstellung, Verfolgung und Wahrnehmung der Leistungen der Eingliederungshilfe für Eltern von Kindern mit Behinderung bieten als auch Unterstützung des Jugendamtes bei der Zusammenführung der Leistungen der Eingliederungshilfe. Wie die Umsetzung gelingt und ob die Hilfen auch bei Kindern aus suchtbelasteten Familien ankommen, bleibt zum jetzigen Zeitpunkt noch offen.

Ausblick

Alles in allem wird deutlich, dass bereits einige der Empfehlungen aufgegriffen bzw. umgesetzt wurden. Dennoch ist noch viel zu tun: Konkrete Aufträge müssen auf bundes- und landespolitischer Ebene ausgesprochen werden, um notwendige rechtliche Anpassungen durchzusetzen und die Vernetzung voranzutreiben. Für die Praxis und gemeinsam mit den Praktiker:innen müssen praktikable Finanzierungswege und zum Teil kreative Umsetzungswege gefunden werden, damit die Hilfen auch wirklich vor Ort bei den Betroffenen ankommen.

Um die noch offenen Ziele und Maßnahmen umzusetzen, bedarf es einer stärkeren systematischen, interdisziplinären und politischen Schwerpunktsetzung auf Bundesebene und vor allem einer interministeriellen Begleitung der einzelnen Implementierungsschritte. Deshalb fordert NACOA Deutschland e.V. gemeinsam mit neun anderen Fachverbänden und Organisationen einen abgestimmten Monitoring- und Evaluationsprozess, der system- und rechtsübergreifend sowie unter Berücksichtigung der Länder- und kommunalen Ebene geplant und umgesetzt werden soll. Dabei darf ein klarer Bezug zur Selbsthilfe nicht vergessen werden.

In Gesprächen mit Politiker:innen, wie z. B. im Rahmen der Podiumsdiskussion zur COA-Aktionswoche 2022, wurde und wird deutlich, dass seitens der Ampel-Koalition weiterhin großes Interesse vorhanden ist, die Situation für suchtbelastete Familien zu verbessern. Durch die Corona-Pandemie, den Cannabis-Legalisierungsprozess, den Ukraine-Krieg und weitere aktuelle Themen, die momentan stark im Vordergrund stehen, ist eine kontinuierlich starke Stimme aus der Fachwelt besonders nötig, um das Thema „Suchtbelastete Familien“ auf der Agenda der Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik zu halten und voranzubringen. Eine eindringliche Empfehlung an alle Fachkräfte, Mitarbeitende an Schnittstellen und Betroffene ist daher: Schließen Sie sich in Netzwerken zusammen, betreiben Sie Lobby- und Advocacyarbeit, sprechen Sie mit Politiker:innen und Entscheidungsträger:innen und werden Sie gemeinsam laut!

Kontakt:

Frauke Gebhardt
NACOA Deutschland – Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien e.V.
Gierkezeile 39
10585 Berlin
gebhardt(at)nacoa.de
https://nacoa.de/

Angaben zur Autorin:

Frauke Gebhardt arbeitet seit August 2020 bei NACOA Deutschland – Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien e.V. Dort leitet sie das Projekt „Bundesweite Vernetzung von Akteuren des Hilfesystems für Kinder suchtkranker Eltern“. Mit diesem Projekt soll aufbauend auf die bestehenden Strukturen ein bundesweites digitales Fachkräfte-Netzwerk geschaffen werden. Des Weiteren ist sie zuständig für Advocacy-Arbeit sowie die COA-Aktionswoche für Kinder aus suchtbelasteten Familien.

Literatur: