Plädoyer für die Psychoanalyse in der Suchttherapie

2021 ist der Sammelband „Kontinuität und Wandel psychodynamischer Suchttherapie“, herausgegeben von Dr. Andreas Dieckmann und Corinna Mäder-Linke, im LIT Verlag, Münster, erschienen. Der Titel wurde bereits auf KONTUREN online in der Rubrik „Neue Bücher“ vorgestellt. Eine ausführliche Besprechung hat nun der Psychoanalytiker und Lehrtherapeut Dr. phil. Wolf-Detlef Rost verfasst, in der er unterstreicht, wie aktuell psychoanalytische Konzepte in der Suchttherapie sind.

Leider ist auch im Bereich der Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen in den vergangenen Jahren die Stimme der Psychoanalyse leise geworden, obwohl gleichzeitig die „Komorbidität“ der Abhängigkeitskranken zum Schlagwort wurde, implizit der alten Erkenntnis der Psychoanalyse folgend, dass die Abhängigkeitserkrankung nur die Spitze des Eisberges ist, meist ein Symptom unter anderen, und tiefer in der „prämorbiden Persönlichkeit“ wurzelt. Auch erlebt man bei Vorträgen und Fortbildungen, etwa in Fachkliniken, immer wieder, dass Suchttherapeuten psychoanalytische Ansätze gerne aufgreifen und in den psychodynamischen Konzepten ihre eigenen Erfahrungen aus der Praxis wiederfinden und tiefergehend reflektieren können. Daher ist es erfreulich, dass Andreas Dieckmann und Corinna Mäder-Linke mit „Kontinuität und Wandel psychodynamischer Suchttherapie“ nun einen Reader publiziert haben, in dem die Aktualität psychoanalytischer Konzepte in der Suchttherapie herausgearbeitet wird, bei Würdigung der historischen Wurzeln und der Einbeziehung neuerer Konzepte, etwa der Bindungstheorie oder der OPD.

Eingeleitet wird der Band dankenswerterweise mit dem Neuabdruck eines leider wenig bekannten, dabei unverändert aktuellen Artikels von Hartmut Spittler: „Psychodynamik und Therapie der Sucht“ aus den achtziger Jahren.

Gerald Abl beleuchtet im Beitrag „Sucht als soziale Erkrankung“ die Alkoholabhängigkeit als eine soziale Erkrankung sowohl im historischen als auch im aktuellen gesellschaftlichen Kontext – insbesondere Armut und Arbeitslosigkeit – und bezüglich der unterschiedlichen Lebensphasen und familiären Zusammenhänge.

Dieckmann und Mäder-Linke erläutern die Entwicklung der Weiterbildung zum analytisch orientierten Suchttherapeuten und seine Fundierung in der psychoanalytisch-interaktionellen Methode und dem christlichen Menschenbild.

Mit der Stigmatisierung von Abhängigkeitskranken bzw. der mangelnden Toleranz ihnen gegenüber befasst sich Darius Chahmoradi Tabatabai. Leider sind Abhängigkeitskranke auch heute noch eine beliebte Projektionsfläche für Phantasien von „Haltlosigkeit“ und „Genusssucht“ – Gegenübertragungsphantasien, die sich auch unter professionellen Helfern finden lassen und dazu beitragen, dass Suchtbehandlungen einer missverstandenen „Ökonomisierung“ zum Opfer fallen könnten.

Norbert Radde befasst sich mit dem zentralen Begriff des Kontrollverlustes, dem Rückfall und den damit verbundenen Schamgefühlen sowie mit der Wiedergewinnung der Kontrolle und der Bedeutung der therapeutischen Beziehung.

Peter Subkowski behandelt die Gender-spezifische Entwicklung in Bezug auf Alkoholabhängigkeit und die therapeutischen Implikationen. In den letzten hundert Jahren hat sich Alkoholabhängigkeit von einer „Männerkrankheit“ zu einem bei beiden Geschlechtern verbreiteten Syndrom entwickelt. Dem müssen auch die einst stark auf Männer zugeschnittenen therapeutischen Konzepte Rechnung tragen.

Nicola Alcaide und Dieckmann beleuchten das Verhältnis zwischen Selbsthilfe und professioneller Therapie, da letztere viel später auf den Plan trat und auf langjährig gewachsene Selbsthilfesysteme traf. Längst sind diese Gegensätze überwunden, und es ist inzwischen anerkannt, dass die Selbsthilfe ein wichtiger Part des Gesundheitssystems ist. Allerdings, darauf weisen die Autoren hin, leidet gerade die Selbsthilfe in jüngerer Zeit unter dem gesellschaftlichen Wandel, bleibt der Nachwuchs weg, und viele Gruppen schrumpfen. Auch die Selbsthilfe wird sich diesem Wandel und auch den sich verändernden abhängigen Verhaltensweisen – der „reine Alkoholabhängige“ scheint unter der zunehmenden Polytoxikomanie eine aussterbende Spezies zu werden – anpassen müssen.

Peter Subkowski (oben schon erwähnt), seit Jahrzehnten als Psychoanalytiker Leiter einer Klinik für die Langzeitentwöhnung von Abhängigkeitskranken, behandelt in einem weiteren Aufsatz die schwierigen Grenzen zwischen „psychischer Gesundheit“ und „Krankheit“. Aus psychoanalytischer Sicht setzt er sich mit aktuellen Konzepten zum „kontrollierten Trinken“ auseinander, hält dabei am Prinzip der „Totalabstinenz“ fest, für Abhängigkeitskranke letztlich der leichter gangbare Weg, der m. E. von den meisten Praktikern der Suchttherapie präferiert wird. Ferner behandelt er in diesem Aufsatz die Chancen und Schwierigkeiten analytischer Suchttherapie angesichts von Persönlichkeitsstörungen und Komobidität bei Abhängigkeitskranken im stationären wie im ambulanten Setting.

Brigitte Boothe befasst sich anhand der Schriften von Freud und Tilman Moser mit dem schwierigen Verhältnis zwischen Psychoanalyse und Religion. Auf der Basis der psychodynamischen Konzepte von Urvertrauen und Bindung sieht sie jedoch eine Gemeinsamkeit zwischen Glauben, Religion und Psychoanalyse, sehen doch alle die Wichtigkeit der vertrauensvollen zwischenmenschlichen Beziehung.

Thorsten Jakobsen zeigt en einem Fallbeispiel die Möglichkeiten der OPD bei Abhängigkeitskranken auf.

In einem kürzeren Aufsatz erläutern Dieckmann und Jakobsen die Entwicklung der Suchtspirale auf psychodynamischem Hintergrund.

In „Beziehungen im Fokus“ stellt Ulrich Streeck klar, dass die gerade in der Suchttherapie so beliebte Diagnose der „Persönlichkeitsstörung“ wenig valide ist. Vielmehr handelt es sich um primäre Beziehungsstörungen und Bindungsstörungen, die zu einem problematischen Beziehungsverhalten im Erwachsenenleben führen. Daher ist die therapeutische Beziehung das wichtigste Instrument der Behandlung, besonders im Prinzip „Antwort“ der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie.

Frank Beckmann und Dieckmann reflektieren aus zeitlichem Abstand heraus aus der Perspektive des Therapeuten und des Patienten die Komplexität der Übertragungs-Gegenübertragungsbeziehung und wie wichtig es ist, den Patienten nicht als ein Objekt, sondern als einen gleichberechtigten Partner zu behandeln.

Im Beitrag „Verlaufsorientierung psychoanalytisch-interaktioneller Arbeit mit Suchtkranken“ reflektiert Dieckmann die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie, ein etwas sperriger Begriff dafür, dass der Mensch ein soziales, ein Beziehungswesen ist und seine primären Beziehungen sein Erleben, sein Verhalten, die innere Struktur prägen, sich in ihr als „Objektrepräsentanzen“ niederschlagen. Daher ist die Objektkonstanz, eine beständige und tragfähige Beziehung, das wichtigste Instrument der Behandlung, viel zu oft vernachlässigt und zentrales Element der Psychoanalyse, die bei aller Annäherung der verschiedenen Verfahren als einziges über eine differenzierte Konzeption der therapeutischen Beziehung verfügt.

Subkowski und Miriam Abram betrachten Kreativität und Kunst auf dem Hintergrund psychoanalytischer Konzepte, besonders der Melanie Kleinschen Theorien. Kreativität schöpft aus frühen Prozessen und Traumata und sucht, diese auszudrücken und zu bewältigen. Ferner liegen Rausch und Kreativität oft dicht beieinander. So ist die Entwicklung künstlerischer Kreativität, hier an einem Fallbeispiel dokumentiert, ein möglicher Ausweg aus der Abhängigkeit, wie auch dieser Rezensent in einigen Aufsätzen Kreativität und Abhängigkeit als zwei Seiten einer Medaille sieht, aus den gleichen Quellen schöpfend, einander aber zumindest zum gleichen Zeitpunkt gegenseitig ausschließend.

Dieckmann behandelt die Probleme im Umgang mit rechtsextremen süchtigen Patienten, deren aggressiv-destruktives Potenzial in ihren extremen politischen Auffassungen gebunden ist. Die Probleme in der Gegenübertragung des Behandlers exemplifiziert er an einem schon beim Lesen als anstrengend erlebten Fall eines alkoholabhängigen Neonazis. Tatsächlich lassen sich besonders bei abstinenten Abhängigkeitskranken recht extreme politische Ansichten finden. Das betrifft nicht nur den Rechtsextremismus, sondern auch Linksextreme (z. B. RAF-Anhänger) oder in jüngerer Zeit Corona-Verschwörungstheoretiker. Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass der Abhängigkeitskranke statt eines „Urvertrauens“ oft durch ein „Ur-Misstrauen“ geprägt ist und sich in der Gesellschaft als ein Außenseiter, als ein Fremder erlebt. Dies kann zu extremen Positionen unterschiedlichster Richtungen führen.

Im letzten Beitrag des Bandes reflektiert Dieckmann das schwierige Verhältnis zwischen Psychoanalyse und Rehabilitation, dem Anspruch der in Deutschland für die Entwöhnungsbehandlung zuständigen Rentenversicherungsträger. Dieckmann sieht eine Chance, die traditionell emanzipatorischen Ansprüche der Psychoanalyse in Einklang zu bringen mit der Forderung nach Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit, und erkennt hier die Notwendigkeit differenzierter Diagnosen etwa über die OPD.

Am Ende dieser Rezension sollte unbedingt noch auf eine Monographie hingewiesen werden, die wie in diesem Band neben psychologischen, insbesondere psychoanalytischen, Konzepten auch philosophische, soziologische und religiöse Konzepte für ein Modell zum Verständnis und zur Therapie von Abhängigkeitserkrankungen einbezieht: das leider wenig bekannte, sehr komplexe Werk „Philosophie der Sucht. Medizinethische Leitlinien für den Umgang mit Abhängigkeitskranken“ von Andreas Bell. Wer dieses Buch sowie den Sammelband von Dieckmann und Mäder-Linke aufmerksam liest, darf von sich behaupten, auf dem aktuellen Stand der keineswegs veralteten psychoanalytischen Theorie und Therapie von Abhängigkeitserkrankungen zu sein. Den Autorinnen und Autoren ist zu danken, dass sich in diesem Band die Stimme der Psychoanalyse eindrücklich zu Wort meldet und deren Aktualität und Wichtigkeit deutlich gemacht wird.

Bibliografische Angaben:
Andreas Dieckmann, Corinna Mäder-Linke (Hg.)
Kontinuität und Wandel psychodynamischer Suchttherapie
Orientierung und Diskurs
LIT Verlag, Münster 2021, 328 Seiten, 34,90 €, ISBN 978-3-643-14696-0

Rezension: Wolf-Detlef Rost, April 2022
Dr. phil. Wolf-Detlef Rost
Psychoanalytiker und Supervisor in freier Praxis, Gießen
https://www.sucht-und-psychoanalyse.de/