Eva Egartner, Beate Zornig-Jelen

Migration und Sucht

Beate Zornig-Jelen

Eva Egartner

In den letzten Jahren kamen viele geflüchtete Menschen nach Deutschland, unter ihnen auch viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF). Dies wirft die Frage auf, ob die Suchthilfe sich auf steigende Zahlen von Hilfesuchenden vorbereiten muss und neue Angebote braucht.

Die Arbeit mit Migrant*innen ist in der Suchthilfe schon seit Jahrzehnten ein wichtiges Thema und bei vielen Trägern fest verankert. Bereits in der Folge des Jugoslawienkrieges und durch den Zuzug vieler Spätaussiedler*innen in den 90er Jahren stellten die Einrichtungen der Suchthilfe viele spezialisierte Angebote für Migrant*innen zur Verfügung. Werden diese ausreichen oder brauchen wir noch mehr und auch andere Angebote aufgrund der aktuellen Zuwanderung?

Suchthilfe und Geflüchtetenhilfe bei Condrobs e.V.

Als einer der größten überkonfessionellen Träger in Bayern bietet Condrobs e.V. sowohl Hilfen für Suchtmittelkonsumierende als auch Hilfen für geflüchtete Menschen an.

Seit der Entstehung des Vereins 1971 wurde die Kernkompetenz, die anfangs in Präventions- und Hilfsmaßnahmen für suchtgefährdete Kinder und Jugendliche lag, ausgebaut und erweitert. Heute umfasst das Spektrum der Suchthilfe bei Condrobs: Beratung, ambulante Therapie und therapeutische Wohngruppen für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit psychosozialen Problemen, spezielle Angebote für suchtmittelkonsumierende Frauen und Männer, Substituierte und ältere Konsument*innen sowie Beratung für Angehörige. In Arbeitsprojekten und Beschäftigungsmaßnahmen in den Kontaktläden sowie in zwei sozialen Betrieben erhalten die Klient*innen die Möglichkeit, durch Arbeit und Ausbildung einen Weg zurück in ein selbstbestimmtes und gesundes Leben zu finden.

Mit sechs schwer traumatisierten männlichen Jugendlichen ging die erste Einrichtung für Geflüchtete auf Anfrage der Landeshauptstadt München im Jahr 2010 an den Start. Mittlerweile werden an sieben Standorten in 26 Einrichtungen rund 330 unbegleitete minderjährige Geflüchtete sowie 450 erwachsene Geflüchtete und ihre 70 Kinder von Condrobs betreut. Untergebracht sind die Jugendlichen in therapeutischen Wohngruppen, im Begleiteten Wohnen, im Betreuten Wohnen sowie in einer Wohngruppe für Mädchen und ihre Kinder. Seit 2015 ist Condrobs (im Rahmen des Paritätischen Kooperationsprojekts zur Flüchtlingshilfe) in zwei Einrichtungen auch an der Betreuung erwachsener Geflüchteter beteiligt, darunter die erste Unterkunft in Bayern für allein angekommene Frauen mit und ohne Kinder. Schwerpunkte in der Betreuung sind spezialisierte Hilfen in kleineren Einheiten für traumatisierte Jugendliche, Frauen, Mädchen und Kinder, aber auch für junge Männer und Familien.

Die im Folgenden dargestellten Erfahrungen und Erkenntnisse beruhen auf sechs Betreuungsjahren (seit 2010). Die Fallzahlen waren anfangs aufgrund der geringen Zahl der Betreuten jedoch nicht repräsentativ. Aufgrund der langjährigen Erfahrung in der Suchhilfe insbesondere mit traumatisierten Jugendlichen wurde bei Condrobs der Bedarf in der Arbeit mit geflüchteten Menschen sehr früh erkannt.

Allgemeine Informationen zu Sucht und Flucht bzw. Migration

Die Flüchtenden

Ein Großteil der Geflüchteten ist männlich. Bei den unbegleiteten Minderjährigen werden oft die stärksten und am besten ausgebildeten männlichen Jugendlichen von der Familie auf die Flucht geschickt. Sie haben die besten Überlebensmöglichkeiten und sollen, wenn die Flucht gelingt, finanzielle Unterstützung ins Herkunftsland senden, Familienmitglieder nachholen oder zumindest das ‚Überleben des Blutes‘ sichern. Auch erwachsene Männer fliehen oft erst einmal alleine, da es für Männer wahrscheinlicher ist, die Flucht zu überleben.

Mädchen und Frauen fliehen in der Regel mit männlichem Begleitschutz. Wenn Mädchen und Frauen alleine fliehen, sind die Gründe neben Krieg und Vertreibung in der Regel massive Gewalterfahrungen in den Herkunftsländern: Verstümmelung der Genitalien, Zwangsverheiratung, Zwangsprostitution und Menschenhandel, sexueller Missbrauch und Demütigungen durch Angehörige, aber auch Staatsbedienstete, zum Beispiel im Rahmen von Verhören und Inhaftierungen oder – als Kriegswaffe – bei Massenvergewaltigungen. Wenn Frauen alleine fliehen, sind sie auf der Flucht wieder in Gefahr, massiver Gewalt ausgesetzt zu sein, z. B. von Schleppern, Piraten, Staatsbediensteten und Sicherheitskräften anderer Länder sowie männlichen Mitflüchtlingen.

Die Herkunftsländer

In den Jahren 2016 und 2017 kamen unter den nach Deutschland geflüchteten Menschen die meisten aus Syrien, Irak, Afghanistan, Eritrea und Iran (Tabelle 1). Die Anteile der Herkunftsländer haben sich 2016 gegenüber 2015 deutlich verändert. Die meisten Menschen kamen zwar nach wie vor aus Syrien, die Zahl derer, die aus Afghanistan kamen, hat sich jedoch mehr als vervierfacht, ähnliche Steigerungsraten wurden für Iran und Irak verzeichnet. Aus Eritrea, Pakistan, Nigeria und aus der Russischen Föderation kamen auch weitaus mehr Flüchtlinge als 2015, jedoch ist hier die Zahl der Erstanträge (= erstmalig gestellte Asylanträge) nicht so hoch. Aus den Zahlen wird deutlich, wie stark politische Entwicklungen und Maßnahmen (z. B. die Entwicklung in der Türkei oder diplomatische, wirtschaftliche und politische Interaktionen und Interventionen der EU-Staaten vor Ort wie beispielsweise in Libyen) den Flüchtlingsstrom nach Deutschland beeinflussen. Die Anzahl der geflüchteten Menschen ist 2017 aufgrund der diversen Interventionen deutlich zurückgegangen, die prozentualen Anteile sind aber – bis auf den Anteil von Migrantinnen und Migranten aus der Türkei, bei denen eine deutliche Zunahme an Erstanträgen zu verzeichnen ist – in etwa gleich geblieben.

Tab. 1: Welche Menschen kommen zu uns? Jahresvergleich der zehn stärksten Herkunftsländer nach Anzahl der Erstanträge. Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF); Asylgeschäftsbericht 12/2017

Der Hilfebedarf

Nach Schätzungen von Dietmar Czycholl (2016) sind von einer Million Geflüchteten ca. 30 bis 60 Prozent traumatisiert, zwischen 40.000 und 80.000 Menschen haben Psychotherapiebedarf. Ungefähr 30.000 Menschen sind bereits substanzabhängig, wenn sie nach Deutschland kommen. 

Laut dem Münchner Institut für Therapieforschung (IFT) handelt es sich bei den meisten Diagnosen um verstärkten Alkoholkonsum, gefolgt von Opioid- und Cannabinoidkonsum. Des Weiteren spielen Stimulanzien sowie pathologisches Glücksspiel eine Rolle (Künzel et al., 2017. S. 11 f.).

Erfahrungen aus den Condrobs-Einrichtungen zum Umgang mit Rauschmitteln 

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge

Ungefähr ein Drittel der ankommenden unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge konsumiert anfangs stark (d. h. regelmäßiger, unter Umständen gesundheitsgefährdender Konsum). Der Schwerpunkt liegt auf dem Konsum von Alkohol, Cannabis, zunehmend auch künstlichen Cannabinoiden und Kokain, überwiegend in Verbindung mit posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS). Mit zunehmender Integration und Teilhabe nimmt der Konsum jedoch deutlich ab. Nach Beendigung therapeutischer und betreuender Maßnahmen bei einer durchschnittlichen Verweildauer von 22 Monaten war bis 2016 bei über 90 Prozent der Klientel in Condrobs-Einrichtungen kein bzw. ein unauffälliger Konsum zu verzeichnen.

Aktuell zeigt sich leider in vielen Einrichtungen eine negative Entwicklung. Circa 40 Prozent der Jugendlichen konsumieren nach längerem Aufenthalt stark, d. h. die Anzahl der Konsument*innen steigt während des Aufenthalts. Gründe hierfür sind vor allem der ungewisse Aufenthaltsstatus sowie der Umstand, dass in diesen Fällen keine Ausbildungs- und/oder Arbeitsmöglichkeit besteht, so dass die jungen Menschen zum Nichtstun verdammt sind.

Es gibt viele weitere Gründe für Suchtmittelkonsum, und diese sind vielfältig: Trennungen, Traumatisierungen und die dadurch verursachten Schlafstörungen und Selbstmedikationen, eine unsichere Zukunftsperspektive, wiederkehrende oder chronische Existenzangst, strukturelle Überforderung im Lebensalltag, unsichere soziale Bindungen und Beziehungen, Unsicherheit und Angst. Auch die Integration in ein fremdes Normen- und Wertesystem und ein anderer Umgang mit Rauschmitteln in den Herkunftsländern begünstigen den Konsum. Zum Beispiel ist Cannabiskonsum in vielen westafrikanischen Ländern üblich und gehört zur Kultur.

Hinzu kommen häufig Langeweile, mangelnde Tagesstruktur, unerfüllte Erwartungen und Versprechen, Identitätssuche zwischen den Kulturen, unklare Erwartungshaltungen Dritter und Schuldgefühle Angehörigen gegenüber. Ein großes Problem bilden durchwegs Sprachbarrieren und der fehlende Zugang zu ausreichend kulturspezifischen Übersetzerinnen und Übersetzern. Bei Jugendlichen kommen diese Probleme erschwerend zu den normalen Entwicklungsaufgaben hinzu.

Eine besondere Rolle spielt bei geflüchteten Jugendlichen ein Schuldempfinden: Während die Familie weiter im Krieg leben muss, sind sie angekommen, in Sicherheit, finden Perspektiven. Gleichzeitig erwarten die Angehörigen, mit Geld unterstützt oder nachgeholt zu werden. Diese Erwartungen können oft nicht erfüllt werden. Unter Umständen wird die Versorgung der Angehörigen in der Heimat zum Problem. Die Folge können Kleinkriminalität, Dealen und Suchtmittelkonsum sein. Der Einfluss durch Landsleute und die gezielte Anwerbung für Kleinhandel lassen die Jugendlichen oft unsicher werden. Die Verlockung, mehr Geld für das Leben im Westen, für Frauen, zu haben, ist stark.

Hinzu kommen außerdem die von Czycholl (2016 u. 2017) beschriebenen generellen Belastungen der Migration. Der anfänglichen Euphorie über die gelungene Flucht folgt die „Dekompensationsphase“, wenn die Realität die geflüchteten Menschen einholt und ernüchtert

Erwachsene Geflüchtete

Die Erfahrungen in der Arbeit mit erwachsenen Geflüchteten werden bei Condrobs seit 2016/2017 erfasst. Hier waren die Fallzahlen von Anfang an repräsentativ. 

Anfangs konsumiert auch in dieser Gruppe ungefähr ein Drittel der Betreuten stark, vor allem Alkohol und Cannabis, aber auch Opiate. Bei Frauen spielen Medikamente häufig eine Rolle. Auch bei der Gruppe der erwachsenen Geflüchteten ist eine Zunahme des Konsums während des Aufenthalts zu beobachten. Mindestens 50 Prozent aller Klient*innen werden gemäß ihrem Konsumverhalten als suchtgefährdet eingestuft.

Bei erwachsenen Geflüchteten sind die Hintergründe für Suchtmittelkonsum ähnlich wie bei den Jugendlichen, aber nicht gleich: Manche kommen bereits süchtig an, viele, aktuell mindestens 50 Prozent, sind suchtgefährdet. Circa 70 Prozent der Klient*innen haben eine diagnostizierte PTBS. Die Unterbringungssituation und die Tagesstrukturierung sind deutlich schwieriger als bei Jugendlichen, die im Moment noch nach dem deutschen Sozialgesetzbuch (SGB) VIII versorgt werden. Zum Beispiel gelten in München in den Unterkünften Betreuungsschlüssel von 1:100 für Erwachsene und 1:30 für Kinder. Diese Betreuungsschlüssel sind besser als die bayernweit gültigen – das bayerische Staatsministerium refinanziert nur Betreuungsschlüssel von 1:150 und in den geplanten Ankerzentren in Zukunft vermutlich noch schlechtere Schlüssel. Der Mehraufwand in München wird durch die Landeshauptstadt selbst bezahlt. Dennoch sind die Betreuungsschlüssel bei Weitem nicht ausreichend. Zudem sind Erwachsene und ihre Kinder in Gemeinschaftsunterkünften in der Regel in Mehrbettzimmern untergebracht. Mangelnde Privatsphäre und mangelnde Ruhe auch nachts führen häufig zu Belastungsreaktionen, vor allem zu Schlafstörungen, die wiederum mit Selbstmedikation beantwortet werden.

Wie bei den Jugendlichen verstärken eine mangelnde Integration in Arbeit und daraus resultierende Langeweile, mangelnde Möglichkeiten zur Teilhabe sowie mangelnde Sprachkenntnisse die Negativspirale. Bei erwachsenen Geflüchteten spielt auch eine Rolle, dass viele von ihnen nur geduldet sind oder sich in offenen Verfahren befinden oder dass Abschiebungen bevorstehen. Auch anerkannte Asylbewerber*innen sind häufig gezwungen, weiter in Unterkünften leben, weil Wohnraum nicht vorhanden oder nicht erschwinglich ist. Oft gestaltet sich der Familiennachzug schwierig, und Perspektivlosigkeit und Resignation nehmen zu.

Geflüchtete Frauen

Laut UNO-Flüchtlingskommissariat (UNHCR 2016) sind weltweit über die Hälfte aller Geflüchteten Frauen und Mädchen, die vor Krieg, Gewalt, Terror oder Verfolgung fliehen – aber auch vor Zwangsheirat, genitaler Verstümmelung oder Vergewaltigung (wie oben schon erwähnt). Frauenspezifische Gründe für Suchtmittelkonsum sind daher geschlechtstypische, multiple Traumatisierungen. Auch nach der Flucht sowie in den großen Gemeinschaftsunterkünften sind Frauen und Mädchen besonderen Gefährdungen ausgesetzt. Oft werden sie Opfer sexueller Gewalt durch Sicherheitspersonal oder andere männliche Geflüchtete. Hinzu kommen Konflikte durch unterschiedliche Anforderungen, beispielsweise die Erziehung von Kindern, oder enttäuschte Erwartungen, die nicht selten aufgrund falscher Versprechungen entstehen. Die seelischen Konflikte äußern sich häufig als körperliche Symptome in einem völlig anderen Krankheitsbild. Diese Somatisierung verhindert dann eine frühzeitige Behandlung der psychosozialen Belastung, da das eigentliche Krankheitsbild nicht erkannt bzw. fehlinterpretiert wird.

Wie geflüchtete Männer auch, können geflüchtete Frauen über ihre psychischen Probleme in der Regel nicht sprechen. In den Herkunftsländern sind psychische Erkrankungen tabuisiert, und es gibt keine Begrifflichkeiten und kein Verständnis hierfür. Oft sind somatische Beschwerden ein Ventil. Die somatischen Beschwerden können von den Frauen benannt werden, und mit diesen können sie auch medizinische Hilfe einfordern. Häufig bekommen sie dann Medikamente verschrieben, von Schlafmitteln bis zu Psychopharmaka, und diese konsumieren sie regelmäßig und in hohen Dosen. Durchaus werden verschreibungspflichtige Medikamente auch unter der Hand weitergegeben oder verkauft und mehrere Ärztinnen und Ärzte konsultiert, um hohe Dosen erlangen zu können. 

Methoden und Lösungsansätze auf Basis der Erfahrungen 

In den letzten Jahren ist die Zahl der Hilfesuchenden mit Fluchthintergrund in der Suchthilfe gestiegen. Die zentrale Beratungsstelle von Condrobs in München verzeichnete 2016 im Vergleich zum Vorjahr eine Zunahme um knapp 60 Prozent bei Migrant*innen, die aus den Ländern Afghanistan, Irak, Somalia und Tunesien kamen (Tabelle 2). Auch 2017 blieb der Anteil dieser Menschen hoch. Obwohl die Leistungen von Beratungsstellen offiziell erst nach einer Aufenthaltsdauer von 15 Monaten oder mit geklärtem Status in Anspruch genommen werden dürfen, werden Beratungen in Einzelfällen geduldet.

Tab. 2: Staatsangehörigkeit der Klient*innen in einer Suchtberatungsstelle. Quelle: Condrobs, 2017

Neben weiteren Beratungsgesprächen besteht bei geklärtem Aufenthaltsstatus und ausreichend guten Deutschkenntnissen die Möglichkeit zur Vermittlung in Einrichtungen der Eingliederungshilfe sowie zur Beantragung von stationärer und ambulanter Rehabilitation. In Notfällen kann eine Entgiftung mittels Klinikeinweisung erfolgen.

Die Erfahrungen in der Suchthilfe zeigen, dass von den Klient*innen mit Migrationshintergrund (inklusive Angehörige) 2016 und 2017 jeweils ein größerer Anteil den Kontakt zur Beratungsstelle vorzeitig beendet als von den Klient*innen ohne Migrationshintergrund. Gleichzeitig beenden von den Klient*innen mit Migrationshintergrund deutlich mehr eine ambulante Rehabilitation regulär als von den Klient*innen ohne Migrationshintergrund (2016: 80,0 Prozent vs. 41,4 Prozent; siehe Abbildungen 1a und 1b). Die Zahlen belegen somit, dass Suchthilfe erfolgreich ist, wenn die Anbindung gelingt.

Abb. 1a) Beispiel Beratungsstelle: Beendigungen/Erfolge 2017, Klient*innen mit Migrationshintergrund. Quelle: Condrobs 2017

Abb. 1b) Beispiel Beratungsstelle: Beendigungen/Erfolge 2017, Klient*innen ohne Migrationshintergrund. Quelle: Condrobs 2017

Verstehen und Verständnis

Die Sprachbarriere stellt das größte Hindernis für erfolgreiche Suchthilfe dar. In den ersten 15 Monaten und bei unsicherem Status findet die Beratung vorwiegend mit Dolmetscher*innen statt. Eine große Rolle spielt der Faktor Zeit. Bereits die Anbahnung von Beratungsgesprächen braucht mehr Zeit: Wie sind die Deutschkenntnisse der/des Hilfesuchenden? Muss eine Dolmetscherin/ein Dolmetscher hinzugezogen werden? Die Verständigung muss in jedem Fall sichergestellt werden.

Wichtig sind des Weiteren ein freundlicher Empfang und vor allem Offenheit, damit sich niemand abgewiesen vorkommt. Die Berater*innen lassen die Klient*innen ankommen, nehmen ihre Bedürfnisse wahr und schaffen eine Atmosphäre des Vertrauens. Viel Zeit gehört neben Verständnis zu den wichtigsten Faktoren. Smalltalk spielt in vielen der Kulturen, aus denen die Geflüchteten kommen, eine wichtige Rolle. Oft werden die eigentlichen Probleme erst angesprochen, wenn sehr lange über vieles andere gesprochen wurde und es dabei gelungen ist, ein erstes Vertrauensverhältnis zu schaffen.

Kultursensibles Arbeiten

Interkulturelle Suchthilfe muss viele Aspekte beachten: die Kultur und die politische Situation im Herkunftsland, der Umgang mit den Geschlechtern, mit Hierarchien und mit Religion, das Stadt-Land-Gefälle, das Kommunikationsverhalten und vieles mehr.

Geflüchtete haben oft keine Vorstellung von Institutionen in unserer Gesellschaft und können unsere Hilfeeinrichtungen somit nicht einordnen. Sind sie staatlich oder privat? Sind sie kirchlich und verfolgen einen bestimmten Zweck? Die Skepsis ist groß, und dementsprechend sind auch hier Zeit und Geduld gefragt, um Vertrauen aufzubauen.

In vielen Ländern zählt das Kollektiv mehr als das Individuum – es kommt eher auf die Harmonie des Ganzen an, und die/der Einzelne muss ihre/seine Bedürfnisse denen der Allgemeinheit unterordnen. Somit ist es schwierig für Einzelne, über ihre individuellen Probleme zu sprechen. Auch die Sprachformen sind oft sehr anders, es wird von „man“ und „wir“ gesprochen, auch wenn jemand sich selbst meint. Der Begriff der Ehre hat in manchen Kulturkreisen eine sehr differenzierte Bedeutung. Eine ‚Ehrverletzung‘ kann vor allem für Männer als sehr schlimm empfunden werden, teilweise schlimmer als der Tod. Auch kommt es oft vor, dass Familienmitglieder und Freunde sich für die Ehre eines Mitglieds/Freundes mitverantwortlich fühlen und diese im Zweifel auch verteidigen, selbst wenn sie sich dadurch persönlich in Gefahr bringen.

Kultursensible Arbeit knüpft an die Ressourcen der Migrant*innen an, nicht an ihre Defizite (Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, 2005). In Krisen müssen die Menschen gehalten – nicht entlassen – werden. Eine professionelle Herangehensweise in der Begegnung mit Geflüchteten ist absolut notwendig. Persönliche Haltung, soziale Kompetenzen sowie Strategien, um Sprachbarrieren zu überwinden und Informationslücken zu schließen, sind grundlegende Voraussetzungen, um eine interkulturelle Verständigung zu schaffen. Fachkräfte sollten über Methodenvielfalt verfügen, um mit Migrant*innen nicht nur über Sprache, sondern zum Beispiel auch über gestalterische, körperbetonte oder kunsttherapeutische Methoden kommunizieren zu können.

Die Fachkräfte müssen gut begleitet werden durch Fallbesprechungen und regelmäßige Supervision. Um qualitativ hochwertige Grundlagen für die Arbeit mit Geflüchteten zu entwickeln, ist ein professionelles Programm zur Fort- und Weiterbildung der Asylsozial- und Migrationsberater*innen unabdingbar. Eine enge und verlässliche Kooperation mit Fachärzten, Kliniken und anderen Hilfeeinrichtungen schafft ein Netzwerk der Unterstützung über die Grenzen und Möglichkeiten der einzelnen Beratungsstelle oder Einrichtung hinaus.

Eingliederungsmaßnahmen von Anfang an

Die Erfahrungen der Condrobs-Einrichtungen zeigen, dass der Konsum von Suchtmitteln mit fortschreitender, gelingender Integration und Teilhabe abnimmt. Je besser die Integration gelingt und je schneller Integration und Teilhabe ermöglicht werden, desto weniger Sucht- und auch andere Komplikationen sind bei den Migrant*innen zu erwarten. Daher sind umfassende Eingliederungsmaßnahmen und frühe Hilfen bereits bei der Ankunft im neuen Land wichtig, um eine Suchtentwicklung zu verhindern.

Die Realität sieht anders aus: Erst für Leistungsberechtigte, die sich mindestens 15 Monate im Bundesgebiet aufhalten, gelten die Regelungen des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) in Bezug auf Eingliederungsleistungen. Flüchtlinge, die noch nicht so lange in Deutschland sind, erhalten dagegen nur bei akuten Erkrankungen oder Schmerzzuständen Hilfe. Dies führt zu vielen Problemen, denn Psychotherapien für traumatisierte Flüchtlinge und Suchthilfeleistungen werden verweigert, da sie nicht als akute Erkrankung gelten.

Fazit

Geflüchtete kommen bereits an in den Einrichtungen der Suchthilfe. Die Zahl der Traumatisierungen in den Condrobs-Einrichtungen ist höher als erwartet, der Suchtmittelkonsum war ursprünglich so hoch wie erwartet, mittlerweile ist er jedoch höher wegen teilweise schwieriger Perspektiven, Behandlungsbarrieren, Sprachbarrieren, mangelnder Integration sowie mangelnder Traumabehandlungs- und Psychotherapiemöglichkeiten.

Aus den Erfahrungen in den Condrobs-Einrichtungen lassen sich folgende Forderungen ableiten, um den Unterstützungsbedarf geflüchteter Menschen in Bezug auf ihre psychische Gesundheit abzudecken:

  1. Geflüchteten Menschen bzw. Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sollen vom Zeitpunkt ihrer Ankunft an Eingliederungsleistungen gemäß §§ 53 ff. SGB XII in Verbindung mit SGB IX offenstehen.
  1. Der Bedarf an Suchthilfeleistungen im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe gemäß SGB VIII für Geflüchtete ist hoch. Diese Leistungen müssen von Beginn an gewährt werden.
  1. Es müssen genügend spezialisierte Hilfen für Menschen mit Fluchthintergrund zur Verfügung gestellt werden, insbesondere Traumatherapie-Angebote. Traumata müssen als akute Gesundheitsprobleme anerkannt werden.
  1. Beschäftigte in Unterstützungssystemen müssen Menschen mit Flucht- oder Migrationshintergrund umfassend beraten und unterstützen können, damit diese die geeigneten Hilfen in Anspruch nehmen können.
  1. Gesundheitsbezogene Hilfeangebote inklusive der Suchthilfe brauchen Zugang zu ausreichend kulturspezifischen Dolmetscherinnen und Dolmetschern.
  1. Beschäftigte in Unterstützungssystemen müssen vor allem im Hinblick auf die Ausnahmen, die das Asylbewerberleistungsgesetz oder kommunale Bestimmungen zulassen, umfassend geschult werden. Nur so können sie geflüchtete Menschen optimal unterstützen. Zudem brauchen die Beschäftigten und die Ehrenamtlichen Hintergrundwissen zum Umgang mit Krankheiten, Traumata und Suchtmitteln in den jeweiligen Herkunftsländern, um einschätzen zu können, wie hoch der Hilfebedarf ist und welche Art von Hilfe die richtige ist.
  1. In Bezug auf Geflüchtete und Suchtmittelkonsum sind spezielle Präventionsangebote wichtig. Frühe Hilfen sind wichtig, um eine Chronifizierung zu vermeiden.

Die Mitarbeitenden in der Suchthilfe müssen sich darauf einstellen, dass der Anteil der Menschen mit Fluchthintergrund steigen wird. Daher werden Therapeut*innen mit entsprechenden Sprachkenntnissen oder Behandlungsmöglichkeiten unter Einbezug von Dolmetscher*innen sowie traumatherapeutisch ausgebildetes Personal und weiteres interkulturelles Know-how dringend benötigt. Zudem ist Suchthilfe mit Geflüchteten zeitintensiver. Sie ist nicht einfach zusätzlich zu bewältigen.

Wichtig sind eine schnelle Integration und Teilhabe – je besser die Integration gelingt, umso weniger Sucht- und auch andere Probleme sind zu erwarten. 

Kontakt:

Eva Egartner
Condrobs e.V.
Heßstraße 134
80797 München
eva.egartner@condrobs.de 

Angaben zu den Autorinnen:

Eva Egartner ist Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin und Supervisorin DGSv. Sie ist Geschäftsführende Vorsitzende des Condrobs e.V., München.
Beate Zornig-Jelen ist Kommunikationswissenschaftlerin M.A.

Literatur:
  • Ameskamp, D., Kuhlmann, T., Leicht, A., Meyer-Thompson, H.-G., Quellhorst, S., Tretter, F., Wessel, T.: Flüchtlinge und (Opioid-)Abhängigkeit. Die Hürden zur Behandlung, Text anlässlich des Treffens zum Thema „Flüchtlinge in Deutschland – eine Herausforderung auch für die Sucht- und Drogenpolitik?“, Berlin, München, Bergisch-Gladbach, Hamburg, 22. Juni 2016
  • Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, Berlin 2005
  • Czycholl, D.: Flucht und Migration – Zahlen, Fakten und Gedanken, Vortrag, 25. Paritätisches Fachgespräch Suchthilfe des fdr, Fachverband Drogen- und Suchthilfe e.V., Berlin 2016, S. 23-40
  • Czycholl, D.: Integration heißt Erneuerung: Beiträge zu Migration und Sucht, Pabst Science Publishers, Lengerich 2017
  • Ethno-Medizinisches Zentrum e.V. (Hrsg.): Gewaltschutz für Frauen in Deutschland – Ratgeber für geflüchtete Frauen, Migrantinnen und Jugendliche, Hannover 2016
  • Europäisches Parlament: Bericht über die Lage weiblicher Flüchtlinge und Asylsuchender in der EU (2015/2325(INI)), Berichterstatterin: Mary Honeyball, 10.02.2016
  • European Parliament, Policy Department C: Reception of female refugees and asylum seekers in the EU, Case study Germany, Study for the Femm Committee, 2016
  • Kimil, A., Salman, R.: Migration und Sucht, in: Hegemann, T., Salman, R., Handbuch Transkulturelle Psychiatrie, Psychiatrie-Verlag, Bonn 2010, S. 368-382
  • Künzel, J., Steppan, M., Pfeiffer-Gerschel, T.: Klienten mit Migrationshintergrund in ambulanter und stationärer Suchtbehandlung, Kurzbericht Nr.1/2013, Deutsche Suchthilfestatistik 2011, IFT Institut für Therapieforschung, München 2013
  • Künzel, J., Specht, S., Dauber, H., Braun, B.: Die Klientel mit Migrationshintergrund in ambulanter und stationärer Suchtbehandlung. Kurzbericht Nr.1/2018 – Ergänzung zum Jahresbericht der Deutschen Suchthilfestatistik 2016 (Thaller et al., 2017), München 2017
  • Michels, I. I.: Migration und Sucht – was sind die gegenwärtigen Herausforderungen für die Sucht- und Dogenpolitik?, www.suchthilfe.koeln/download/psag_ak/Migration_und_Sucht_-_Herausforderung_der_Suchthilfe_Februar_2016.pdf, Februar 2016
  • Salman, R.: Gesunde Integration: Interkulturelle Suchthilfe als Beitrag zur Integration, Tagungstext (Institut Suchtprävention, Linz), 2008
  • Salman R., Tuna. S., Lessing, A. (Hrsg.): Handbuch interkulturelle Suchthilfe. Modelle, Konzepte und Ansätze der Prävention, Beratung und Therapie, Psychosozial Verlag, Gießen 1999
  • Sánchez Dionis, M., Timar, M., Domscheit-Berg, A.: Geflüchtete Frauen und Mädchen vor Gewalt schützen, World Future Council, 2016
  • Thaller, R., Specht, S., Künzel, J., Braun, B.: Suchthilfe in Deutschland, Jahresbericht der deutschen Suchthilfestatistik (DSHS), IFT Institut für Therapieforschung, München 2017
  • Tretter, F., Arnold, M.: Dokumentation BAS e.V. Workshop Suchtprobleme bei Flüchtlingen, München, 03.03.2016, Bayerische Akademie für Suchtfragen e.V., München 2016
  • UNHCR, Global Report 2016