Guido Weyers, Daniel Zeis

Wie beurteilen Nutzer:innen digitale Formate in der Suchtberatung?

Die Digitalisierung ist auch im Jahr 2023 ein vorherrschendes Thema und bedeutet nichts weniger als eine Transformation der Gesellschaft. Die Corona-Pandemie führte in vielen Bereichen der Arbeitswelt zu signifikanten Veränderungen und wurde zum Beschleuniger der Digitalisierung, so auch im Bereich der Suchtberatung. Neben vermehrten Telefongesprächen wurden von den Suchtberatungsstellen digitale Alternativen zur Kontaktaufnahme geschaffen, um es Nutzer:innen flexibler zu ermöglichen, Beratungs-, Rehabilitations- und Nachsorgeangebote wahrzunehmen. Zu diesem Spektrum gehörten E-Mail- und Chatberatung sowie Videosprechstunden im Einzel- und Gruppensetting. Diese Zugangswege werden im Folgenden als Onlineberatung bezeichnet.

Vor der Pandemie fanden beispielsweise in der AWO-Suchtberatungsstelle Potsdam circa 99 Prozent der Kontakte in Präsenz, das heißt vor Ort, statt. Dieser Schwerpunkt hat sich durch die Pandemie und die fortschreitende Digitalisierung deutlich verschoben. Der Anteil der Onlineberatung hat unverkennbar zugenommen und lag zwischenzeitlich bei rund 25 Prozent (Auswertung der Terminarten aus der Benutzersoftware Patfak).

Umso erstaunter reagierte die gesamte ambulante Suchthilfelandschaft auf den Widerruf der Deutschen Rentenversicherung (DRV) im Sommer 2022. Seit 1.7.2022 dürfen keinerlei Leistungen der Onlineberatung (inkl. Telefon) im Bereich der Sucht-Nachsorge und Rehabilitation mehr abgerechnet werden, obwohl mit der Anlage 3 zum Rahmenkonzept zur Nachsorge nach medizinischer Rehabilitation bereits seit 2017 die Anforderungen zumindest an „Tele-Reha-Nachsorge“ seitens der DRV beschrieben sind und in der Pandemiezeit Ausnahmen geschaffen worden waren. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) reagierte mit einem Protestschreiben, welches bis heute ohne Konsequenzen geblieben ist. Dabei liegen die möglichen Anwendungsszenarien der Onlineberatung samt ihren Vorteilen auf der Hand:

  • Onlineberatung anstelle eines Gesprächs vor Ort bietet sich an, wenn z. B. aufgrund von (unvorhergesehenen) Ereignissen die Suchtberatungsstelle von Nutzer:innen nicht zur vereinbarten Zeit erreicht werden kann (Kinderbetreuung, Stau, Krankheit, Ängste etc.).
  • Onlineberatung zusätzlich zu erfolgten Gesprächen kann genutzt werden für die Zusendung und Besprechung von Unterlagen, die an die Inhalte von Einzel-, Bezugspersonen- oder Gruppengesprächen anknüpfen.
  • Onlineberatung im Rahmen von Kriseninterventionen und Rückfällen bietet die Möglichkeit einer Sofort-Hilfe.
  • Mit Onlineberatung nach Abwesenheit in Gruppen (Schichtarbeit, Krankheit, Urlaub etc.) können den Nutzer:innen über Tele-Leistungen die vermittelten Inhalte nachgereicht werden.

Nutzer:innen-Befragung zur Akzeptanz der Onlineberatung

Um die Akzeptanz der Onlineberatung in unserer Suchtberatungsstelle, der AWO-Suchtberatungsstelle Potsdam, zu messen, führten wir im Frühjahr 2022 eine Befragung durch. Sie diente dem Zweck, eine Vorstellung bzw. einen Eindruck davon zu bekommen, welche Resonanz unsere digitalen Leistungen (Chat, E-Mail, Videokonferenzen im Einzel- und Gruppensetting) bei den Nutzer:innen hervorrufen. Die Stichprobe ist annähernd repräsentativ für unsere Nutzer:innengruppe an unseren Standorten in Potsdam (Großstadt) und Potsdam-Mittelmark (achtgrößter Flächenlandkreis in Deutschland von insgesamt 294). Die Nutzer:innen nehmen verschiedene Leistungen aus den Bereichen Beratung, Behandlung und Nachsorge wahr.

Die Anzahl der ausgegebenen Fragebögen betrug 100. Die Rücklaufquote lag bei 75 Prozent, davon waren 65 gültige Fragebögen.

Ergebnisse

Bezüglich der Einzelkontakte bevorzugen rund 37 Prozent unserer Nutzer:innen ausschließlich Termine vor Ort. Für weitere 31 Prozent wären gelegentliche virtuelle Kontakte annehmbar. Rund zwölf Prozent haben keine Präferenz, für sie sind beide Formen gleichsam annehmbar. Hinzu kommt: Der Anteil derjenigen, die eine Onlineberatung dem Gespräch vor Ort vorziehen, ist ebenfalls deutlich zu quantifizieren: Für rund 20 Prozent ist diese Form der Beratung überwiegend mit Vorteilen verbunden bzw. bevorzugen sie sogar primär Onlineberatung. Anders ausgedrückt: Ein gutes Drittel der Befragten lehnt die Onlineberatung im Einzelsetting ab. Knapp zwei Drittel möchten gelegentlich oder vorzugsweise die Onlineberatung als alternative Kontaktmöglichkeit an- und wahrnehmen.

Bezüglich der Gruppenkontakte favorisieren gut 48 Prozent unserer Nutzer:innen ausschließlich Termine vor Ort. Für 28 Prozent wären gelegentliche virtuelle Kontakte machbar und in Ordnung. Circa neun Prozent haben keine Präferenz, für sie sind beide Formen gleichsam annehmbar. Hinzu kommt: Der Anteil derjenigen, die eine Onlineberatung dem Gespräch vor Ort vorziehen, ist ebenfalls deutlich zu quantifizieren: Für 15 Prozent der Befragten ist diese Form der Beratung auch im Gruppenkontext überwiegend mit Vorteilen verbunden bzw. bevorzugen sie sogar primär Onlineberatung. Anders ausgedrückt: Rund die Hälfte der Befragten lehnt die Onlineberatung in Gruppenform ab. Die andere Hälfte möchte gelegentlich oder vorzugsweise die Onlineberatung als alternative Kontaktmöglichkeit an- und wahrnehmen.

Diskussion

Man kann die Ergebnisse der Befragung so interpretieren, dass die überwiegende Anzahl der Befragten (knapp zwei Drittel im Einzelsetting und gut die Hälfte im Gruppensetting) einer Onlineberatung durchaus positiv und aufgeschlossen gegenübersteht. Es gibt allerdings einen festen Kern von Personen, welcher ausschließlich persönliche Kontakte vor Ort bevorzugt (ein gutes Drittel im Einzelsetting, etwa die Hälfte im Gruppensetting). Diese Verteilung zeigte sich schon zu Beginn der Pandemie. Im ersten Lockdown von März bis Mai 2020 ließen sich rund die Hälfte bis zwei Drittel der damaligen Nutzer:innen zumindest zeitweise auf Formen der Onlineberatung ein.

In den Einzelkontakten ist die Bereitschaft zur Wahrnehmung von Onlineberatung insgesamt größer als im Gruppenkontext. Dies war auch so zu erwarten, da es aus unserer Sicht und Erfahrung immer wieder erhebliche technische Probleme bei Videokonferenzen mit Gruppen gab (sowohl auf Anwender- als auch auf Anbieterseite). Hinzu kommt, dass Nutzer:innen wiederholt betonten, dass bei Videokonferenzen die nonverbale Kommunikation in der Gruppe doch wesentlich stärker leide als im Einzelkontakt und es auch gewisse Vorbehalte gebe, sich im digitalen Raum anderen gegenüber zu öffnen.

Demzufolge sollten Videokonferenzen mit Gruppen eher die Ausnahme bleiben bzw. ist hierfür angemessen gute Technik vorzuhalten (sog. Konferenzeulen, leicht bedienbare Software, ausreichende Rechenleistungskapazität auf Anbieterseite etc.). Die geltenden Gruppenregeln sind für den digitalen Raum anzupassen (Netiquette, Datenschutzinformation etc.), um die Bereitschaft zur Teilnahme durch eine verlässliche Struktur zu erhöhen.

Der Einsatz von Onlineberatung hat bereits jetzt direkten Einfluss auf die Wahrnehmung von Terminen. Studien zeigen, dass die Haltequote bei der Teilnahme an Beratungsangeboten durch einen flexiblen Einsatz digitaler Technik erhöht wird. Wo Nutzer:innen Termine vorher abgesagt haben (Verspätung, Krankheit, Tagesform etc.), können kurzfristig Formen der Onlineberatung angeboten werden. Die Compliance und Adhärenz erhöhen sich, es kommt weniger zu Kontaktabbrüchen oder längeren Unterbrechungszeiten. Dies haben wir auch in unserem Arbeitsalltag deutlich feststellen können.

Fazit

Onlineberatung bietet sich im Bereich der Suchtberatung sehr gut dafür an, die unterschiedlichen Bedarfe von Nutzer:innen zufriedenstellend zu decken und auf Veränderungen im Nutzerverhalten agil zu reagieren. Sie sollte als eine Bereicherung und Ergänzung betrachtet werden. Mit der von der DRV beauftragten Studie CoVAZuR liegen mittlerweile erste Eckdaten und Ergebnisse vor, die unter anderem telefonische bzw. digitale Angebote als ergänzendes Angebot über die Pandemie hinaus für die Sucht-Nachsorge und Sucht-Rehabilitation empfehlen. Die Leistungsträger sollten daher schnellstmöglich den Rahmen von Onlineberatung (inkl. Telefon) beschreiben und entsprechende Leistungen ermöglichen, so wie es seit Jahren im Bereich der Medizin und Psychotherapie bereits üblich ist.

Die genauen Auswertungsdaten der Befragung werden auf Anfrage gerne zur Verfügung gestellt. Kontakt: suchtberatungsstelle@awo-potsdam.de

Text: Guido Weyers & Daniel Zeis, AWO – Ambulante Beratungs- und Behandlungsstelle für Suchtkranke und Suchtgefährdete, Potsdam, Januar 2023