Studie zur Verschreibung von Medikamenten mit Abhängigkeitspotential

Das Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg (ZIS) und das Universitätsklinikum Hamburg, Eppendorf, Klinik für Psychiatrie, haben die Verschreibung von Medikamenten mit erwiesenem Abhängigkeitspotential und von Antidepressiva untersucht. Dabei gingen die Forscher folgenden Fragen nach: Wie oft und in welchen Dosierungen werden diese Medikamente über lange Zeiträume hinweg verordnet? Verändert sich im Laufe der Zeit die Häufigkeit der Langzeitverordnungen? Welche Patientengruppen sind anfällig für Medikamentenmissbrauch oder ‑abhängigkeit? Orientieren sich Ärztinnen und Ärzte bei der Verschreibung der Medikamente an den Empfehlungen der gängigen Leitlinien?

Der Ergebnisbericht des Projektes „ProMeKa – Ausmaß und Trends der problematischen Medikation von Benzodiazepinen, Z-Substanzen, Opioid-Analgetika und Antidepressiva bei Kassenpatienten“, das durch den Innovationsausschuss beim Gemeinsamen Bundesausschuss gefördert wurde, liegt nun vor und kann auf der Website des Innovationsausschusses heruntergeladen werden.

Aus dem Bericht:

1. Zusammenfassung

1.1 Hintergrund

In Deutschland sind 1,4 bis 2,3 Millionen Menschen von Medikamenten abhängig. Beim weit überwiegenden Teil sind Benzodiazepine [BZD] bzw. Z-Substanzen [ZS] oder Opioid-Analgetika [OA] beteiligt. Probleme mit BZD/ZS finden sich insbesondere in den höheren Alterskohorten, wobei ein erheblicher Anteil dieser Personen diese Medikamente in geringen Dosen über viele Jahre einnimmt. Bei OA stellen insbesondere Patientinnen und Patienten mit chronischen Schmerzen eine Risikogruppe dar. Allerdings werden diese Medikamente auch von (jüngeren) Personen missbräuchlich konsumiert, um euphorische Rauschzustände zu erzielen. Laut Arzneiverordnungsreport sind die verschriebenen Tagesdosen von Antidepressiva [AD] in den zurückliegenden Jahren stetig gestiegen. Gleiches gilt für die Prävalenz der Einnahme dieser Medikamente. Zu den Ursachen des als epidemisch zu bezeichnenden Gebrauchs von Antidepressiva liegen bisher keine belastbaren Befunde vor.

1.2 Methodik

Auf Basis der Daten des Norddeutschen Apothekenrechenzentrums (NARZ/AVN), welches eine Abdeckungsquote von über 80 Prozent aller Apotheken in Norddeutschland erreicht, werden die auf Kassenrezepten dokumentierten Verschreibungen von BZD, ZS, OA und AD personenbezogen ausgewertet. Es werden die Prävalenz des Gebrauchs sowie der Langzeiteinnahme dieser Medikamente in der Bevölkerung bestimmt und Befunde zu spezifischen Risikogruppen dargestellt

1.3 Ergebnisse

Die Prävalenz der Einnahme von (kassenärztlich verschriebenen) BZD und ZS nimmt zwischen 2011 und 2015 stetig leicht ab. Auch hinsichtlich der durchschnittlichen Dauer der Einnahme und der eingenommenen Wirkstoffmenge ist eine Verringerung erkennbar. Frauen nehmen anteilsbezogen diese beiden Medikamente deutlich häufiger ein als Männer. Die Dauer der Einnahme wie auch die Wirkstoffmenge ist bei den älteren Patientinnen und Patienten am höchsten. Gleichzeitig zeigt sich für diese Patientengruppe eine überdurchschnittliche Reduktion von Einnahmedauer und -menge. 2015 erhielt jeweils nahezu ein Fünftel der Personen, die mit BZD bzw. ZS behandelt wurden, diese Medikamente (mindestens) ganzjährig. Der Anteil an Patientinnen und Patienten mit leitliniengerechten Verschreibungen (unter zwei Monaten) von BZD oder ZS ist aber im zeitlichen Verlauf steigend. Problematische Verschreibungsmuster, die auf Missbrauch oder Abhängigkeit deuten, gehen dementsprechend zurück (2011: 30,0 Prozent; 2015: 27,1 Prozent). Ein Teil der Patientinnen und Patienten praktiziert so genanntes Ärztehopping, d. h., sie lassen sich innerhalb eines Beobachtungsjahres von mindestens drei verschiedenen Ärzten Medikamente mit dem jeweils zu untersuchenden Wirkstoff verschreiben. Mit Blick auf die BZD-/ZS-Patienten lässt sich ein solches Verhalten insbesondere bei der Hochrisikogruppe (>6 Monate Dauer & >1 DDD/pro Tag) feststellen.

Die Zahl der Personen, die zwischen 2011 bis 2016 ein OA verschrieben bekamen, steigt leicht an (2011: 4,5 Prozent; 2016: 4,9 Prozent). Die Prävalenz erhöht sich mit dem Alter der Patientinnen und Patienten stetig. Bei den Älteren ist sowohl die mittlere Einnahmedauer als auch die eingenommene Wirkstoffmenge erhöht. Im Fünf-Jahres-Verlauf sind diesbezüglich nur geringfügige Veränderungen festzustellen. Die überwiegende Mehrzahl der Erstverordnungen von OA an Nicht-Tumorschmerzpatienten geht auf die schwächer wirkenden Medikamente der WHO-Stufe II zurück. Bemerkenswert ist, dass ein Fünftel der Schmerzpatienten ihre Behandlung mit einem stark wirksamen Stufe-III-Medikament beginnen. „Ärztehopping“ war bzgl. der OA insbesondere unter den Langzeiteinnehmern mit Tagesdosen von mehr als 1 DDD zu finden.

Die Prävalenz der Patientinnen und Patienten, die AD verschrieben bekommen haben, steigt zwischen 2011 und 2012 von 7,5 Prozent auf 8,0 Prozent an und stagniert in den nachfolgenden Jahren bei 8,0 Prozent. Etwas mehr als doppelt so viele Frauen wie Männer erhielten in dem untersuchten Zeitraum AD. Auch bezüglich dieses Medikamentes zeigt sich ein bedeutsamer Zusammenhang zwischen Prävalenz und Alter. Die durchschnittliche Einnahmedauer sowie die eingenommene Wirkstoffmenge nehmen seit 2012 stetig zu.

1.4 Diskussion

Hinsichtlich des immer noch häufig vorzufindenden Langzeitgebrauchs von BZD bedarf es weiterer Aufklärung – insbesondere der älteren Patientinnen und Patienten – hinsichtlich der Risiken und alternativer Behandlungsformen sowie Schulungen des Personals in medizinischen und geriatrischen Einrichtungen. Mit Blick auf die vorliegenden Studienergebnisse zu den OA lässt sich festhalten, dass ein epidemischer Gebrauch in Deutschland aktuell nicht zu erkennen ist. Aufmerken lässt dennoch die Zunahme der OA-Langzeitverschreibungen. Während solche langen Behandlungszeiträume bei Tumorpatienten in der Regel notwendig sein dürften, besteht nur bei wenigen anderen Erkrankungen eine Indikation für Behandlungen, die über ein halbes Jahr hinausgehen. Bzgl. der AD konnte die Annahme, dass die Steigerungen der Prävalenz und der Dosis z. T. durch eine Substitutionsfunktion der AD (als Ersatz für Schlaf-/Beruhigungs- oder Schmerzmittel) erklärbar seien, mittels der durchgeführten Analysen nicht bestätigt werden. Somit bleibt weiterhin unklar, worauf diese Zuwächse zurückzuführen sind.

Redaktion KONTUREN, 08.07.2020