Schützen statt strafen: Die Drogenpolitik von morgen muss heute beginnen

Das Bundeskriminalamt (BKA) und die Drogenbeauftragte der Bundesregierung haben gerade selbst darauf hingewiesen: Drogenhandel nimmt in Deutschland seit Jahren zu, das BKA registriert immer mehr Delikte. Polizei und Justiz können Drogenkonsum offenbar nicht aufhalten. In der Pressemitteilung vom 08.09.2020 zum „Bundeslagebild Rauschgiftkriminalität 2019“ lautete das Fazit sinngemäß dennoch: Weiter so.

Fachleute aus Wissenschaft und Drogenhilfe widersprechen: Es ist Zeit für neue Wege. Die Drogenpolitik von morgen muss heute beginnen. Das ist die zentrale Aussage des 7. Alternativen Drogen- und Suchtberichts. Die Herausgeber, der akzept Bundesverband und die Deutsche Aidshilfe, haben ihn am 7. Oktober in Berlin vorgestellt. Sie nannten dabei drei zentrale Neuerungen, die die hohe Zahl der Todesfälle durch legale und illegale Drogen senken, schädliche Folgen von Abhängigkeit reduzieren und gesellschaftliche und volkswirtschaftliche Folgekosten drastisch reduzieren könnten:

  • Ansätze der so genannten „Schadensminimierung“ beim Drogenkonsum müssen überall verfügbar sein und auch bei Tabak und Alkohol angeboten werden.
  • Die staatlich regulierte Abgabe von bisher illegalen Substanzen kann kriminellen Drogenhandel reduzieren, Menschen vor den Gefahren der Illegalität bewahren und Jugend- und Verbraucherschutz ermöglichen.
  • Eine effiziente Drogenpolitik würde rasch gelingen, wenn die Bundesregierung Kompetenz in einem drogenpolitischen Fachbeirat zusammenführen würde.

Dazu erklärt Prof. Dr. Heino Stöver, Vorstandsvorsitzender des akzept Bundesverbandes und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Suchtforschung an der Frankfurt University of Applied Sciences: „Die Politik der Strafverfolgung ist nur noch ein schädlicher Kampf gegen Windmühlen. Betroffene werden marginalisiert statt unterstützt – oft mit tödlichem Ausgang. Die Drogenpolitik von morgen agiert menschlicher und geschickter: Sie minimiert gesundheitliche Risiken beim Konsum und entzieht kriminellen Strukturen durch regulierte Abgabe von Substanzen die Basis. Eine zeitgemäße Drogenpolitik folgt der Devise: Schützen statt strafen!“

Neue Strategien auch bei Tabak und Alkohol

Strategien der „Schadensminimierung“ sind bei illegalen Substanzen sehr erfolgreich. Drogenkonsumräume retten jährlich hunderte Leben. Die Vergabe sauberer Spritzen hat die Zahl der HIV- und Hepatitis-Infektionen enorm gesenkt. Hilfreich sind auch Informationen über weniger riskante Konsumformen. Dank solcher Maßnahmen rauchen zum Beispiel heute mehr Konsument*innen ihre Drogen, statt sie zu spritzen. Derartige Angebote erreichen auch Menschen, die ihren Konsum nicht einstellen wollen oder können. Von diesen Erfolgen gilt es zu lernen: Bei Alltagsdrogen zielen Aufklärung und Therapie bisher meist darauf, dass Abhängige ganz aufhören.

Prof. Stöver betont: „Abstinenz ist nicht alles! Neben der klassischen Prävention müssen wir auch bei Alkohol und Tabak Alternativen anbieten. Die E-Zigarette könnte vielen Menschen das Leben retten, denn sie ist weniger schädlich als die Verbrennung von Tabak. Wir brauchen auch mehr Maßnahmen zum kontrollierten Trinken.“

Schäden vorbeugen – für alle!

Zugleich muss die Politik bestehende Angebote allen Menschen zugänglich machen. In der Hälfte der Bundesländer gibt es keine Drogenkonsumräume. In Gefängnissen sind keine sauberen Spritzen verfügbar. Für Substanzen wie Amphetamine und Kokain, die in der Mitte der Gesellschaft konsumiert werden, sind dringend Drug-Checking-Angebote erforderlich, zum Beispiel vor Ort im Nachtleben. Dabei werden Stoffe auf ihren Wirkstoffgehalt und schädliche Beimengungen untersucht – in Kombination mit einem Beratungsangebot.

Holger Wicht, Sprecher der Deutschen Aidshilfe, sagt: „Deutschland war bei den Maßnahmen der Schadensminderung einmal Vorreiter, ist aber auf halbem Wege stehen geblieben. Die Drogenpolitik hat nicht Schritt gehalten mit aktuellen Entwicklungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen. Was Leben rettet, darf nicht ungenutzt bleiben. Wir brauchen jetzt einen Innovationsschub – im Bund und in den Ländern. Wir können viel mehr Menschen erreichen!“

Auch bei der Substitutionstherapie ist noch viel Luft nach oben. akzept, die Deutsche Aidshilfe und der Selbsthilfeverband JES haben das Ziel von 100.000 Substituierten im Jahr 2022 ausgerufen. Das wären 20.000 mehr als bisher und etwa 60 Prozent der knapp 170.000 Opioidabhängigen in Deutschland. Nachbarländer wie Frankreich kommen bei der Versorgung mit der medizinischen Standardtherapie schon heute auf über 80 Prozent.

Aus der Corona-Krise lernen

Der Zuwachs wird möglich durch veränderte Regularien, die Substitution einfacher und attraktiver machen. Erleichterungen bei Zugang und Versorgung aus der Corona-Zeit gilt es zu erhalten und auszubauen. Um eine Überfüllung von Praxen und Ambulanzen während der Pandemie zu vermeiden und persönliche Begegnungen zu reduzieren, gab es eine Reihe von Veränderungen. So dürfen jetzt zum Beispiel auch Drogenhilfeeinrichtungen und Apotheken die Medikamente vergeben. Mehr Patient*innen können ihr Präparat eigenverantwortlich zu Hause, statt jeden Tag in der Arztpraxis, einnehmen. Zudem wurden telemedizinische Termine ermöglicht.

Nina Pritszens, Geschäftsführerin von vista Berlin – Verbund für integrative soziale und therapeutische Arbeit, berichtet: „Die Corona-Krise hat gezeigt, wie es geht: Drogenhilfe und medizinische Versorgung standen vor dem Kollaps, doch wir haben uns schnell angepasst. Politik und Behörden haben umsichtig und unbürokratisch reagiert. Mit den neuen Möglichkeiten bei der Substitution haben wir gute Erfahrungen gemacht: Nach unserer Einschätzung werden jetzt mehr Menschen behandelt als vor der Pandemie. Diesen Weg müssen wir konsequent fortsetzen.“

Verbieten verbietet sich

Erfolge der Schadensminimierung werden zugleich konterkariert von Schäden durch die Kriminalisierung drogenkonsumierender Menschen. Substanzen vom Schwarzmarkt und Haftstrafen ziehen enorme Gesundheitsrisiken nach sich. Viele Menschen verlieren aufgrund von Haft, Obdachlosigkeit, Infektionen und Ausgrenzung ihre Lebensgrundlage oder sogar ihr Leben. Eine staatlich regulierte Abgabe, je nach Substanz zum Beispiel über Fachgeschäfte oder das Medizinsystem, würde hingegen Qualitätskontrollen ermöglichen. Polizei und Justiz könnten enorme Ressourcen sparen – insbesondere bei der massenhaften, aber völlig nutzlosen Strafverfolgung von Cannabiskonsument*innen. 2019 wurden 186.000 Delikte im Zusammenhang mit dem Konsum verfolgt.

Dazu sagte Dr. Bernd Werse, Vorstandsmitglied der European Society for Social Drug Research sowie Mitbegründer des Centre for Drug Research an der Goethe-Universität Frankfurt: „Millionen Menschen, darunter viele junge, konsumieren Cannabis, nicht wenige machen auch Erfahrungen mit anderen Drogen. Die meisten entwickeln keine nennenswerten Probleme. Es ist vor allem das Strafrecht, das oft Leben oder Karrieren zerstört. Verfolgung durch eine regulierte Abgabe der Substanzen zu ersetzen, würde den Konsumierenden Produktsicherheit bieten und Milliarden Euro für sinnvolle Präventions- und Behandlungsangebote freisetzen.“

Fachliche Kompetenz einbinden

Eine zentrale Forderung der Fachwelt ist, Kompetenz aus Wissenschaft, Praxis und Selbsthilfe auf offiziellem Wege in die Drogenpolitik einbringen zu können: in einem interministeriellen Fachbeirat. Frankreich und die Schweiz verfügen bereits über solche Gremien.

„Unser Ziel ist, Fortschritte in Kooperation mit politisch Verantwortlichen zu entwickeln und zu realisieren. Ein Fachbeirat könnte die Drogenbeauftragte gerade bei schwierigen politischen Vorhaben unterstützen“, betont Prof. Dr. Heino Stöver.

Der Alternative Drogen- und Suchtbericht erscheint seit 2014. Er versteht sich als konstruktiv-kritische Ergänzung zum Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung. Zu den Autor*innen zählen Wissenschaftler*innen ebenso wie Praktiker*innen aus der Drogenhilfe und Selbsthilfevertreter*innen.

Mehr Informationen:

Gemeinsame Pressemitteilung der Deutschen Aidshilfe und von akzept e.V., 07.10.2020