Patientenzeitung „SuchtGlocke“

Titelseite der ersten Ausgabe aus dem Jahr 1984

Vor 40 Jahren entstand am Fachkrankenhaus Vielbach, einer Reha-Klinik für alkoholkranke und sozial besonders benachteiligte Männer, die Patientenzeitung „SuchtGlocke“. Initiator war der Sozialpädagoge Joachim Jösch, der Anfang 1984, direkt nach seiner Diplom-Prüfung, die Stelle in Vielbach angetreten hatte.

Er brachte mehrere Jahre Erfahrung als Redakteur einer Jugendzeitung mit und hatte die Idee, eine Schreibwerkstatt für und mit Rehabilitanden ins Leben zu rufen. Seine Kolleg:innen zweifelten am Interesse und der Schreibkompetenz der Patienten, doch der Chef gab sein OK.

Der Einladung zum ersten Treffen folgten vier Patienten. Diese waren sehr interessiert daran, Erfahrungen aus ihrem von materieller und emotionaler Entbehrung sowie von Sucht geprägten Leben niederzuschreiben. Es wurden 14-tägige Treffen und das Vorlesen von mitgebrachten Texten vereinbart. Schon bald kam der Wunsch auf, Texte, Bilder oder Grafiken zeitungsartig zusammenzustellen und zur Lektüre für die Mitpatienten zu vervielfältigen. Schnell sprach man bei den Treffen der Teilnehmer des Schreibprojekts von „Redaktionssitzungen“.

Joachim Jösch übernahm die Aufgabe, die Sitzungen zu leiten und Beiträge zu sammeln. Die erste Zeitung erschien im Dezember 1984. 100 Exemplare à 12 Seiten wurden mit dem Klinikkopierer „gedruckt“. Die Beiträge, einschließlich eines Gedichtes, waren überwiegend handgeschrieben, hinzu kamen kopierte und selbstgezeichnete Cartoons sowie eine Rätselseite. Bei den Mitpatienten, aber auch im Therapieteam, war die Resonanz überaus positiv. Und die Zeitungsmacher waren mächtig stolz.

Nicht Klinik-, sondern Patientenzeitung – und ganz ohne Zensur

36 Jahre später: Titelseite einer Ausgabe aus dem Jahr 2020

In einem Namenswettbewerb wurde der Name SuchtGlocke (SG) für die Patientenzeitung gefunden. Dem Wunsch, unzensiert schreiben und veröffentlichen zu können, wurde von der Klinikleitung (unter Vorbehalt eines „Notfall-Vetos“) entsprochen. Außerdem sollten ausschließlich Beiträge von Patienten erscheinen.

Joachim Jösch übernahm die Aufgabe, Redaktionsmitglieder und die, die es werden wollten, zu motivieren, zu ermutigen und zu unterstützen. Er koordinierte die Abläufe, kümmerte sich um das Layout und den Druck der Zeitung. Inhaltlich beschränkte er sich darauf, die Beiträge behutsam zu redigieren und Schreibfehler zu eliminieren, so dass eine Scham-Barriere hinsichtlich möglicher Schreibschwächen ausgeräumt wurde. Das Layout gestaltete ab 1985 bis zum Schluss der ehemalige Zivildienstleistende Frank Schmieder.

In den Redaktionssitzungen wurde regelmäßig das Schreiben selbst thematisiert, z. B. „Wie finde ich einen Anfang“, oder es ging um Schreibblockaden. Damit auch Beiträge von Analphabeten Berücksichtigung finden konnten, schrieben Redaktions- oder Therapiegruppenmitglieder deren Geschichten auf. Schnell zeigten auch Patienten außerhalb der Redaktion und Ex-Patienten Interesse an einer Mitarbeit und reichten ebenfalls Beiträge ein. Ein ehemaliges Mitglied der SG-Redaktion, der in der Zeit nach seiner Reha zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden war, sendete der Redaktion über mehrere Jahre Schilderungen aus seinem Haftalltag.

Mit vorab kommunizierten Schwerpunktthemen wie z. B. „Leben wofür?“, „Einsamkeit“, „Brief an meinen Vater“, „Warum sich Abstinenz lohnt“ und „Sucht und Sexualität“ gelang es den Zeitungsmachern regelmäßig, viele ihrer Mitpatienten in das SG-Projekt einzubinden.

Schon die dritte Ausgabe der SG wurde in einer Druckerei produziert, in Schwarzweiß mit farbigem Umschlag. Ab 2010 war Vierfarbdruck möglich, 48 Seiten wurden Standard. Die Auflage war zu diesem Zeitpunkt schon auf 5.000 Exemplare gestiegen. Grund hierfür waren ein bundesweit großes Interesse seitens der Suchthilfe und der Wohnungslosenhilfe sowie die Entscheidung, die SuchtGlocke allen ehemaligen Patienten kostenfrei zuzustellen – eine kreative Form der Abstinenzunterstützung, wie vielfach rückgemeldet wurde.

Schreibwerkstatt und Zeitung fördern Therapie und Abstinenz

Mit dem Wechsel von Joachim Jösch in den Ruhestand im März 2024 endet nach vier Jahrzehnten das deutschlandweit einmalige Schreibprojekt einer Suchtklinik. Zuletzt aktive und ehemalige Redaktionsmitglieder äußerten sich abschließend überaus positiv über das schreibgestützte Therapieangebot. Viele von ihnen hatten ein von Schicksalsschlägen und Sucht geprägtes Leben hinter sich. Das therapeutisch begleitete Schreiben habe es ihnen ermöglicht, sich viel Schmerzhaftes, teils Verdrängtes, von der Seele zu schreiben. In vielen Fällen habe ihnen das Schreiben den Anstoß dazu gegeben, sich in den Psychotherapie-Sitzungen vertiefend mit den entsprechenden Themen zu beschäftigen. Übereinstimmend haben alle beteiligten Patienten berichtet, wie ihre veröffentlichten Beiträge sie erstmals Stolz haben fühlen lassen. Ihre Mitarbeit in der SG-Redaktion habe ihr Selbstbewusstsein und ihr Selbstvertrauen deutlich wachsen lassen.

Therapeutisch begleitetes Schreiben in der Suchttherapie besitzt das Potenzial, die Reha-Behandlung wirksam zu unterstützen. Dieses Potenzial lohnt es sich auszuschöpfen. Die positiven Vielbacher Projekterfahrungen laden zur Nachahmung – in vielfältiger Form – ein.

Kontakt:

Joachim Jösch
joachim.joesch(at)t-online.de

Redaktion KONTUREN, 22.4.2024