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Die COVID-19-Pandemie hat die Organisationen und Einrichtungen der Suchtprävention, Suchthilfe und Suchtselbsthilfe mit außergewöhnlichen Herausforderungen konfrontiert. Um diese Herausforderungen und deren Konsequenzen praxisorientiert zu konkretisieren sowie Unterstützungsbedarfe zu formulieren, hat der Fachverband Drogen- und Suchthilfe e.V. (fdr+) eine Online-Mitgliederbefragung durchgeführt. Die Befragung erfolgte im Zeitraum 10.–17.Juni 2020 und stellt somit eine Momentaufnahme dar. Die zentralen Ergebnisse fasst der fdr+ in einem Positionspapier zusammen und stellt davon abgeleitete Forderungen für eine wirkungsvolle Suchtprävention, Suchthilfe und Suchtselbsthilfe auf.

Das vollständige Positionspapier und die Ergebnisse der Mitgliederbefragung stehen zum Download zur Verfügung.

Ausgewählte Ergebnisse der fdr+ Mitgliederbefragung zur Corona-Pandemie 2020

Rücklauf

Es konnten insgesamt 95 vollständig ausgefüllte Fragebögen ausgewertet werden. Die Hälfte der Organisationen/Einrichtungen hat ihren Arbeitsschwerpunkt in der ambulanten Suchthilfe; die andere Hälfte teilt sich in stationäre Einrichtungen, Suchtselbsthilfe, Behörden und Sonstige auf.

Aufrechterhaltung der Angebote

Differenziert betrachtet konnten bzw. können die meisten spezifischen Angebote (N=683) sowohl während als auch (perspektivisch) nach der Corona-Pandemie aufrechterhalten werden. Bedeutende Einschränkungen der Angebote (während des Lockdowns) sind jedoch in den Bereichen Selbsthilfe, Prävention, Suchtberatung im Betrieb und in der JVA, niedrigschwellige Hilfen sowie bei den Beschäftigungsprojekten zu verzeichnen.

Mehrbelastung des Personals

90 Prozent der Einrichtungen/Organisationen bestätigen eine Mehrbelastung des Personals durch die Corona-Pandemie, deren Ursache im Mehraufwand durch Schutzmaßnahmen, in veränderten Kommunikationsmodi/Kontaktaufnahmen und in der eigenen psychischen Belastung sowie der der Klientel (z. B. durch Isolation) liegt.

Auslastung

Die Angaben zur Auslastung der einzelnen Angebote/Einrichtungen aufgrund der Corona-Pandemie sind sehr unterschiedlich und vermutlich regional begründet. Dennoch verzeichnen 43 Prozent der Angebote/Einrichtungen einen signifikanten Rückgang der Auslastung, insbesondere im stationären Reha-Bereich, der Eingliederungshilfe, den Arbeits- und Beschäftigungsmaßnahmen, der Selbsthilfe und der Prävention. Zusätzlich kam es zu Schließungen im Bereich der Kontakt- und Begegnungsstätten. Auch auf die Gruppenangebote der Ambulanten Reha Sucht (ARS), der Nachsorge und der Suchtberatung hatten insbesondere die umzusetzenden Abstandsregelungen und Hygienemaßnahmen tiefgreifende Auswirkungen. So mussten Gruppengrößen reduziert bzw. entsprechend größere Räumlichkeiten organisiert und angemietet, auf digitale Formate ausgewichen oder vermehrt Einzelberatung durchgeführt werden, was wiederum erhebliche Mehrkosten (Personal, Ausstattung etc.) nach sich zog/zieht.

Liquidität

70 Prozent der Einrichtungen/Organisationen geben an, dass sich ihre Liquidität perspektivisch verringern wird, ursächlich aufgrund der Gefährdung der Umsetzung der Angebote (z. B. aufgrund von Kontaktbeschränkungen), bedeutender Umsatzeinbußen (über zehn Prozent) sowie notwendiger Mehr-Investitionen (bauliche Maßnahmen, zusätzliche Räumlichkeiten, (technische) Ausstattung, Schutzausrüstung, Personal).

Maßnahmen während der Corona-Pandemie

Die Organisationen und Einrichtungen haben während der Corona-Pandemie differenzierte Maßnahmen ergriffen, um die Arbeitsfähigkeit zu erhalten, die Zielgruppe (situativ) auch weiterhin zu erreichen und die Hygienevorschriften einzuhalten. Die Kosten für den deutlichen Mehraufwand wurden dabei jedoch nicht refinanziert.

Inanspruchnahme finanzieller Unterstützung

Insofern die Voraussetzungen gegeben waren, haben die Einrichtungen/Organisationen zur Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit und/oder als Ausgleich der Defizite finanzielle Unterstützung (vorrangig SodEG und Kurzarbeitergeld) in Anspruch genommen. Knapp 40 Prozent haben diese beantragt, bei 15 Prozent wurden bereits Mittel bewilligt, bei sieben Prozent wurden diese abgelehnt, acht Prozent planen eine Beantragung und knapp 30 Prozent nehmen keine Unterstützungsleistungen in Anspruch. Dabei gibt die deutliche Mehrheit der Einrichtungen/Organisationen an, dass entstandene finanzielle Defizite durch die Schutzpakete des Bundes und der Länder nicht kompensiert werden und bereits jetzt oder perspektivisch nicht kompensierte Einnahmenausfälle zu verzeichnen sind. Die Lücken der Schutzpakete werden insbesondere in der Refinanzierung der Schutzkleidung und ‑ausstattung und sonstiger Sachmittel (inkl. technischer Ausstattung), der Kompensation der Minderbelegung sowie der Bewältigung des Bürokratieaufwands gesehen. Insbesondere die ARS und die stationären Reha-Maßnahmen in kleineren Einrichtungen bleiben bei den Voraussetzungen zur Inanspruchnahme von finanzieller Unterstützung bislang unberücksichtigt.

Bedeutung digitaler Angebote

Digitalen Angeboten wird bei der Bewältigung der Corona-Pandemie eine besonders hohe Bedeutung beigemessen. Diese können persönliche Kontakte im kommunikations- und beziehungsintensiven Arbeitsfeld der Suchtprävention, Suchthilfe und Suchtselbsthilfe ergänzen, jedoch nicht ersetzen.

Unterstützungsbedarf

Die Mehrheit der Einrichtungen/Organisationen sieht in der unzureichenden Finanzierungsbasis, den fehlenden digitalen Kompetenzen der Mitarbeitenden und der Klientel, der technischen Kompatibilität mit Kooperationspartner*innen und den juristischen Fragestellungen Hürden für den Einsatz von Technik und Digitalisierung. Deshalb sehen die Einrichtungen/Organisationen vorrangig in der Finanzierung der technischen Ausstattung und in der Beratung zu digitalen Anwendungen weiteren Unterstützungsbedarf, aber auch in der Liquiditätssicherung, Fachkräftegewinnung, Fördermittelberatung und der Beschaffung von Schutzausrüstung/-mitteln.

Perspektive

Ein Großteil der Einrichtungen/Organisationen rechnet mit einer gesteigerten Nachfrage der Angebote im Bereich Suchthilfe und Suchtselbsthilfe. Begründet wird dies mit der Mehrbelastung (psychischen Belastung) der Menschen durch Isolation, Kurzarbeit/Arbeitsplatzverlust, häusliche Konflikte und das dadurch steigende Risiko eines erhöhten Suchtmittelkonsums/einer Rückfälligkeit. Im Bereich Suchtprävention wird demgegenüber von einer (kurzfristig) sinkenden Nachfrage ausgegangen, da Schulen, Betriebe und Freizeiteinrichtungen (Clubs/Festivals) voraussichtlich zunächst vorrangigere/organisatorische Schwierigkeiten bewältigen müssen.

Forderungen des fdr+

Zur Bewältigung der Corona-Krise und ihrer sozialen, gesellschaftlichen und finanziellen Folgen werden die Angebote und Leistungen der Suchtprävention, Suchthilfe und Suchtselbsthilfe nicht nur dringend gebraucht, sie sind unerlässlich und systemrelevant. Denn gerade in unsicheren Zeiten müssen die Menschen sich auf diese sozialraumorientierten, auch institutionellen Unterstützungsangebote (mit verstärkten Schutzmaßnahmen) verlassen können, die konstitutiv für die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse sorgen, zum Gesundheitsschutz und zur Stabilität der sozialen Gemeinschaft beitragen. Deshalb fordert der fdr+:

  1. eine nahtlose Weiterfinanzierung/Förderung aller Angebote der Suchtprävention, Suchthilfe und Suchtselbsthilfe
  2. ausreichend Schutzmaterial und ‑kleidung für die Mitarbeitenden und Ehrenamtlichen der Suchtprävention, Suchthilfe und Suchtselbsthilfe und einen vereinfachten Zugang zur Coronatestung (auch präventiv) inkl. sichergestellter Kostenübernahme
  3. die garantierte Aufrechterhaltung von Präventionsangeboten unter Ausschluss von Kürzungen
  4. die ambulante Suchthilfe als Pflichtleistung gesetzlich in der kommunalen Daseinsvor- und fürsorge zu verankern und folgerichtig verlässlich und leistungsgerecht zu finanzieren sowie die Sicherstellung der Finanzierung, auch wenn die Einrichtung vorübergehend geschlossen werden muss
  5. die Ausweitung des Schutzschirmes nach § 111d SGB V auf die Ambulante Reha Sucht (ARS) sowie die Erfassung von Mehraufwendungen und Erlösausfällen im SodEG. Im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung muss die Kompensation der Leistungsausfälle (Regelungen zur Sicherung der wirtschaftlichen Existenz) in Analogie zu bisherigen Unterstützungsleistungen ambulanter Leistungserbringer Berücksichtigung finden.
  6. gemeinsame verlässliche Lösungswege zwischen den Kostenträgern und den Leistungserbringern zur Kostenabsicherung in der stationären Suchthilfe sowie die Erstattung des hohen finanziellen Mehraufwandes bspw. durch einen Pandemie-Zuschlag
  7. flexible aktuelle Unterstützungsmöglichkeiten für die Aufrechterhaltung von Beschäftigungs- und Qualifizierungsmaßnahmen in der Suchthilfe
  8. die Verstetigung der für die Substitution während der Corona-Pandemie getroffenen Regelungen
  9. die Möglichkeit für Suchtselbsthilfe-Gruppen, ihre regelmäßigen Treffen unter Einhaltung der jeweils notwendigen Sicherheits- und Hygienemaßnahmen weiter durchzuführen
  10. die Finanzierung der technischen Ausstattung und der Beratung zur Anwendung beim Ausbau und der Implementierung digitaler Prozesse und Angebote. Gemeinnützige Organisationen müssen in entsprechende staatliche Förderprogramme aufgenommen werden.
  11. eine angemessene Bezahlung der Gesundheitsfachberufe und aller Berufsfelder der „Sozialen Arbeit“ sowie Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität dieser Berufsfelder

Quelle: Neue Impulse jetzt nutzen! – Welche notwendigen Konsequenzen wir aus den Erfahrungen mit der Corona-Pandemie für eine wirkungsvolle Suchtprävention, Suchthilfe und Suchtselbsthilfe ziehen müssen, Positionspapier des fdr+ vom 17. Juli 2020.