Europäischer Drogenbericht 2022

Das rasche Wiedererstarken von Drogenangebot und -konsum nach den Beeinträchtigungen durch COVID-19 gehört zu den Themen, die von der EU-Drogenbeobachtungsstelle (EMCDDA) mit ihrem „Europäischen Drogenbericht 2022: Trends und Entwicklungen“ näher beleuchtet werden. Der Bericht bietet einen aktuellen Überblick über die Drogensituation in Europa und untersucht langfristige Trends und neu auftretende Bedrohungen. In einer Zeit, in der die internationale Lage neue Herausforderungen mit sich bringt, wird in dem Bericht auch untersucht, wie aktuelle globale Ereignisse die Dynamik der Drogenproblematik in Europa in Zukunft beeinflussen können. Dem Bericht zugrunde liegende nationale Daten (Statistisches Bulletin 2022). Der Bericht beschreibt die Drogensituation bis Ende 2021 auf der Grundlage von Daten aus dem Jahr 2020 und, sofern verfügbar, aus dem Jahr 2021.

Der jährliche Bericht beschreibt, wie sich die Drogenprobleme in Europa weiterentwickeln und wie Innovationen den Drogenmarkt vorantreiben. Die Verfügbarkeit von Drogen ist in der EU nach wie vor hoch (in einigen Fällen, wie bei Kokain, übersteigt die Verfügbarkeit die Werte vor der Pandemie), und es tauchen auch weiterhin potente und gefährliche Substanzen auf. Der Bericht zeigt auch auf, wie die Vielfalt der Cannabisprodukte und die Produktion synthetischer Drogen in Europa zunehmen.

Im Hinblick auf den Drogenkonsum gibt es Anzeichen für eine Rückkehr auf das Niveau vor der Pandemie. Die Abwasseranalyse beispielsweise zeigt, dass der Konsum von Kokain, Crack, Amphetamin und Methamphetamin in einigen Städten zwischen 2020 und 2021 zugenommen hat. Zugleich scheinen Hilfeangebote mit Lockerung der COVID-19-Beschränkungen in ganz Europa wieder zur Tagesordnung zurückzukehren, wobei einige der innovativen Praktiken, die während der Lockdowns eingesetzt wurden (digitale Gesundheitsdienste, Telemedizin), beibehalten wurden.

Gefährliche neue psychoaktive Substanzen tauchen nach wie vor auf – Cathinone im Fokus

In Europa taucht weiterhin jede Woche eine neue psychoaktive Substanz (NPS) auf, was eine Herausforderung für die öffentliche Gesundheit darstellt. 2021 wurden über das EU-Frühwarnsystem (EWS) 52 neue Drogen gemeldet, womit sich die Gesamtzahl der von der EMCDDA beobachteten neuen psychoaktiven Substanzen auf 880 erhöhte. Im Jahr 2021 wurden sechs neue synthetische Opioide, sechs synthetische Cathinone und 15 synthetische Cannabinoide erstmals gemeldet. Zusammen mit dem aktuellen Europäischen Drogenbericht wird ein Bericht über das Frühwarnsystem und seine Leistungen veröffentlicht, da das Netzwerk sein 25-jähriges Bestehen feiert.

Im Jahr 2020 wurde in Europa (27 EU-Mitgliedstaaten, Türkei und Norwegen) mit 6,9 Tonnen (41.100 Sicherstellungen) eine Rekordmenge an neuen psychoaktiven Substanzen sichergestellt. Von den sichergestellten Substanzen waren 3,3 Tonnen synthetische Cathinone, die häufig als Ersatz für herkömmliche Stimulanzien (z. B. Kokain, MDMA) verkauft werden. Seitdem in China hinsichtlich synthetischer Cathinone verstärkt kontrolliert wird, stammen die meisten Großmengen dieser Substanzen, die 2020 nach Europa geschmuggelt wurden, aus Indien. Stand Ende 2021 überwachte die EMCDDA 162 synthetische Cathinone, die damit die zweitgrößte Kategorie der beobachteten neuen psychoaktiven Substanzen nach den synthetischen Cannabinoiden (224 überwachte Substanzen) ausmachten. Der Handel mit synthetischen Cathinonen in Europa in Rekordhöhe und Berichte über Schäden (z. B. Vergiftungen) haben zu neuen Maßnahmen geführt. Zwei synthetische Cathinone, 3-MMC und 3-CMC, wurden 2021 einer Risikobewertung unterzogen, und die Europäische Kommission hat vorgeschlagen, sie in der gesamten EU zu kontrollieren.

Cannabis – neue Entwicklungen für die beliebteste illegale Droge in Europa

Die Entwicklungen im Cannabissektor stellen die Länder vor neue Herausforderungen. Cannabisprodukte werden immer vielfältiger, darunter Extrakte und Edibles (mit hohem THC-Gehalt) und CBD-Produkte (mit niedrigem THC-Gehalt). Auch das Umfeld der europäischen Cannabispolitik verändert sich, und der Fokus der politischen Maßnahmen wird schrittweise ausgeweitet. Neben der Kontrolle von illegalem Cannabis umfassen die politischen Maßnahmen nun auch die Regulierung von Cannabis für medizinische und andere Zwecke (z. B. Zutaten in Lebensmitteln und Kosmetika).

Im Jahr 2020 lag der durchschnittliche THC-Gehalt von Cannabisharz bei 21 % und damit fast doppelt so hoch wie der von Cannabiskraut (11 %). Damit hat sich die Tendenz der letzten Jahre, in denen Cannabiskraut in der Regel einen höheren Wirkstoffgehalt aufwies, umgekehrt. Dies spiegelt Neuerungen auf dem Markt wider: die Harz-Produzenten, in der Regel aus Ländern außerhalb der EU, scheinen auf die Konkurrenz durch in Europa hergestelltes Cannabiskraut reagiert haben. In dem Bericht wird auch die Sorge geäußert, dass illegale Cannabisprodukte mit synthetischen Cannabinoiden versetzt werden, die hochpotent und giftig sein können. Konsumierende wissen dann möglicherweise nicht, dass ein Produkt synthetische Cannabinoide enthält und sie größeren Gesundheitsrisiken ausgesetzt sind.

Anzeichen für eine Zunahme der Drogenproduktion, des Drogenhandels und der Verfügbarkeit von Drogen in Europa

Im Jahr 2020 wurden mehr als 350 illegale Drogenproduktionslabore ausgehoben, darunter einige groß angelegte Produktionsstätten für Kokain, Methamphetamin und Cathinone. Die jüngste Analyse deutet darauf hin, dass die Verfügbarkeit von Kokain in Europa nach wie vor hoch ist und eine Reihe von Gesundheitsgefahren mit sich bringt. Im Jahr 2020 wurde in der EU eine Rekordmenge von 213 Tonnen Kokain sichergestellt (202 Tonnen im Jahr 2019), 23 Labore ausgehoben wurden ausgehoben (15 Labore im Jahr 2019).

Auch die Verfügbarkeit von Amphetamin ist hoch und könnte zunehmen. Im Jahr 2020 stellten die EU-Mitgliedstaaten eine Rekordmenge von 21,2 Tonnen sicher (15,4 Tonnen im Jahr 2019), 78 Amphetamin-Labore wurden ausgehoben (38 im Jahr 2019). Der Bericht zeigt, dass in Europa immer mehr Methamphetamin-Produktionsanlagen mittlerer und großer Größe ausgehoben werden. Die Produktion und das Angebot von Methamphetamin haben sich in jüngster Zeit in Europa verändert. Diese Entwicklung birgt das Risiko einer breiteren Verfügbarkeit und damit für einen Anstieg des Konsums.

Die Zahl der ausgehobenen MDMA-Labore (29) blieb 2020 relativ stabil. Es wurden 15 Produktionsstandorte für Cathinone ausgehoben (fünf im Jahr 2019) und 860 Kilogramm chemische Vorläufersubstanzen für die Herstellung von Cathinonen beschlagnahmt (438 Kilogramm im Jahr 2019). Auch wenn sie weniger verbreitet sind, wurden 2020 in der EU illegale Labore zur Herstellung von Heroin, Ketamin, GBL und DMT ausgehoben.

Eine zentrale Frage, die in dem Bericht aufgeworfen wird, ist, ob die Drogenmärkte im Darknet zurückgehen. Die Aktivitäten auf diesen Märkten scheinen von einer Reihe von Faktoren beeinflusst worden zu sein (z. B. Strafverfolgungsmaßnahmen, Lieferprobleme, Betrug). Ende 2021 gingen die geschätzten Einnahmen drastisch auf knapp unter 30.000 Euro pro Tag zurück (gegenüber 1 Million Euro pro Tag im Jahr 2020). Soziale Medien und Sofortnachrichten-Apps scheinen als sicherere und bequemere Bezugsquelle bevorzugt zu werden, was die Notwendigkeit von Maßnahmen in diesem Bereich unterstreicht.

Notwendigkeit der Ausweitung von Maßnahmen zur Behandlung und Schadensminimierung

In dem aktuellen Bericht wird betont, dass die Behandlungangebote und Maßnahmen zur Schadensminimierung für injizierende Drogenkonsumierende in Europa ausgebaut werden müssen. Im Jahr 2020 berichteten nur Tschechien, Spanien, Luxemburg und Norwegen, dass sie die Ziele der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für das Jahr 2020 erreicht haben, nämlich die Bereitstellung von 200 Spritzen pro Jahr pro injizierender Person sowie die Versorgung von mindestens 40 % der Hochrisiko-Opioidkonsumierenden im Rahmen einer Opioid-Agonisten-Behandlung (OAT) (Substitution), die einen Schutzfaktor gegen Überdosierungen darstellt. Im Jahr 2020 gab es in der EU schätzungsweise eine Million Hochrisiko-Opioidkonsumierende, von denen 514.000 Klienten und Klientinnen in OAT sind, was eine Abdeckung von 50 % bedeutet. Allerdings bestehen zwischen den einzelnen Ländern große Unterschiede, und das Behandlungsangebot ist in vielen EU-Mitgliedstaaten nach wie vor unzureichend.

Der injizierende Drogenkonsum steht im Zusammenhang mit schwerwiegenden Gesundheitsproblemen wie Infektionskrankheiten, Überdosierungen und Todesfällen. Während der injizierende Heroinkonsum rückläufig ist, wächst die Besorgnis über den injizierenden Konsum einer breiteren Palette von Substanzen, darunter Amphetamine, Kokain, synthetische Cathinone, verschriebene Opioide und andere Arzneimittel.

Im Jahr 2020 wurden in der EU schätzungsweise 5.800 Todesfälle durch Überdosierung illegaler Drogen verzeichnet. Die meisten dieser Todesfälle wurden mit einer polyvalenten Intoxikation in Verbindung gebracht, bei der es sich in der Regel um Kombinationen aus illegalen Opioiden, anderen illegalen Drogen, Arzneimitteln und Alkohol handelt. Neben der hohen Verfügbarkeit von Kokain in Europa deuten Berichte darauf hin, dass der Crack-Konsum zunehmen könnte und nun in mehr Städten und Ländern unter vulnerablen Drogenkonsumierenden zu beobachten ist. Crack wird in der Regel geraucht, kann aber auch injiziert werden, und steht im Zusammenhang mit einer Reihe von gesundheitlichen und sozialen Schäden (z. B. Infektionskrankheiten und Gewalt). Die langfristigen Trends deuten darauf hin, dass im Jahr 2020 in Europa schätzungsweise 7.000 Klienten und Klientinnen aufgrund von Crack-Problemen eine Behandlung aufnahmen. Damit hat sich die Zahl der Klienten und Klientinnen im Vergleich zum Jahr 2016 verdreifacht.

Internationale Lage: neue Herausforderungen und potenzielle Bedrohungen

Die Drogenprobleme in Europa können durch die Entwicklungen auf internationaler Ebene beeinflusst werden. Der Bericht befasst sich mit den jüngsten Entwicklungen in Afghanistan und der Ukraine und den potenziellen Auswirkungen auf den Drogenbereich. Es ist zwar noch zu früh, um die Auswirkungen dieser Ereignisse in vollem Umfang bewerten zu können, doch wird eine gezielte Beobachtung der Situation erforderlich sein, um eine Informationsgrundlage für die Politik und für Maßnahmen zu schaffen.

Trotz des im Jahr 2022 von den Taliban verhängten Verbots der Herstellung, des Verkaufs und des Handels mit illegalen Drogen in Afghanistan scheint der Mohn-Anbau fortgesetzt zu werden. Aufgrund der aktuellen finanziellen Probleme des Landes könnten die Einnahmen aus Drogengeschäften zu einer wichtigen Einnahmequelle werden, was zu einer Zunahme des Heroinhandels nach Europa führen könnte. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Frage, ob Europa zu einem Konsummarkt für in Afghanistan hergestelltes Methamphetamin wird. Diese Droge wird derzeit von europäischen Herstellern auf dem EU-Markt angeboten. In jüngster Zeit wurden jedoch auch in Afghanistan eine großangelegte Methamphetamin-Produktion auf Ephedra-Basis sowie eine Zunahme der Sicherstellungen dieser Droge entlang einiger etablierter Heroinschmuggelrouten festgestellt.

In der Ukraine hat zur Unsicherheit hinsichtlich der Drogensituation in Europa beigetragen. Auf die Personen, die in der EU Zuflucht suchen, entfällt nur ein kleiner Teil der Personen, die in der Ukraine eine Drogenbehandlung in Anspruch nehmen. Diese Personen benötigen eine kontinuierliche Behandlung sowie auf ihre spezifischen Bedürfnisse und ihre Sprache zugeschnittene Drogenhilfe. Allgemein ist davon auszugehen, dass Menschen, die vor Konflikten fliehen, unter starkem psychischem Stress leiden und dadurch in Zukunft potenziell anfälliger für Probleme im Zusammenhang mit Substanzmissbrauch sind. Der Krieg könnte auch zu Verschiebungen der Schmuggelrouten führen, da Kriminelle Schwachstellen ausnutzen oder betroffene Gebiete meiden.

Pressestelle der EU-Drogenbeobachtungsstelle (EMCDDA), 14.6.2022