Europäischer Drogenbericht 2020

Die hohe Verfügbarkeit aller Arten von Drogen, die Drogenherstellung in Europa und die Existenz hochpotenter Stoffe zählen zu den Themen des von der EU-Drogenbeobachtungsstelle (EMCDDA) erstellten European Drug Report: Trends and Developments. In ihrer neuesten Jahresübersicht im 25. Jahr der Beobachtung beschreibt die Agentur die Drogensituation am Jahresende 2019 sowie die jüngsten Veränderungen aufgrund der COVID-19-Pandemie Anfang 2020.

Der Bericht erscheint dieses Jahr ausschließlich auf Englisch, eine Zusammenfassung des Berichtes (Kernthemen) steht auf Deutsch, Englisch und 22 weiteren Sprachen auf der Website der EMCDDA zur Verfügung. Die dem Bericht zugrunde liegenden Daten sind dem Statistischen Bulletin entnommen. Der Bezugszeitraum für die Drogensituation ist die Zeit bis zum Jahresende 2019.

Zu den neuen, im Bericht beschriebenen Entwicklungen gehören ein neuer Rekordwert bei den Kokainsicherstellungen und die Beschlagnahmung großer Heroinmengen, die zunehmende Herstellung synthetischer Drogen sowie Funde von hochpotentem Cannabis, neuen synthetischen Opioiden und Ecstasy-Tabletten mit einem hohen MDMA-Gehalt. Auf Basis von zeitnahen Studien der EMCDDA vom Frühjahr 2020 befasst sich der Bericht zudem mit COVID-19-bedingten Veränderungen in den Bereichen Drogenkonsum und Drogenmärkte. Die beobachteten Veränderungen könnten langfristig Auswirkungen auf die Arbeit europäischer Drogenhilfeeinrichtungen und Strafverfolgungsbehörden haben. Es wird befürchtet, dass die während des Lockdowns entstandenen neuartigen Modelle der Drogenverbreitung die bereits bestehende problematische Drogenverfügbarkeit noch verschärfen könnten.

Die europäische Drogensituation bis zum Jahr 2020: die Kernthemen

In der diesjährigen Analyse traten folgende Kernthemen zutage:

  • Immer häufiger werden große Drogenlieferungen abgefangen. Die vermehrte Sicherstellung großer Mengen an Kokain, Cannabisharz und zunehmend auch Heroin, die auf dem Seeweg transportiert werden, lässt befürchten, dass organisierte kriminelle Gruppen die Lieferketten, Schifffahrtswege und großen Häfen infiltriert haben.
  • Kokain spielt beim Drogenproblem in Europa eine zunehmende Rolle. Der Reinheitsgrad von Kokain hat sich erhöht und mehr Menschen haben eine Erstbehandlung aufgenommen. Die Zahl der Sicherstellungen von Kokain liegt auf Rekordniveau (181 Tonnen, 110 000 Sicherstellungen).
  • Das Potenzial für einen vermehrten Heroinkonsum und die bereits bestehenden Schäden geben Grund zur Sorge. Im Jahr 2018 wurde fast doppelt so viel Heroin in der EU sichergestellt wie 2017 (ein Anstieg von 5,2 auf 9,7 Tonnen). Zudem gibt es weitere Berichte über die Herstellung von Heroin innerhalb Europas. Es ist daher mehr Wachsamkeit geboten, um die Anzeichen für ein wachsendes Konsuminteresse an dieser Droge zu erkennen. Opioidgestützte Substitutionsbehandlungen sind in einigen Ländern weiterhin nur begrenzt zugänglich.
  • Es ist wichtig, die Folgen von hochpotentem Cannabis und neuen Produkten für die öffentliche Gesundheit zu verstehen. Cannabisharz und Cannabiskraut weisen heute im Schnitt doppelt so viel THC auf wie noch vor zehn Jahren. Zu einer Zeit, da zudem neue Cannabisformen in Erscheinung treten (z. B. als konzentrierte oder essbare Droge), muss der Markt genau beobachtet werden.
  • Die Drogenherstellung in Europa hat zugenommen und ist vielfältiger geworden. Es werden weiterhin bekannte, aber auch neue Drogen in Europa hergestellt, und zwar für lokale sowie globale Märkte, belegt durch verstärkte Funde von Laboren und Produktionsstätten sowie eines breiteren Spektrums an Substanzen.
  • Die anhaltende Verfügbarkeit hochpotenter MDMA-Produkte belegt die Notwendigkeit einer besseren Aufklärung der Konsumierenden. Innovationen im Bereich synthetischer Drogen und deren verstärkte Herstellung in Europa zeigen sich in der anhaltenden Verfügbarkeit hochdosierter MDMA-Tabletten und von hochreinen MDMA-Pulvern, die ein erhebliches Gesundheitsrisiko für Konsumierende darstellen. Daher sind Maßnahmen zur Verhinderung von Schäden durch den Konsum von Drogen im Freizeitbereich erforderlich.
  • Die zunehmende Komplexität des Drogenmarktes birgt regulatorische Herausforderungen und gesundheitliche Risiken. Weniger verbreitete und nicht kontrollierte Substanzen scheinen in einigen Ländern zunehmend zum Problem zu werden, da größere Mengen an Ketamin, GHB und LSD sichergestellt wurden. Auch der Konsum von Distickstoffmonoxid (Lachgas) und neuen Benzodiazepinen bereitet Sorge.
  • Es sind neue Instrumente und innovative Strategien nötig, um die Behandlung von Hepatitis C zu unterstützen und auszuweiten. Menschen, die Drogen injizieren, müssen bessseren Zugang zu Präventions-, Test- und Behandlungsmaßnahmen für Hepatitis C erhalten, um Infektionen in dieser Gruppe auszuschalten. Die Einführung besserer Diagnose- und Überwachungsmethoden zur Ermittlung von chronisch Infizierten ist für die gezielte Behandlung unerlässlich.
  • Drogenüberdosierungen sind zunehmend mit einer alternden Population verbunden. In der Gruppe der Über-50-Jährigen nahm die Zahl der Überdosierungen von 2012 bis 2018 um 75 Prozent zu; 2018 starben in der EU schätzungsweise 8.300 Menschen aufgrund einer Überdosis. Todesfälle durch die Überdosierung von Opioiden lassen sich durch die rechtzeitige Gabe von Naloxon verhindern.
  • Neue psychoaktive Substanzen haben sich zu einem dauerhaften Problem entwickelt. In den vergangenen drei Jahren wurde nahezu wöchentlich eine Neue Psychoaktive Substanz (NPS) erstmals in Europa entdeckt; 2019 belief sich diese Zahl auf insgesamt 53.
  • Das Auftauchen neuer synthetischer Opioide demonstriert auf beunruhigende Weise die fortlaufende Anpassungsfähigkeit der Märkte. 2019 wurden acht neue nicht kontrollierte synthetische Opioide, einige davon aus diversen und neuartigen Gruppen, erstmalig entdeckt – eine mit Blick auf die öffentliche Gesundheit besorgniserregende Entwicklung.

Beschränkungen aufgrund von COVID-19: die Herausforderungen

Gestützt auf die Ergebnisse zeitnaher EMCDDA-Studien zeigt der Bericht, wie zahlreiche Drogenhilfeeinrichtungen zu Beginn des Lockdowns zur Aufgabe oder Einschränkung ihrer Tätigkeit gezwungen waren, letztlich jedoch durch Anpassungen und Innovationen (z. B. Telemedizin) den schnellen Zugang zu Behandlungen und anderen Hilfsmaßnahmen sicherstellen konnten. Die Krise hatte anfänglich unterschiedliche Auswirkungen auf die Drogenkonsummuster. Es gab Hinweise auf ein nachlassendes Interesse an Stoffen, die häufig in Gesellschaft konsumiert werden (z. B. MDMA, Kokain), während der Konsum anderer Substanzen (z. B. Cannabis, neue Benzodiazepine) in einigen Gruppen zuzunehmen schien. Auf den lokalen Drogenmärkten war das Angebot zu Beginn eingeschränkt, was zu Verknappungen und Preisanstiegen führte. Dies dürfte sich mit der Lockerung der Maßnahmen zur sozialen Distanzierung jedoch wieder umkehren.

Der Bericht zeigt auch, dass organisierte kriminelle Gruppen ihr Vorgehen rasch änderten, besonders auf Ebene des Einzelhandels. Da der Straßenverkauf von Drogen durch die Einschränkung der Bewegungsfreiheit schwierig war, nutzten Konsumierende und Händler Onlinemärkte im Darknet, Social Media-Plattformen sowie Paket- und Heimlieferdienste. Die Beobachtung des Drogenmarktes zeigte, dass auf Großhandelsebene der Schmuggel auf dem Luftweg abnahm, während beim Schmuggel auf dem Seeweg gegenüber der Zeit vor der Pandemie keine Änderung erkennbar war. Auch die Herstellung synthetischer Drogen und der Cannabisanbau in Europa schienen weitgehend unbeeinflusst.

Alexis Goosdeel, Direktor der EMCDDA, beschreibt die Lage so: „Die COVID-19-Pandemie hatte unmittelbar störende Auswirkungen auf den Drogenkonsum, das Drogenangebot und die Drogenhilfeeinrichtungen und brachte die besonderen Bedürfnisse von Menschen, die Drogen konsumieren, ans Licht. Wenngleich die Langzeitfolgen der Pandemie noch nicht bewertet werden können, sind schon jetzt kurzfristige Änderungen zu beobachten, etwa das gestiegene Interesse an der Verwendung digitaler Drogenmärkte sowie Innovationen bei der Behandlung von Drogenkonsumierenden mit Hilfe von Computer- und Smartphone-Lösungen. Wir müssen jedoch darauf gefasst sein, dass einige der betroffenen Gruppen im Zuge der wirtschaftlichen Folgen der Krise anfälliger für Drogen und eine Involvierung in den Drogenmarkt werden können, was unsere bereits ausgelasteten Einrichtungen noch stärker unter Druck setzen wird. Wir müssen daher rasch handeln, um neue Bedrohungen zu erkennen und zu bewältigen, die sich aus dieser im Fluss befindlichen Situation ergeben können.“

Pressestelle der EU-Drogenbeobachtungsstelle (EMCDDA), 22.09.2020