Digitaler Aufbruch in der Suchthilfe

Beim 41. fdr+sucht+kongress „Hey Alex, ich habe ein Suchtproblem! Digitaler Aufbruch in der Suchthilfe“ am 20./21.05.2019 in Frankfurt am Main wurden die Digitalisierung, ihre Entwicklung und insbesondere ihre Chancen und Möglichkeiten für die Suchtprävention, Suchthilfe und Suchtselbsthilfe in den Mittelpunkt gestellt. 165 Teilnehmende informierten und beteiligten sich an fünf Vorträgen und 14 vertiefenden Seminaren renommierter und praxiserfahrener Referent*innen zu diesem Thema. Es wurde untersucht, welcher Veränderungsbedarf im Hilfesystem besteht und wie digitale Strategien adäquat in die bestehenden Strukturen implementiert werden können. Die Ergebnisse sollen hier differenziert dargestellt werden: 

Welche Chancen birgt die Digitalisierung für …

… die Mitarbeiter*innen?

  • räumliche/zeitliche Flexibilität, u. a. auch durch Möglichkeiten von Homeoffice
  • Verringerung von Verwaltungsaufgaben durch digitale Assistenzsysteme (Terminvergabe, Dokumentation, Kommunikation und Organisation)
  • Ausbau von Ressourcen durch Onlineprogramme in Therapie und Beratung (Online-Edukationstraining, Selbstkontrollprogramme, Algorithmen für passgenaue Interventionen, Informationsvermittlung, Checkups)
  • Erhöhung der Kooperationsfähigkeit/Vernetzung durch überregionales Projektmanagement
  • Erweiterung der Kommunikationsmöglichkeiten (z. B. Videokonferenzen für Fallberatungen und Supervision)
  • Steigerung der Attraktivität des Arbeitsfeldes durch Methodenvielfalt, Medienkompetenz, Flexibilität

… die Zielgruppe/Klientel?

  • Erhöhung der Erreichbarkeit
  • höhere Unverbindlichkeit/Anonymität
  • niedrigschwelliger Zugang (Herabsetzung von Ängsten durch Online-Kontaktmöglichkeit)
  • schnelle Verfügbarkeit von Interventionen und unkomplizierter Erhalt von Informationen über Plattformen und Tools
  • flexiblerer und barrierefreier Zugang bzw. barrierefreie Kontaktanbahnung
  • positive Entgrenzung/überregionale Erreichbarkeit
  • bedarfsgerechte, zielgruppenorientierte und individuelle Angebote
  • Motivierende Onlineangebote wecken Interesse, eigenständiges ‚Austesten‘ möglich, Veränderungsbereitschaft wird verstärkt, Lernchance für Lebenskompetenzen (somit können neue Zielgruppen erreicht werden)

… den Träger/den Verband?

  • Modernisierung/Methodenerweiterung: Neue Konzepte, Neue Visionen – Aufbruch als Chance!
  • Erhöhung der Wettbewerbs- bzw. Marktfähigkeit
  • Qualitätssicherung, Messbarkeit von Ergebnissen bzw. Erfolgen
  • ressourcenschonender Einsatz (personell/finanziell) als Ausgleich zum Fachkräftemangel
  • Erhöhung der Wirtschaftlichkeit, da z. B. weniger Räume und Arbeitsplätze vor Ort notwendig sind
  • größere/r Erreichungsgrad, Effektivität, Effizienz
  • Verbesserte Zusammenarbeit/Vernetzung/Kooperation; Prozesse können verbandsübergreifend organisiert werden
  • wirksamere Interessenvertretung
  • Lobbyarbeit – Zugänge
  • Systematisierung der Datenerfassung

Fazit

Die Akteur*innen der Suchtprävention, Suchthilfe und Suchtselbsthilfe setzen sich bereits intensiv mit dem Thema der ‚Digitalisierung‘ auseinander und halten teilweise bereits Onlineangebote vor. Um diese zu entwickeln, zu organisieren und umzusetzen bedarf es personeller und zeitlicher Ressourcen, struktureller Voraussetzungen und Medienkompetenzen und einer entsprechenden Finanzierung (Personal- und Sachkosten). Im Sinne einer Nachhaltigkeit und Wirksamkeit bzw. einer Begleitung und Weiterentwicklung der Onlineangebote sind weiterhin regelmäßige Fortbildungen/Schulungen bzw. Coachings notwendig.

Auf den Ergebnissen des 41. fdr+sucht+kongress basierend empfiehlt der fdr+ …

 … auf Verbands-, Träger- und Einrichtungsebene:

  • eine gezielte Vernetzung und Verknüpfung von analogen und digitalen Angeboten, um eine bedarfsgerechte, zielgruppenspezifische, nachhaltige und wirksame Suchthilfearbeit leisten zu können.
  • Im Sinne einer Qualitätssicherung und ‚Trenderfassung‘ müssen fortlaufend einrichtungs- und klient*innenbezogene Daten erhoben, ausgewertet und im Rahmen der Deutschen Suchthilfestatistik veröffentlicht werden können. Entsprechende Programme und Technik müssen zur Verfügung gestellt werden.
  • die kontinuierliche Vermittlung von digitalen Kompetenzen (Medienkompetenzen) bzw. eine regelmäßige Inanspruchnahme von Fortbildungen zu diesem Thema. Insbesondere bei der Anwendung von Online-Beratung bedarf es spezifischer Lese- und Schreibkompetenzen, die es ermöglichen, Problemlagen ohne visuelle Unterstützung zu verstehen und darauf entsprechend zu reagieren. Die Vermittlung der für die Online-Beratung und -Behandlung notwendigen Kompetenzen muss in die etablierten Aus- und Fortbildungen eingebunden werden; dazu zählen ebenfalls datenschutzrechtliche Kompetenzen.
  • sich den innovativen digitalen Möglichkeiten zu öffnen bzw. das digitale Verständnis weiterzuentwickeln und insbesondere im Hinblick auf den bestehenden Fachkräftemangel, Organisationsstrukturen zu digitalisieren. Mit dem Ziel der Ressourcenschonung können z. B. durch elektronische Anwendungen Kommunikationswege optimiert und beschleunigt werden (Videokonferenzen, Abstimmungsmöglichkeiten, Terminorganisation, Informationsvermittlung, digitales ‚Recruiting‘)
  • Das interne betriebliche Gesundheitsmanagement sollte die risikobehafteten Aspekte der Digitalisierung (‚always on‘) berücksichtigen und die Umsetzung entsprechender Präventionsmaßnahmen ermöglichen.

Auf politischer Ebene fordert der fdr+:

  • die Digitalisierung für die Arbeitsfelder Suchtprävention, Suchthilfe und Suchtselbsthilfe bundesweit nutzbar zu machen. Mit dem Ziel eines frühzeitigen Erreichens der Zielgruppe sollte eine verbands- und trägerübergreifende Informations- und Beratungsplattform entwickelt und bundesweit bereitgestellt werden. Die Gestaltung der digitalen Informationsplattform muss demokratisiert erfolgen, d. h. teilhabeorientiert, mit öffentlicher Zugänglichkeit und einer demokratischen Steuerung. Da die Leistungen der Suchtprävention, Suchthilfe und Suchtselbsthilfe eine öffentliche bzw. gesellschaftliche Daseinsvorsorge darstellen, müssen sie auch als ‚öffentliche Güter‘ im digitalen Raum zur Verfügung gestellt und genutzt werden können und dürfen nicht dem kommerziellen Markt überlassen werden.
  • Eine kommunale/regionale Finanzierung ist dabei nicht zielführend, da die digitalen Angebote gebietskörperschaftliche Grenzen überschreiten und somit Zuständigkeitsfragen aufwerfen würden. Deshalb muss eine verlässliche und kostendeckende Finanzierung im Sinne einer kommunen- und länderübergreifenden Lösung bzw. Digitalstrategie gewährleistet werden.
  • eine funktionierende und flächendeckende IT-Infrastruktur, sodass ein gleichberechtigter Zugang zum ‚Markt‘ (seitens der Träger bzw. Einrichtungen) und zu den Angeboten (seitens der Klient*innen und Patient*innen) möglich ist und keine regional bedingten Wettbewerbsvorteile bzw. Nachteile entstehen können.

Gemeinsam sollten wir die voranschreitende Digitalisierung mitgestalten, unser Fachwissen einbringen und Risiken minimieren. Halten wir uns diesbezüglich zurück, werden andere Anbieter*innen – auch ohne Expertise – die Digitalisierung der Suchtpräventions-, Suchthilfe- und Suchtselbsthilfearbeit steuern und kommerzielle Angebote entwickeln.

Das Ergebnispapier steht als download zur Verfügung.

Fachverband Drogen- und Suchthilfe (fdr+), 21.06.2019