Kommentar zum Referentenentwurf des MedRehaBeschG
Die Corona-Krise beherrscht aktuell jede Diskussion, und es wird womöglich auch noch lange so bleiben. Leider geraten Themen in den Hintergrund, die auch wichtig sind und nach überstandener Corona-Krise an Bedeutung wieder zulegen werden. Aus dem BMAS wurde Anfang Februar der Referentenentwurf eines Gesetzes zur Regelung der Beschaffung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation durch die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Weiterentwicklung des Übergangsgeldanspruches (Spötter nennen es auch das „Schöne Reha-Beschaffungsgesetz“) bekannt. Es soll – wie fast immer bei Gesetzen – alles Erdenkliche leisten: Transparenz schaffen, nachvollziehbar sein, Diskriminierungsfreiheit gewährleisten und alle gleich behandeln. Worum geht es? Die Rentenversicherungsträger lassen Reha-Kliniken auf dem Reha-Markt zu und verhandeln dann die Leistungen und die Preise. So war es bisher.
Wozu brauchen wir ein Gesetz, wenn alles in Ordnung ist?
An mehreren Stellen in der Begründung steht, dass die Rentenversicherungsträger bisher rechtmäßig gehandelt haben. Mir ist auch keine Entscheidung eines deutschen Gerichts oder etwa des EuGHs bekannt, die diese Rechtspraxis für nicht rechtmäßig erklärt hätte. Und sie findet ihre Rechtsgrundlage ohne Zweifel im Sozialgesetzbuch zur Rehabilitation. Da steht im Grunde alles drin. Das Gesetz braucht man angeblich deshalb, um zu verhindern, dass die Vergabe von Rehabilitationsleistungen ausgeschrieben werden müsse. Doch an den hierfür maßgebenden Vorschriften im Wettbewerbsrecht soll nichts geändert werden, was auch schwierig wäre, weil das in die Zuständigkeit des europäischen Gesetzgebers fällt. Mit anderen Worten: Hier wird eine Lösung präsentiert, aber es gibt offenbar gar kein Problem. Das erinnert fatal an Franz Kafka und sein Schloss. Des Weiteren sind die beabsichtigten Regelungen so engmaschig, dass für individuelle und regional ausgerichtete Lösungen kein Raum bleibt. Gleichzeitig wird in Sonntagsreden das hohe Lied der Selbstverwaltung gesungen, hier könnten Selbstverwaltungen gute individuelle und auch auf den regionalen Arbeitsmarkt abgestellte Lösungen finden.
Verträge ohne Vertragsverhandlungen
Im Gesetz soll ein einmaliger Vorgang festgeschrieben werden: Die Betreiber von Reha-Einrichtungen müssen sich, wenn sie sich mit ihren Einrichtungen an der Erbringung von Reha-Leistungen beteiligen wollen (Zulassung) vorher einem Preissystem unterwerfen, das es zum Zeitpunkt der Zulassung noch nicht gibt und das einseitig von der Deutschen Rentenversicherung Bund festgesetzt wird. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Eine mittelbare, selbstverwaltete Bundesbehörde legt einen Preis einseitig fest und diejenigen, die Leistungen erbringen sollen und wollen, müssen sich vorher diesem Preis unterwerfen, der aber im Zeitpunkt der Unterwerfung noch nicht feststeht. Es wird also schlicht und einfach erwartet, dass sie die Katze im Sack kaufen. Gleichwohl sollen sie Verträge schließen. Auf einen anderen Markt übertragen wäre das etwa so: Die Vermieter dürfen nur dann vermieten, wenn sie Jahre vorher die Festsetzung der Miethöhe akzeptieren. Jeder Jurastudent im dritten Semester dürfte erkennen, dass ein derartiges Verfahren mit dem Grundgesetz und dem dort in Artikel 12 festgelegten Grundsatz der freien Betätigung eines eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebes nicht in Einklang zu bringen ist.
Die Strukturen in der Reha gehen kaputt
Die Art der Preisfestsetzung lässt schon jetzt eine Nivellierung auf niedrigem Niveau erkennen. Das werden noch drei oder vier große Gesundheitskonzerne durchstehen. Die kleinen und mittelständischen Betriebe werden nicht überleben, wenn sie denn die Corona-Krise überstehen. Gleiches gilt für konfessionell gebundene Träger. Und die Begründung für das Preismodell, gleiche Leistungen müssten überall gleich bezahlt werden, ist völlig daneben: Die Löhne sind regional und je nachdem, ob es sich um tarifgebundene Einrichtungen handelt, völlig unterschiedlich. Die vorgegebene Preisfindung wird zu Lohndumping verbunden mit Entsolidarisierungen aus Tarifverträgen führen. Hier wirkt nun beschleunigend das Virus. Die gesamte Rehabilitation steht vor enormen Herausforderungen, weil die Corona-Krise zu einem wirtschaftlichen Abschwung führen wird. Da ist fraglich, ob kleinere Anbieter dies überleben. Gleichzeitig wird der Bedarf nach Reha-Leistungen ansteigen, weil die Menschen eine Zeit der existenziellen Ängste durchlaufen. Hier wäre eine gut aufgestellte, intakte Anbieterlandschaft von großer Bedeutung. Strukturen sind leicht zerschlagen, sie wiederaufzubauen, kostet Zeit und Geld.
Diese geschilderte Ausgangslage wird durch die Veränderungen in der Arbeitswelt zusätzlich vielschichtiger. Die Zunahme atypischer Beschäftigungen und veränderte gesellschaftliche Ansprüche an eine Arbeitswelt der Zukunft lassen die Flexibilisierung der Angebotsstrukturen in der Prävention und Rehabilitation an Attraktivität gewinnen. Eine Fortschreibung der bereits eingesetzten Flexibilisierung von Strukturen der Rehabilitation erscheint in Anbetracht einer immer flexibler werdenden Gesellschaft somit zeitgemäß. (Fort-, Weiter-)Bildung und Umschulung sollten in einem sich wandelnden Arbeitsmarkt der Zukunft als eine wesentliche Präventionsstrategie verstanden und ausgebaut werden. Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen sollen demnach zunehmend präventiv sowie lebenslauforientiert ausgerichtet sein und verstärkt auch solchen Personengruppen zugutekommen, die bislang weniger hiervon profitierten. Eine erwartete Vielzahl an indifferenten, unspezifischen Arbeitsplätzen der Zukunft setzt verstärkt voraus, dass Beschäftigte selbstbestimmt und eigenverantwortlich mit der eigenen Gesundheit umgehen.
Die grundsätzliche Arbeitsplatzorientierung wird ohne Zweifel auch in Zukunft ein leitendes Thema der Prävention und Rehabilitation bleiben. In Anbetracht von indifferenten Arbeitsplätzen der Zukunft, die zunehmend durch sitzende, inaktive Tätigkeiten mit unspezifischen psychosozialen Belastungen geprägt sind, ist jedoch auch über eine grundsätzliche Weiterentwicklung der Inhalte der Rehabilitation in der Regelversorgung nachzudenken. Konkrete Tätigkeitsprofile, die an Modellarbeitsplätzen nachzustellen sind, werden mit großer Wahrscheinlichkeit weiter zurückgehen. Darüber hinaus sind auch eine potenziell mögliche Zunahme der Telearbeitsplätze und Zukunftsmodelle wie Crowdworking zu bedenken, die sich dem Einfluss betrieblicher Überwachung im Sinne von gesundheitsfördernden Rahmenbedingungen zum Teil gänzlich entziehen.
Vor diesem Hintergrund ist der Fokus von rehabilitativen Behandlungskonzepten verstärkt auf die Erreichung von eigenverantwortlichem, selbstbestimmtem Handeln der Personen zu legen. Bedeutsam bleibt jedoch auch hierbei die Entwicklung zielgruppenspezifischer Angebote, die wiederum nicht nur die Indikation, sondern auch die Lebenswelten der Betroffenen berücksichtigen sollten.
Schließlich wird die tatsächliche Umsetzung einer intersektoriellen Gesundheitspolitik weiter an Bedeutung gewinnen – insbesondere dann, wenn sich eine neue Dimension gesundheitlicher Chancenungleichheit durchsetzen könnte. Dies ist für die Zeit nach Corona zu erwarten. Um benachteiligte Bevölkerungsgruppen frühzeitig erreichen und in das gesundheitliche Versorgungssystem angemessen einführen zu können, erscheint insbesondere in der Präventionsarbeit eine Intensivierung aufsuchender, lebensweltbezogener Ansätze gewinnbringend. Intervention und Angebote, die dieser Philosophie folgen, sind auf die besonderen Problemlagen der jeweiligen Zielgruppen zugeschnitten und berücksichtigen stets die Bedingungen und Möglichkeiten der jeweiligen Lebenswelt. Aus alledem folgt: Auch in der Prävention und Rehabilitation liegt der Schlüssel des Erfolgs darin, die Individualität jedes Versicherten anzuerkennen und darauf maßgeschneiderte Präventions- und Reha-Angebote auszurichten. Mit dem Gesetzesvorhaben wird aber Gleichmacherei statt Individualität propagiert.
Keine Gleichmacherei, Individualität ist gefordert
Das Leistungsangebot muss sich der Individualität der Versicherten anpassen. Die sachgerechte Berücksichtigung der individuellen Bedarfslagen der Versicherten stellt eine Massenverwaltung wie die gesetzliche Rentenversicherung als größtem Leistungsträger mit jährlich rund einer Million Anträgen vor erhebliche Probleme. Diese sog. Strukturverantwortung hat der Gesetzgeber gesehen und im dafür zuständigen Sozialgesetzbuch IX gute Regelungen getroffen: Die Leistungsträger müssen auf eine fachlich und regional ausreichende und qualitativ entsprechende Anzahl von Reha-Einrichtungen achten. Dabei sollen auch freie und gemeinnützige Träger belegt werden. Außerdem können die Rentenversicherungsträger auch Maßnahmen in trägereigenen Einrichtungen durchführen. Alles in allem möchte der Gesetzgeber eine Vielfalt der Leistungsanbieter. Durch das Gesetzesvorhaben wird das Gegenteil erreicht.
Was ist zu tun?
Eine Konzentration auf vier oder fünf große Gesundheitskonzerne entspricht auf dem Gebiet der Rehabilitation nicht dem Willen des Gesetzgebers, sie wäre sozial- und gesundheitspolitisch verfehlt und würde einer klugen Rehabilitation, die auf die unterschiedlichen Bedarfe der Versicherten abstellt, deutlich zuwiderlaufen. Die Rentenversicherungsträger könnten so ihrer Strukturverantwortung nicht mehr gerecht werden. Statt diesen schon vor Corona unbrauchbaren Gesetzentwurf weiterzuverfolgen, sollte sich das BMAS schleunigst Gedanken darüber machen, wie die vorhandene, vielfältige Reha-Landschaft erhalten bleiben kann. Dabei müssen auch die Rentenversicherungsträger selbst Verantwortung übernehmen. Die Mittel hätten sie dazu, denn wie in jeder Krise werden die Anträge auf Reha-Leistungen zunächst einbrechen. Dies darf nicht zu einem Kliniksterben führen, denn gute Reha-Einrichtungen und -Konzepte brauchen wir nach Corona.
Prof. Dr. Ralf Kreikebohm, Institut für Rechtswissenschaften, TU Braunschweig