Das vermessene Leben

Mit Hilfe von Apps und Wearables wie Fitness-Armbändern und Smartwatches können wir über unseren Körper und über unser Leben täglich Daten sammeln. Psychoanalytikerinnen und Soziologen sind in einer großangelegten Studie den psychodynamischen Funktionen dieses so genannten Self-Trackings nachgegangen. Die Ergebnisse des Projekts wurden auf der 72. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT) e.V. vorgestellt. Der größte Psychoanalyse-Kongress in Deutschland fand im Online-Format von 1. bis 3. Oktober 2021 statt.

Schritte, Geschwindigkeit, Atemfrequenz, Blutdruck, Puls, Schlaf, Gewicht und Kalorien: Viele Menschen erfassen ihre Körperdaten und ihr Gesundheitsverhalten mit Hilfe von technischen Geräten oder digitalen Tools. Diese digitale Selbstvermessung, auch Self-Tracking genannt, soll zu einem gesünderen Leben und letztlich zu mehr Selbsterkenntnis verhelfen. Doch Self-Tracking kann auch unbewusste psychische Funktionen haben, wie eine Studie herausgearbeitet hat. „Im Wesentlichen geht es um die Kontrolle von inneren unbewussten Vorgängen, die sich eigentlich einer Kontrolle entziehen“, sagt Prof. Benigna Gerisch von der Internationalen Psychoanalytischen Universität (IPU) Berlin und eine von drei Projektleiter*innen der Studie „Das vermessene Leben“. Die Ergebnisse der Studie präsentierte die Professorin auf der 72. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT) e.V. in ihrem Online-Vortrag. Unter dem Motto „Zeitdiagnosen?!“ fand der größte Kongress für Psychoanalyse dieses Jahr vom 1. bis 3. Oktober 2021 im Online-Format statt.

Laut einer Umfrage von Statista 2018 nutzen 37 Prozent der Befragten eine Sport- oder Fitness-App, am häufigsten trackt die Altersgruppe der 30- bis 39-Jährigen. Auch so genannte Schlaftracker – Geräte, die die verschiedenen Schlafphasen auswerten – liegen im Trend. „Zählen, Messen und Vergleichen – das gibt praktische Orientierung und kann auf der psychischen Ebene für Halt und Stabilität sorgen“, erklärt Prof. Gerisch. „Zugespitzt formuliert kann exzessives Self-Tracking genauso wie selbstverletzendes Verhalten, Drogenkonsum oder eine Essstörung den Versuch darstellen, unbewusste Ängste, innere Konflikte, Leere oder depressive Gefühle in den Griff zu bekommen.“ Die transdisziplinäre Studie – zur Projektleitung gehören neben Gerisch die Professorin für Soziologie und psychoanalytische Sozialpsychologie Prof. Vera King und der Soziologe Prof. Hartmut Rosa – beruht auf einer Online-Befragung von 1.000 Personen sowie auf psychodynamisch orientierten Interviews mit 64 Männern und Frauen.

Auch andere Phänomene der Digitalisierung, wie das „Social Scoring“, bei dem autoritäre Staaten Zugriff auf das Denken und Handeln der Bürgerinnen und Bürger erlangen können, oder auch die „digitale Gefolgschaft“, also die Verlagerung herkömmlicher sozialer Bindungen in Social Media, Apps und Internet, standen bei der Tagung auf dem Programm. Das vollständige Programm der Jahrestagung finden Sie hier: https://dgpt.de/dgpt-jahrestagung-2021

Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie e.V. (DGPT), 29.09.2021