Angehörigenarbeit im Rahmen der Suchthilfe

Am 1. Juli 2022 erschien die „Apotheken Umschau“ mit dem Titelthema „Im Netz der Sucht. Eine Abhängigkeit betrifft nie nur den Abhängigen selbst. Wo Angehörige Hilfe finden“. Diese Schlagzeilen auf der Titelseite machten schon den Tenor des im Heftinneren folgenden Artikels deutlich: Die Angehörigen werden vergessen und übersehen, so auch die Klage des später interviewten Psychologen und Psychotherapeuten Jens Flassbeck. Der Beitrag wollte also zu Recht auf eine Lücke im Suchthilfesystem aufmerksam machen, nämlich dass die ganze Aufmerksamkeit von Politik und Forschung nur auf dem Hilfesystem für suchtkranke Menschen liege, nicht aber bei den Angehörigen. Abhängigkeit sei ein „soziales System“ und Angehörige von Suchtkranken litten, wie Suchtkranke selbst, häufig unter Depressionen, Angststörungen oder psychosomatischen Symptomen. Die wissenschaftliche Forschung in diesem Bereich sei „dürftig“.

So richtig das für viele Jahrzehnte in der Suchtforschung und Suchthilfe gewesen ist, so wenig trifft es aber für die letzten Jahre zu, denn sowohl im Bereich der Forschung als auch im Hilfesystem selbst wird der Angehörigenarbeit mittlerweile ein größerer Stellenwert eingeräumt! Die Forschungsarbeiten der Lübecker Suchtforscher um Gallus Bischof (z. B. Bischof 2017) machen das deutlich. Die Lübecker Forscher erkennen die Bedeutung des lange Zeit wenig untersuchten Themas, ebenso wie der Kölner Suchtforscher Michael Klein, der das Thema der „suchtbelasteten Kinder“ in den Fokus rückte (z. B. Klein 2001), was von den verschiedenen Sucht- und Drogenbeauftragten der Bundesregierung spätestens seit 2001 dankbar aufgegriffen wurde.

Das Thema Angehörige greift auch die Suchttherapeutin und Suchtforscherin Larissa Hornig in ihrer kürzlich publizierten Untersuchung „Angehörigenarbeit im Rahmen der Suchthilfe. Empfehlungen für eine verbesserte Praxis“ auf. Sie stellt dar, dass in verschiedenen Studien die negativen Auswirkungen von Substanzgebrauchsstörungen auf die Gesundheit von Angehörigen vielfach und eindeutig belegt wurden. Dementsprechend stellen auch Angehörige eine wichtige Zielgruppe für die Suchthilfe dar, für die es ein flächendeckendes und bedarfsorientiertes Unterstützungsangebot zu schaffen gilt. Es ist richtig, dass es sich bei Substanzgebrauchsstörungen (SGS) nahezu immer auch um eine Beeinträchtigung und Störung des gesamten Beziehungs- und Familiensystems handelt und die Auswirkungen des Alkohol- oder Substanzkonsums ebenfalls für Angehörige von Betroffenen in irgendeiner Form spürbar werden. Sinnvoll wäre es allerdings, den Familienbegriff noch zu erweitern und darunter nicht nur die „traditionelle Familie (Frau-Mann-Kind) zu verstehen, sondern unterschiedliche Beziehungsformen und Lebenspraktiken einzubeziehen (Patchworkfamilien, gleichgeschlechtliche Beziehungen etc.). Dies ist in der Suchthilfe noch nicht angekommen. Spezifische Angebote etwa für gleichgeschlechtliche Partner:innen gibt es m.W. so gut wie nicht in der Suchthilfe.

Wichtig bleibt jedoch die Erkenntnis, dass Angehörige von Menschen mit Substanzgebrauchsstörungen eine eigenständige Zielgruppe für die Suchthilfe repräsentieren und genau wie die Betroffenen selbst oftmals Unterstützung benötigen. Richtigerweise kritisiert Larissa Hornig den Begriff der Co-Abhängigkeit als eine Viktimisierung, die in diesem Kontext vor allem Frauen und Partnerinnen betrifft. Zu Recht wird auch kritisiert, dass in den ambulanten Entwöhnungsbehandlungen zwar bis zu zwölf Gruppen- und Einzelgespräche mit Bezugspersonen möglich sind und die Einbeziehung des sozialen Umfelds somit zwar selbstverständlich geworden ist, jedoch vom Kostenträger enge Grenzen gesetzt sind und es sich folglich eher um familienbezogene Therapien als um Familientherapie handelt.

Mittlerweile existieren einige gute Ansätze, die nach wie vor nicht flächendeckend in Institutionen der Suchthilfe implementiert sind, jedoch als vielversprechende Orientierung für die Praxis auch in Deutschland dienen können, etwa die Multidimensionale Familientherapie (MDFT), die in den USA bereits seit längerem praktiziert wird. Die MDFT wurde in Deutschland mit positiven Ergebnissen im Rahmen eines Projektes zur Unterstützung von Eltern, deren Kinder Probleme mit dem Cannabiskonsum entwickelt haben, erprobt. Flächendeckend ist das Konzept aber bis heute nicht umgesetzt worden. Larissa Hornigs Publikationen sollte in den Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe große Aufmerksamkeit finden. Ich kann das Buch nur dringend empfehlen!

Bibliografische Angaben:
Larissa Hornig
Angehörigenarbeit im Rahmen der Suchthilfe
Empfehlungen für eine verbesserte Praxis
Nomos, Baden-Baden 2023, 148 Seiten, broschiert
ISBN 978-3-8487-7595-8
39,00 €

Literatur:
  • Bischof, G. (2017) Sucht und Angehörige: Suchttherapie 2017; 18(04): 171 DOI: 10.1055/s-0043-120420
  • Klein, M. (2001) Kinder aus alkoholbelasteten Familien – Ein Überblick zu Forschungsergebnissen und Handlungsperspektiven [Children of alcohol abusing or dependent parents – a review of research results and treatment perspectives]. Suchttherapie 2, 118 – 124.

Rezension: Dr. Ingo Ilja Michels, April 2023
Dr. Ingo Ilja Michels, Soziologe, Fachberater für Suchtkrankenhilfe, tätig in verschiedenen Forschungsprojekten an der Frankfurt University of Applied Sciences, langjähriger Leiter des Arbeitsstabes der Drogenbeauftragten der Bundesregierung im Bundesministerium für Gesundheit
Kontakt: ingoiljamichels@gmail.com