Abbruchquote und Therapievorbereitung in Zeiten der Pandemie

Die Fachklinik Hirtenstein im Oberallgäu ist eine stationäre medizinische Rehabilitationsklinik für alkohol- und medikamentenabhängige Männer sowie Männer mit pathologischem Glücksspielverhalten. Träger ist der Deutsche Orden, eine Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Sitz in Weyarn. Als Träger ist der Deutsche Orden mit seinen Ordenswerken in der Altenhilfe, Behindertenhilfe, Suchthilfe sowie der Kinder- und Jugendhilfe tätig. Der Bereich Suchthilfe führt zwölf Rehabilitationskliniken, 17 soziotherapeutische Einrichtungen und zwei ambulante Beratungs- und Therapiezentren. Die Fachklinik Hirtenstein verfügt über 74 Therapieplätze im ersten Schritt der medizinischen Rehabilitationsbehandlung und acht Adaptionsplätze.

2018 und 2919 lag die Quote der irregulären Entlassungen (disziplinarische Entlassungen und Abbrüche) bei durchschnittlich elf Prozent, also bei 32,3 Patienten über das ganze Jahr, ohne Häufung zu einem Zeitpunkt im Therapieverlauf. Die im Nahtlosverfahren sowie von den Suchtfachambulanzen gut vorbereiteten Patienten kamen mit hoher Motivation in der Klinik an, sodass sofort Therapie beginnen konnte mit Zielformulierung auf der Grundlage unseres tiefenpsychologischen Behandlungskonzepts. Seit Anfang des Jahres 2021 beobachten wir nun zunehmend – v. a. zunehmend belegungs- und wirtschaftlich relevant – Behandlungsabbrüche innerhalb der ersten drei Wochen bei ungebrochen hoher Zuweisungs- und Aufnahmequote.

Anstieg der Behandlungsabbrüche

Im Jahr 2019 hatte die Fachklinik Hirtenstein 294 Aufnahmen, im Jahr 2020 291 und im ersten Halbjahr 2021 152 Aufnahmen; die Aufnahmezahl der Vorjahre wird also 2021 extrapoliert übertroffen. Trotz dieser hohen Aufnahmequote sinkt die Belegung kontinuierlich. Nachweislich ist die Zahl der Entlassungen „vorzeitig ohne ärztliches Einverständnis“ seit dem 2. Quartal 2020 kontinuierlich gestiegen. Wie in Tabelle 1 dargestellt wird, hat sich die Zahl der Abbrüche seit dem 2. Quartal 2020 bis 2. Quartal 2021 mehr als verdoppelt (Anstieg von 7,94 auf 18,67). Hinzu kommen disziplinarische Entlassungen mit einem Mittelwert von ungefähr 7,0.

Tab. 1: Zahl der Behandlungsabbrüche (ohne disziplinarische Entlassungen) 2. Quartal 2020 bis 2. Quartal 2021

Zwei Drittel der Behandlungsabbrüche geschehen innerhalb der ersten zwei Wochen, ein Viertel der Abbrecher verlässt die Klinik in der dritten Woche, wenn nach dem Behandlungskonzept der Übergang von der Aufnahmephase in die Behandlungsphase vollzogen ist, also die Gruppentherapie intensiv beginnt. Im ersten Halbjahr 2021 kamen 16 Patienten im Nahtlosverfahren. Von ihnen brachen nur sechs die Therapie innerhalb der ersten drei Wochen ab. Alle anderen abbrechenden Patienten kamen aus Suchtfachambulanzen oder psychosozialen Beratungsstellen.

Unsere These, die zur Ermittlung der nun vorliegenden Zahlen geführt hat, lautet: Aufgrund der veränderten Beratungsmodalitäten als Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie sind Patienten unzureichend auf die stationäre medizinische Rehabilitation vorbereitet.

Auswirkungen der veränderten Beratungsmodalitäten

Mitte März 2020 stellten die Beratungsstellen und Suchtfachambulanzen auf Weisung ihrer Träger innerhalb eines Tages die persönliche Vorbereitung der Klienten sowie die Gruppenangebote ein. Bis heute lesen wir in vielen Sozialberichten, dass die Beratung der Klienten und die Beantragung zur Entwöhnungsbehandlung telefonisch erfolgte. Wenn doch eine persönliche Beratung stattfand, dann im Einzelkontakt, da die meisten Beratungsstellen immer noch keine Gruppenangebote durchführen (können).

Mit unseren Zahlen sehen wir unsere These bestätigt und nehmen an, dass Patienten, die ohne persönliche Gespräche und v. a. ohne motivationale Behandlung in der Gruppe, was vor der Coronapandemie Standard in den Suchtfachambulanzen war, in die Fachklinik kommen, zwar ein Einsehen in Krankheit und Behandlungsbedürftigkeit haben, aber weder mit therapeutischen Techniken vertraut sind noch mit der Gruppensituation. Die Begründung für den frühzeitigen Abbruch der meisten Patienten ist, „hiermit nichts anfangen zu können“, „das ist nichts für mich“, „so habe ich mir das nicht vorgestellt“ usw. Auch persönliches Bemühen um die Patienten sowie die Bitte, die Entscheidung ein paar Tage zu überdenken, ändern nichts an deren Entschluss abzubrechen.

Vergleichsweise weniger Frühabbrecher entfallen auf die Patienten, die im Nahtlosverfahren zu uns kommen. Hier nehmen wir an, dass sie im Akutkrankenhaus bereits sowohl die Gruppensituation kennengelernt haben als auch mit therapeutischer Fragestellung und Haltung konfrontiert worden sind.

Wir können evident darlegen, dass wir trotz der im Vergleich zu den Vorjahren noch steigenden Aufnahmequote aufgrund irregulärer Entlassungen – z. B. 24 im 2. Quartal 2021 (18,67 Abbruch, 5,33 disziplinarisch) – einen erheblichen Einbruch in der Belegung hinnehmen müssen. Ursächlich dafür scheint die eingeschränkte Vorbereitung der Patienten durch externe Stellen, da Einzel- und Gruppengespräche gar nicht bzw. nur teilweise stattfinden. Gestützt wird die These dadurch, dass es unter den Patienten, die im Nahtlosverfahren in die Behandlung kommen, weniger Frühabbrecher gibt aufgrund vorheriger Kenntnis von Gruppeneffekten und bereits begonnener Reflexion durch therapeutische Intervention in der therapeutischen Beziehung.

Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass suchtkranke Patienten ganz wesentlich von einer hinreichenden motivationalen Vorbereitung nicht nur auf kognitiver Ebene, sondern auch im therapeutischen Beziehungserleben mit ebenfalls Betroffenen sowie therapeutisch Tätigen, profitieren.

Abgesehen davon ist anzunehmen, dass die hohe Abbruchquote (sofern sie auch in anderen Kliniken zu beobachten ist) sowohl gesundheitsökonomisch als auch volkswirtschaftlich zu einem Problem führen wird, da die Patienten nach Abbruch der Therapie selbstverständlich nicht abstinieren.

Auf Grund der erhobenen Zahlen scheint den Suchtberatungsstellen über Beratung und Vermittlung hinaus in zweierlei Hinsicht die Schlüsselrolle für den Erfolg des Rehabilitationsbeginns zuzukommen: Sie übernehmen die z. T. langwierige Motivation und langsame Annäherung an therapeutisches Handeln, und sie initiieren erste Gruppensituationen in der real erlebten therapeutischen Beziehung. Ohne diese beziehungsorientierte Vorarbeit der Beratungsstellen müsste die Rehabilitationsbehandlung deutlich früher, also schon bei der Motivationsarbeit ansetzen, so dass Zeit für die vertiefte biographische Arbeit mit den Patienten fehlt. Langfristig würden Abstinenzzahlen und somit der Reha-Erfolg, die Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit, sinken.

Dr. Ursula Fennen MBA
Chefärztin Fachklinik Hirtenstein