Thomas Rasch, Jane van Well

Kooperation von Suchthilfe und Wohnungslosenhilfe

Jane van Well

Thomas Rasch

In Deutschland leben derzeit etwa eine Viertelmillion Menschen ohne eigenen Mietvertrag (wohnungslose Geflüchtete nicht miteingerechnet). Wohnungslose Frauen und Männer sind sehr häufig krank: Weit mehr als die Bevölkerung mit Wohnung leiden sie unter Mehrfacherkrankungen verschiedener Art, insbesondere an psychischen Beeinträchtigungen und manifesten Suchterkrankungen. Die Mortalität ist ungleich höher. Ein wohnungsloser Mensch erreicht im Durchschnitt kaum sein 50. Lebensjahr.

Niedrigschwellige Hilfen kümmern sich sowohl in der Suchthilfe als auch in der Wohnungslosenhilfe um Menschen mit Multiproblemlagen. Häufig agieren wesentliche Hilfsdienste von Sucht- und Wohnungslosenhilfe jedoch unverzahnt nebeneinander, statt ihre Kompetenzen zusammenzulegen und gemeinsam Menschen zu helfen, die in prekären Umständen leben. Das zeigt sich teilweise auch in der Stimmung und der gegenseitigen Einschätzung: die Wohnungslosenhilfe verhalte sich co-abhängig und die Suchthilfe lasse Wohnungslose durch zu hochschwellige Angebote außen vor.

Zutreffend ist, dass die Schwerpunkte der Zuständigkeiten und „Aufträge“ in den beiden Hilfesystemen zunächst unterschiedlich sind: Während die Suchthilfe sich um Hilfen für Menschen mit riskantem oder missbräuchlichem Suchtmittelkonsum im Sinne einer bio-psycho-sozialen Erkrankung (vgl. Anerkennung von Alkoholismus als Krankheit im Jahr 1968 durch das Bundessozialgericht) kümmert, stehen bei der Unterstützung wohnungsloser Menschen deren soziale Schwierigkeiten in „besonderen Lebensverhältnissen“ im Vordergrund. Dazu gehören eben insbesondere fehlende Wohnmöglichkeiten. Auch die Durchsetzung von individuellen (sozialen) Rechten wohnungsloser Mensch spielt eine besondere Rolle im Hilfeverständnis der Wohnungslosenhilfe.

Die Schnittmenge der Klientel: wohnungslos UND suchtkrank

Zahlreiche Studien belegen, dass rund 75 Prozent der Menschen in „besonderen Lebensverhältnissen“ mit „sozialen Schwierigkeiten“ suchtkrank und/oder – wenn auch nicht diagnostiziert – seelisch beeinträchtigt sind, oftmals begründet in langjährigen Obdach- bzw. Wohnungslosigkeiten, unterschiedlich ausgeprägter Verwahrlosung und sozialer Verrohung. Dennoch scheint das Thema Abhängigkeitserkrankungen nicht immer die angemessene Berücksichtigung und Bedeutung in den Positionspapieren und Konzepten der Wohnungslosenhilfe zu finden, sieht man von sporadischen Angeboten zum „Kontrollierten Trinken“ ab, die dazu beitragen sollen, die Trinkmengen betroffener wohnungsloser Menschen zu reduzieren.

Herangehensweise der Wohnungslosenhilfe

Der fachliche Fokus in der Wohnungslosenhilfe bezieht sich eher darauf, die „Verarmung und soziale Ausgrenzung wohnungsloser Menschen“ zu verhindern, sowie auf deren „gesellschaftliche Integration“. Das ist absolut nachvollziehbar, wenn man den § 67 SGB XII betrachtet, der von pflichtgemäßer Leistungserbringung zur Überwindung von – durch ausgrenzendes Verhalten geprägten – „sozialen Schwierigkeiten“ bei Personen in normabweichenden „besonderen Lebensverhältnissen“ spricht, sofern jene aus eigener Kraft hierzu nicht in der Lage seien. Weiter geht aus § 67 SGB XII hervor: Sobald die Abhängigkeitserkrankung (eine nach WHO anerkannte seelische Erkrankung) im Vordergrund stünde, fiele die Bearbeitung derselben in die Leistungserbringerschaft der Eingliederungshilfe im SGB IX und damit die Klientel heraus aus der Zuständigkeit der Facheinrichtungen der Wohnungslosenhilfe, was nicht in deren Sinne ist.

Ähnliche „Ausgrenzungstendenzen“ finden sich auch in der Suchthilfe, in deren fachlichem Fokus die Beratung, Begleitung und Behandlung von Menschen mit Substanzkonsumstörungen liegt.

Herangehensweise der Suchthilfe

Sozialarbeiterisch geprägte Suchthilfe beschäftigte sich lange mit ihrer eigenen therapeutischen Qualifizierung für Behandlungsmaßnahmen jeglicher Art und konzentrierte sich lange Zeit auf im weitesten Sinne behandlungswillige Klientel, deren Motivation und Veränderungsbereitschaft durch Lebenskrisen (point of no return) hervorgerufen worden war. Auf der Strecke blieben allerdings häufig die oben beschriebenen Menschen mit ihren mannigfachen Problemstellungen, denn sie sind oft nicht in der Lage, eigenständig Beratungs- und Behandlungseinrichtungen jedweder Art aufzusuchen oder einen Behandlungsplan zu absolvieren. Vielmehr bedarf es hier aufsuchender Arbeit bzw. niedrigschwelliger Suchthilfe, um überhaupt die Bereitschaft zur Annahme suchtspezifischer Hilfen zu entwickeln. Auch fehlt es nicht selten an Kooperationen der Suchthilfe mit angrenzenden Hilfegebieten der Allgemeinen Sozialberatung  und/oder der Fachberatung Wohnungslosenhilfe.

Hiermit werden wesentliche Problemkreise deutlich, die eine gesamtgesellschaftliche soziale Herausforderung darstellen.

Aktuelle Entwicklungen in beiden Hilfefeldern

Der oben beschriebenen Situation begegnet die Wohnungslosenhilfe i.d.R. mit breitestmöglicher Erreichbarkeit, niedrigschwelligen Angeboten sowie einer guten Vernetzung mit kommunalen Ämtern (Soziales, Wohnung) und selten mit Blick auf gesundheitliche Belastungen des Einzelnen.

Die Suchthilfe ist schon lang nicht mehr nur auf die Abhängigkeit von einer bestimmten Substanz bezogen, sondern fokussiert den Menschen in aktuellen Lebenssituationen oder betrachtet seinen erlernten Umgang mit gewachsenen belastenden Themen seiner Lebensgeschichte. Hier geht es also nicht mehr um die Frage „Schnaps oder Heroin?“, sondern um soziale Herausforderungen, an denen Menschen zugrunde gehen oder nicht. Dieser Verschiebung wurde in der Suchthilfe vielerorts Rechnung getragen, indem Drogenberatungsstellen, die den Fokus auf Heranwachsende legten, und traditionelle Suchtberatungsstellen, die sich eher Menschen mit „konventionellen“ Alkoholkonsumstörungen widmeten, zusammengelegt wurden. So profitierten beide Angebote voneinander: Die klassisch hochschwellig und therapeutisch ausgerichtete Beratungsstelle wurde um den niedrigschwelligen Ansatz der „Jugend- und Drogenberatung“ mit aufsuchender Sozialarbeit ergänzt. So konnte nun neben der „sprechstundentauglichen Termin-Klientel“ auch die Gruppe der verelendeten Straßenklientel, die der Einladung in Sprechstunden nicht folgen konnte, durch proaktives Aufsuchen im Rahmen der Straßensozialarbeit erreicht werden.

Und hier wurde die große Schnittmenge beider Hilfesysteme – Sucht- und Wohnungslosenhilfe – sichtbar, sind doch viele chronisch Abhängigkeitskranke ebenfalls sozial verelendet, leben ohne eigene Wohnadresse auf der Straße und können ihren Alltag nur noch mithilfe von Suchtmitteln durchstehen.

Möglichkeiten der Zusammenarbeit … von der Wohnungslosenhilfe her gedacht

Menschen, deren Lebensmittelpunkt die Straße oder der Park ist, finden in den Kontaktläden der Wohnungslosenhilfe Ansprechpartner:innen für soziale Fragen, aber auch Ruheräume, Möglichkeiten der Tagesstruktur oder schlicht Grundversorgung wie Essen und Trinken sowie sanitäre Angebote. Orientiert an ihren Lebensumständen hilft dieser Personengruppe die Entwicklung von Angeboten, die auf niedrigschwelligem Niveau beginnen.

Hier geht es vor allem darum, Menschen eine Perspektive zu geben, Selbstwirksamkeitskräfte und Ressourcen zu wecken, bspw. mit niedrigschwelligen Beschäftigungsangeboten, die Rücksicht auf die kräftezehrenden Lebensumstände der Teilnehmenden nehmen. Diese Angebote können einen hoch sinnstiftenden Effekt haben. In diesen niedrigschwelligen Angeboten können die ansonsten verschieden sozialisierten Berufsgruppen der Sucht- und Wohnungslosenhilfe gemeinsam wirken und Unterstützung schaffen.

Möglichkeiten der Zusammenarbeit … von der Suchthilfe her gedacht

Streetwork der Suchthilfe wurzelt historisch in der Drogenhilfe für jugendliche Konsument:innen und hat sich mittlerweile häufig für alle „User-Szenen“ auf den Straßen, in Parks und vor Bahnhöfen etabliert. Niedrigschwellige Hilfen für Konsument:innen von Suchtmitteln (Safer Use, Spritzentausch, Ernährung, Schlafangebote, Tagesstruktur etc.) dienen der existenzsichernden und gesundheitlichen Grundversorgung und damit der Sofort- und Überlebenshilfe. Diese Hilfen, die ohne Voraussetzungen in Anspruch genommen werden können, bieten gleichzeitig einen Zugang zu weiterführenden Angeboten der Suchthilfe und sind damit der Ort des niedrigschwelligsten Zugangs.

Was bisher konkret geschah

2013 formulierte die Caritas-Suchthilfe (CaSu) bereits das Positionspapier „Niedrigschwellige Hilfen für Menschen mit suchtbezogenen Problemlagen“, in dem sie zur Zusammenarbeit von Sucht- und Wohnungslosenhilfe aufrief. Hieran anschließend bildete sich im Auftrag der Vorstände der beiden Bundesarbeitsgemeinschaften CaSu und Katholische Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (KAG W) eine paritätisch besetzte Projektgruppe, die sich konkret mit Fragestellungen zur verbesserten Kooperation beider Hilfefelder auseinandersetzte. Ein bisheriges Ergebnis ist ein gemeinsam entwickeltes Diskussionspapier im Jahr 2021 zum „Verständnis der niedrigschwelligen Sucht- und Wohnungslosenhilfe-Angebote der Caritas“. Die Arbeit wird in einer offenen Arbeitsgruppe (AG Sucht- und Wohnungslosenhilfe) fortgeführt.

Im intensiven Austausch dieser gemeinsamen Arbeitsgruppe zu den unterschiedlichen Positionen, Traditionen und Kulturen zweier an sich eng verwandter Arbeitsfelder zeigen sich Synergiemöglichkeiten der Fachdisziplinen, die bisher noch weitgehend ungenutzt geblieben sind.

Ziele

Die grundlegende Empfehlung der Arbeitsgruppe an die beiden Hilfefelder bedeutet für die Wohnungslosenhilfe, Suchtphänomene intensiver handlungsleitend wahrzunehmen, und für die Suchthilfe, ihre klinische Perspektive um die Wahrnehmung der Breite sozialer Lebenssituationen zu erweitern und den Blick über das Familiensystem hinaus auf das gesamte Umfeld zu richten. Für beide Hilfefelder gilt, ihre Angebote vor Ort, stärker als bisher, konzeptionell und strukturell, auf der Grundlage eines gemeinsamen Hilfeverständnisse und einer gemeinsamen „Sprache“ zu vernetzen.

Ergebnisse sollen die Auflösung starrer Positionen im eigenen Feld zugunsten gegenseitiger Unterstützung und ein Gewinn an Perspektiven sein. Enge Zusammenarbeit, gelegentlich auch Fusion, zumindest aber gemeinsame Konzeptionierung von Sucht- und Wohnungslosenhilfe sind unabdingbar.

Wenn das Ziel aller Aktivitäten der Wohlfahrtsverbände in Deutschland die Verbesserung von Lebenslagen gesellschaftlich Benachteiligter ist, so heißt dies bei der Caritas: Not sehen und Handeln. Damit ist die Zielrichtung eindeutig: Zuvorderst stehen Menschen, die sich (noch) nicht selbständig um Beendigung ihrer Notlagen kümmern können. Folglich müssen die in diesem Artikel fokussierten Hilfebedürftigen den Kern aller Bemühungen darstellen.

Über die AG Sucht- und Wohnungslosenhilfe
Seit 2010 beschäftigte sich ein Arbeitskreis der CaSu, bestehend aus Mitgliedern und Vorständen, mit der Problematik „Niedrigschwellige (Sucht-)Hilfen“ und verfasste 2013 ein entsprechendes Positionspapier. Hieraus ergab sich die Initiative, zudem externe Mitstreiter:innen bei der Katholischen Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (KAG-W) für eine Projektgruppe zu finden. Diese Projektgruppe fasste ihre Arbeitsergebnisse 2021 in einem Diskussionspapier zusammen. Schließlich kam es zur zeitlich unbefristeten AG Sucht- und Wohnungslosenhilfe, in der sich zweimal jährlich Praktiker:innen über ihre Erfahrungen austauschen. Geleitet wird diese AG gemeinsam von Jane van Well, Vorstandsmitglied der KAG-W, und Thomas Rasch, Vertreter des CaSu-Rates.

Veröffentlichungen:

Kontakt:

Jane van Well
SKM Köln – Sozialdienst Katholischer Männer e. V.
Große Telegraphenstraße 31
50676 Köln
Jane.vanWell(at)skm-koeln.de

Thomas Rasch
Caritasverband für den Kreis Mettmann e. V.
Johannes-Flintrop-Straße 19
40822 Mettmann
thomas-rasch(at)gmx.de

Angaben zu den Autor:innen:

Jane van Well ist Diplom-Sozialarbeiterin und Kriminalpräventionsfachkraft. Sie leitet beim SKM Köln (Sozialdienst Katholischer Männer e. V.) das Sachgebiet „Niedrigschwellige Hilfen“.
Thomas Rasch ist Diplom-Sozialpädagoge und Sozialtherapeut (Integrative Suchttherapie). Bis Frühjahr 2023 verantwortete er als Bereichsleiter in der Geschäftsleitung des Caritasverbandes Mettmann u. a. die Abteilung Rehabilitation „Menschen in Krisen“.