Prof. Dr. Derik Hermann, Dr. Dirk Kratz

Kontrollierte, legale Abgabe von Cannabis in Deutschland

Dr. Dirk Kratz

Prof. Dr. Derik Hermann

„Cannabis ist die am häufigsten konsumierte illegale Droge in Deutschland.“ Mit diesem Satz beginnen zahlreiche journalistische Artikel zu Cannabis, um die gesamtgesellschaftliche Bedeutung dieser Substanz zu unterstreichen. Wird THC-haltiges Cannabis, wie derzeit von der Bundesregierung geplant, legal und kontrolliert abgegeben, könnte Cannabis in Zukunft realistischer eingeordnet werden. „Cannabis ist die am dritthäufigsten konsumierte legale Substanz nach Alkohol und Tabak und verursacht im Vergleich zu den beiden letzteren nur einen Bruchteil der gesellschaftlichen Probleme, Gesundheitsschäden und Todesfälle“, könnte es dann heißen.

In diesem Artikel werden die Gründe und Ziele der beabsichtigten legalen Abgabe und eine mögliche Ausgestaltung diskutiert. Als Grundlage dient eine Stellungnahme von Derik Hermann zum FDP-Antrag „Cannabis zu Genusszwecken kontrolliert an Erwachsene abgeben – Gesundheits- und Jugendschutz stärken“ im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages am 21.06.2021.

Gründe für eine kontrollierte Abgabe an Erwachsene zu Genusszwecken

Das Ziel, die Verfügbarkeit und den Konsum von Cannabis durch ein Verbot mit strafrechtlicher Verfolgung zu unterbinden, ist fehlgeschlagen.

Etwa 225.000 der 360.000 Rauschgiftdelikte des Jahres 2019 (64 Prozent) waren durch Cannabis verursacht. Bezogen auf die gesamte Rauschgiftkriminalität waren etwa 80 Prozent konsumnahe Delikte wie der Besitz kleiner Mengen zum Eigengebrauch (Bundeskriminalamt 2019). Nachdem in den Jahren 2006 bis 2012 jährlich 125.000 bis 150.000 Cannabisdelikte verfolgt wurden, kam es seit 2013 zu einem Anstieg um ca. 50 Prozent auf 225.000 Fälle.

Die deutliche Steigerung der Strafverfolgung hat nicht zu einem Rückgang des Cannabiskonsums geführt. Trotz des Verbotes von Cannabis ist die 12-Monats-Prävalenz des Cannabiskonsums bei Männern von 6,7 Prozent (2012) auf 10,3 Prozent (2018) und bei Frauen von 3,4 Prozent (2012) auf 6,2 Prozent (2018) gestiegen (Seitz et al. 2019). Auch das Ziel, durch Strafverfolgung die Verfügbarkeit von Cannabis zu reduzieren, ist fehlgeschlagen. 57 Prozent der 15- bis 24-Jährigen geben an, Cannabis leicht innerhalb von 24 Stunden besorgen zu können (Eurobarometer 2014). Entsprechende Zahlen für andere Drogen liegen deutlich niedriger (Heroin zehn Prozent, Kokain 18 Prozent, Ecstasy 19 Prozent). Die strafrechtliche Verfolgung von konsumnahen Cannabisdelikten bindet einen großen Anteil der Arbeit von Polizei, Gerichten und Justizvollzugsanstalten, die an anderer Stelle fehlt. Durch das Verbot von Cannabis wandern hohe Summen in den Schwarzmarkt und ermöglichen Verkäufer:innen und der mit ihnen verbundenen organisierten Kriminalität Investitionen in anderen kriminellen Bereichen.

Das Verbot von Cannabis erhöht die gesundheitlichen Risiken von Cannabiskonsum.

Aufgrund des Verbotes von Cannabis erfolgt keine Qualitätskontrolle der Cannabisprodukte. Sie können Pestizide, Düngemittel, Blei (Busse et al. 2008) oder synthetische Cannabinoide enthalten, die zu Gesundheitsschäden führen. Der Wirkstoff Tetrahydrocannabinol (THC) ist berauschend und verantwortlich für cannabis-induzierte Gesundheitsschäden, während Cannabidiol (CBD) nicht berauschend wirkt und die gesundheitsschädliche Wirkung von THC reduziert. Daher wäre es aus gesundheitlicher Sicht besser, wenn der THC-Gehalt niedrig und der CBD-Gehalt hoch wäre. In Folge des Cannabisverbotes hat sich in den USA der THC-Gehalt von etwa vier Prozent im Jahr 1995 auf etwa zwölf Prozent im Jahr 2012 erhöht (Volkow et al. 2014). In Deutschland betrug er 2019 16,7 Prozent für Haschisch (Reitox Bericht 2019) und 13,1 Prozent für Cannabisblüten (Reitox Bericht 2018). CBD wurde aus neueren Cannabissorten herausgezüchtet. Sie enthalten nur noch geringe CBD-Konzentrationen unter einem Prozent (Chandra et al. 2019).

Ein weiteres Problem stellen Räuchermischungen mit synthetischen Cannabinoiden („Spice“) dar, die eine bis zu 100-fach stärkere Wirkung als THC aufweisen, mit stärkeren Gesundheitsschäden als bei THC verbunden sind und zu Todesfällen geführt haben. Synthetische Cannabinoide werden vor allem dann konsumiert, wenn der Konsum wegen der Illegalität von Cannabis nicht entdeckt werden soll, also in Justizvollzugsanstalten und im Straßenverkehr. Daher können das Aufkommen und der Erfolg von synthetischen Cannabinoiden als direkte Folgen des Verbotes von Cannabis angesehen werden.

Die gesundheitlichen Risiken von Cannabis sind bekannt (siehe CaPRis-Studie) und deutlich geringer als die von Alkohol und Tabak.

Die gesundheitlichen Risiken von Cannabis wurden in der CaPRis-Analyse 2018 im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums gut zusammengefasst. Die Risiken von Cannabiskonsum beinhalten psychische Störungen wie vorübergehende neuropsychologische Defizite, das Auftreten von Angststörungen (erhöht um Faktor 1,3 bis 1,7), Depressivität (erhöht um Faktor 1,3 bis 1,6), Psychosen (bei leichtem Konsum um Faktor 1,4 bis 2,0 erhöht, bei hohem Konsum um Faktor 2,0 bis 3,4) und eine Abhängigkeit von Cannabis (bei ca. neun Prozent der Konsumenten). Körperliche Folgen betreffen das Atemsystem und ein erhöhtes Hodenkrebsrisiko. Die Datenlage bzgl. kardiovaskulärer Effekte und anderer Krebserkrankungen war teils widersprüchlich, von schlechter Qualität oder nicht ausreichend, um chronische Schäden durch Cannabis nachzuweisen.

Durch akuten Cannabiskonsum erhöht sich das Verkehrsunfallrisiko um den Faktor 1,25 bis 2,66 (zum Vergleich: durch Alkohol um den Faktor 6 bis 15). Wenn in jungem Alter mit dem Cannabiskonsum begonnen wird, ist Cannabiskonsum mit einem geringeren Bildungserfolg assoziiert (für eine ausführliche Darstellung vgl. Hermann 2015).

Jugendliche sind durch Drogenkonsum besonders gefährdet und müssen besonders geschützt werden.

Das Gehirn wird während der Pubertät neurobiologisch umgebaut, neuronale Netzwerke werden verändert und Hirnzentren neu verknüpft. Das wird durch körpereigene Cannabinoide (Endocannabinoide) gesteuert. Wenn in dieser Zeit Cannabis konsumiert wird, können diese fein abgestimmten Umbauprozesse nicht mehr korrekt ablaufen. Das führt zu lebenslangen Veränderungen der neuronalen Verknüpfungen, die eine geringere Intelligenz und ein erhöhtes Risiko für psychische und Suchterkrankungen begünstigen können (Jacobus et al. 2019, Salmanzadeh et al. 2020). Allerdings verhindert das Verbot von Cannabis den Konsum durch Jugendliche nicht. Der Anteil der 12- bis 17-Jährigen, die mindestens schon einmal Cannabis konsumiert haben, ist von 8,3 Prozent (2016) auf 9,6 Prozent (2018) gestiegen. Der Schwarzmarkt fragt nicht nach dem Alter. Leider hat Cannabis das Image einer Jugenddroge – dieses Image muss dringend verändert werden. Hierzu müssen Prävention, Jugendschutz, Suchtberatung und Behandlungsangebote erweitert, intensiviert, besser koordiniert und finanziert werden. Fachkräfte der Suchthilfe können besser zu einer Verhaltensänderung bzgl. des Drogenkonsums motivieren als das Strafrecht bzw. Polizei und Justiz.

Die aktuell wichtigste Frage: Wie soll ein kontrollierter, legaler Verkauf von Cannabis für Erwachsene ausgestaltet werden?

Nachdem klar ist, dass die im Jahr 2021 eingesetzte Bundesregierung eine kontrollierte, legale Abgabe von Cannabis an Erwachsene einführen möchte, muss geklärt werden, mit welchen Zielen, unter welchen Bedingungen und mit welchen Kontrollmechanismen die Cannabislegalisierung organisiert werden soll.

Je nachdem, welche Ziele verfolgt werden, zeigen sich große Unterschiede in der Praxis. Die unterschiedlichen Auswirkungen können in Ländern beobachtet werden, die den Cannabisverkauf bereits legalisiert haben. In den Niederlanden können aktuell Erwachsene ab 18 Jahren bis fünf Gramm Cannabis in Coffeeshops erwerben und dort oder im privaten Raum konsumieren. Es gibt aber keine legale Möglichkeit, Cannabis in den Niederlanden anzubauen und zu produzieren – die Coffeeshops kaufen daher Cannabis auf dem Schwarzmarkt. Dadurch werden systematisch hohe finanzielle Mittel in kriminelle Bereiche geleitet. In den Bundesstaaten der USA, die Cannabis legalisiert haben, stehen neben Themen des Gesundheitsschutzes vor allem wirtschaftliche Interessen von teilweise börsennotierten Unternehmen im Vordergrund. Entsprechend soll Cannabis ein positives Image erhalten und der Konsum bequem und in ansprechendem Umfeld ermöglicht werden. Im Rahmen der wirtschaftlichen Interessen wird ein Wachstum des Cannabismarktes angestrebt. Die Verkaufsmenge wird durch Werbung, Produktdifferenzierung (Cannabis in Getränken oder Süßigkeiten) und eine Ausweitung des Marktes auf mehr Konsument:innen gesteigert. Die Kund:innen sollen häufiger und in größeren Mengen konsumieren.

Das steht im Konflikt zu den Interessen des Gesundheitsschutzes, der gefährdete Personen wie Jugendliche, Schwangere und an Psychosen Erkrankte vom Konsum ausschließen und nicht zum Konsum motivieren möchte. Eine am Gesundheitsschutz orientierte Cannabislegalisierung begrenzt gefährliche Konsumformen wie häufigen, hochdosierten Konsum und beinhaltet eine Informationspflicht über Risiken. Diese Maßnahmen verfolgen das Ziel, den Konsum möglichst gering zu halten und nicht auszuweiten. Es soll zwar ein legaler Konsum ermöglicht werden, dieser soll aber gesundheitsorientierte Einschränkungen bzgl. der Verfügbarkeit von Cannabis und öffentlicher Konsummöglichkeiten sowie Informationspflichten und Verbraucherschutz beinhalten.

In Deutschland haben sich die Regierungsparteien im Koalitionsvertrag 2021 auf folgende Formulierung geeinigt: „Wir führen die kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften ein. Dadurch wird die Qualität kontrolliert, die Weitergabe verunreinigter Substanzen verhindert und der Jugendschutz gewährleistet. Das Gesetz evaluieren wir nach vier Jahren auf gesellschaftliche Auswirkungen. Modelle zum Drugchecking und Maßnahmen der Schadensminderung ermöglichen und bauen wir aus.“ (Koalitionsvertrag, S. 68) Das heißt, dass Verbraucher:innenschutz und Jugendschutz im Vordergrund stehen und Einschränkungen in der Verfügbarkeit  vorgesehen sind. In einem strukturierten Konsultationsprozess wurden zentrale Fragestellungen in diesem Zusammenhang unter Leitung des Sucht- und Drogenbeauftragten der Bundesregierung, Burkhard Blienert, erörtert. Als Ziel wurde genannt, noch im Jahr 2022 einen ersten Gesetzentwurf vorzulegen.

Das Eckpunktepapier der Bundesregierung zur Einführung einer kontrollierten Abgabe von Cannabis

Am 26.10.2022 hat die Bundesregierung ein Eckpunktepapier zur Einführung einer kontrollierten Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken veröffentlicht. Die wichtigsten Inhalte werden im Folgenden vorgestellt. Zu beachten ist, dass es sich hierbei nicht um einen Gesetzentwurf handelt, sondern um eine so genannte Interpretationserklärung gegenüber der EU-Kommission, um den völker- und europarechtlichen Rahmen des Gesetzesvorhabens zu berücksichtigen (Bundesgesundheitsministerium 2022).

Als Ziele der kontrollierten Abgabe von Cannabis werden ein verbesserter Jugendschutz und Gesundheitsschutz und eine Eindämmung des Schwarzmarktes genannt. Cannabis und Tetrahydrocannabinol (THC) sollen künftig rechtlich nicht mehr als Betäubungsmittel eingestuft werden. Die Produktion, Lieferung und der Vertrieb von Genusscannabis sollen zukünftig durch Lizenzen staatlich kontrolliert werden. Der Erwerb und Besitz von 20 bis 30 Gramm Cannabis zum Eigenkonsum im privaten und öffentlichen Raum soll ab 18 Jahren straffrei sein unabhängig vom THC-Gehalt des Cannabis. Ein privater Eigenanbau von drei weiblichen blühenden Pflanzen pro erwachsener Person soll erlaubt werden mit einigen Auflagen zum Kinder- und Jugendschutz. Laufende Strafverfahren und Ermittlungsverfahren zu dann nicht mehr strafbaren Handlungen werden beendet, wenn das Gesetz in Kraft tritt.

Genusscannabis soll in lizenzierten Fachgeschäften und gegebenenfalls Apotheken abgegeben werden. Bei jedem Betreten eines Cannabisfachgeschäftes soll eine Alterskontrolle erfolgen, da das Mindestalter für die Abgabe 18 Jahre betragen soll. In den Fachgeschäften darf nur Cannabis verkauft werden, keine anderen Produkte und insbesondere kein Tabak und Alkohol. Die Betreiber:innen und das Verkaufspersonal müssen Sachkundenachweise zu Beratungs- und Präventionskenntnissen erbringen. Zusätzlich muss es pro Verkaufsstelle eine Ansprechperson für den Jugendschutz geben. Zudem soll bei jedem Verkauf ein Beratungsgespräch angeboten werden mit aufklärenden Informationen über Cannabis, Konsumrisiken, risikoarmen Konsum sowie Hinweisen auf Suchtberatungsstellen. Im Bereich von Schulen, Kitas, auf Spielplätzen, in öffentlichen Parks sowie an weiteren Orten, an denen sich Kinder und Jugendliche regelmäßig aufhalten wie z. B. Fußgängerzonen bis 20 Uhr, wird der öffentliche Konsum von Cannabis verboten. Es werden strenge Vorgaben für die Umverpackung von Cannabis gemacht. Qualität und Reinheit des Cannabis werden kontrolliert.

Werbung für Cannabis-Produkte soll generell untersagt werden, ebenso der Verkauf von synthetisch hergestellten Cannabinoiden. Die Abgabe von Cannabis soll normal der Umsatzsteuer unterliegen; ob eine zusätzliche „Cannabissteuer“ erhoben wird, ist noch in Prüfung. Denn der Preis soll nahe dem aktuellen Schwarzmarktpreis liegen, um Konsument:innen ein Umsteigen auf legales Cannabis zu erleichtern. Handel treiben und in Verkehr bringen ohne Lizenz oder das Überschreiten der Höchstmenge sollen weiterhin strafbar bleiben. Es sollen Cannabisprodukte zum Rauchen, Inhalieren und für nasale oder orale Aufnahme zugelassen werden, z. B. Kapseln, Sprays und Tropfen, und das Bundesnichtraucherschutzgesetz soll auch bezüglich des Rauchens von Cannabis gelten. Eine Erweiterung auf „Edibles“ (Cannabis in Lebensmitteln oder Getränken, z. B. THC-haltige Gummibärchen) soll nach spätestens vier Jahren geprüft werden.

Zusätzlich soll eine Plattform mit Informationen zu Cannabis und zum Gesetz  eingerichtet werden, in der auch Informationen zu Angeboten für Prävention, Beratung, Behandlung sowie zu Wirkung, Risiken und Safer Use zur Verfügung gestellt werden. Die Aufklärungs- und Präventionsarbeit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung soll verstärkt werden, ebenso die cannabisbezogene Forschung. Auch ist eine mediale und kommunikative Begleitung der kontrollierten Ausgabe von Cannabis durch die Bundesregierung geplant. Die cannabisbezogene Aufklärungs- und Präventionsarbeit sowie zielgruppenspezifische Beratungs- und Behandlungsangebote werden weiterentwickelt.

Für Minderjährige soll also der Anbau, Erwerb und Besitz von Cannabis weiterhin verwaltungsrechtlich verboten bleiben. Verstöße werden durch Bußgelder geahndet. Für konsumierende Jugendliche sollen aber niedrigschwellige und flächendeckende Frühinterventionsprogramme zur Konsumreflektion eingeführt werden. Behörden wie z. B. das Jugendamt können Minderjährige bei Konsum oder Besitz von Cannabis zu einer Teilnahme an einem Frühinterventions- oder Präventionsprogramm verpflichten. Die universelle, selektive und indizierte Prävention in den Lebenswelten soll entsprechend ausgebaut werden, vor allem in Schulen, Berufsschulen, im Internet und in den sozialen Medien, in Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen, in Einrichtungen, die mit kognitiv eingeschränkten Personen arbeiten, in Sportvereinen und der Arbeitswelt. Und natürlich sollen auch Informations-, Präventions- und Fortbildungsangebote für Erwachsene mit verschiedenen Zielgruppenschwerpunkten ausgebaut werden, z. B. für konsumunerfahrene Personen sowie Vielkonsumierende, aber auch für deren soziales Umfeld.

Die wissenschaftlichen „Lower-Risk Cannabis Use Guidelines”

Im Jahr 2011 hat eine Gruppe internationaler Wissenschaftler:innen erstmals evidenzbasierte Empfehlungen herausgegeben, um die Risiken des Cannabiskonsums zu reduzieren. Die Empfehlungen wurden 2017 und 2021 anhand neuer wissenschaftlicher Literatur aktualisiert (Fischer et al. 2022). Die Evidenz wurde anhand einer fünfstufigen Skala eingeschätzt (sehr hoch, hoch, mittel, gering, sehr gering). Durch das streng wissenschaftliche Vorgehen wird vermieden, dass politisch motivierte Meinungen oder allgemeine Mythen Einzug in die Empfehlungen halten. Auch die Einflussnahme von Lobbyisten und Lobbyistinnen, die eine Deregulierung der Verfügbarkeit bzw. des Konsums anstreben (z. B. Vertreter:innen der Cannabisindustrie), wird reduziert. Die Empfehlungen der „Lower-Risk Cannabis Use Guidelines” eignen sich gut als Grundlage für Informationskampagnen und Beratungsgespräche in den für Deutschland geplanten Cannabisfachgeschäften. An dieser Stelle sei auf die Original-Veröffentlichung in englischer Sprache verwiesen, die zum Download verfügbar ist.

Diskussion

Chancen

Das Verbot von Cannabis hat den Cannabiskonsum in den letzten Jahrzehnten nicht reduziert, es fördert gesundheitsschädliche Konsumformen und erscheint im Vergleich zu dem viel schädlicheren Alkohol unangemessen. Durch die strafrechtliche Verfolgung werden Polizei und Justiz belastet, und es fließen hohe finanzielle Mittel in den Schwarzmarkt. Erfahrungen mit einer Cannabislegalisierung aus anderen Ländern zeigen, dass der Cannabiskonsum unter Erwachsenen nicht oder nur moderat ansteigt und bei Jugendlichen weitgehend unverändert bleibt. Diese Erfahrungen zeigen auch, dass es maßgeblich von der Ausgestaltung der Legalisierung abhängt, ob es zu negativen Effekten kommt.

Die aktuelle Bundesregierung hat ein Eckpunktepapier vorgelegt, in dem Jugend- und Gesundheitsschutz an erster Stelle stehen. Detailreich werden alle Fragen von Anbau über Verkauf und Prävention geregelt. Das Ziel, den Cannabiskonsum nicht zu fördern, aber für diejenigen, die nicht darauf verzichten wollen, so wenig schädlich wie möglich zu gestalten, ist in diesem Papier aus suchtmedizinischer Perspektive gut gelungen. Besonders wichtig sind Prävention und Information, die langfristig dazu beitragen können, verantwortungsvoll mit Cannabis umzugehen und das Image von Cannabis als „Jugenddroge“ zu revidieren.

Mit der Fokussierung auf den Gesundheitsschutz treten andere Ziele in den Hintergrund, die aber auf sekundärer Ebene sowie in der laufenden Diskussion eine Rolle spielen. Beispielsweise werden immer wieder justizielle Ziele wie die Reduktion des Schwarzmarktes und die Entlastung der Strafverfolgung genannt. Auch wenn diese Ziele weitere gute Gründe darstellen, die für eine Legalisierung sprechen, muss hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung ein Schwerpunkt gesetzt werden. International wird eine am Gesundheitsschutz orientierte Cannabislegalisierung als der beste Weg gesehen, Chancen und Risiken auszubalancieren und zu einer Weiterentwicklung der Suchtpolitik im Sinne der öffentlichen Gesundheit beizutragen. Ohne Schwerpunktsetzung droht ein bürokratisches Chaos mit der Folge einer legalen Abgabe, die alle Ziele verfehlt, da sie sowohl an der Zielgruppe als auch an einer realistischen Umsetzung vorbei agiert. Gegner:innen der Freigabe könnten dann argumentieren, dass sie mit ihrer These, durch die Freigabe würde sich die Situation nicht verbessern, recht behalten hätten.

Das Eckpunktepapier der Bundesregierung zur Cannabislegalisierung gibt einen soliden Rahmen für eine staatliche Kontrolle bzgl. Anbau, Produktion, Vertrieb und Konsum vor. Negative Auswirkungen, die in anderen Ländern beobachtet wurden, z. B. das Verbot der Produktion von Cannabis, das in den Niederlanden den Schwarzmarkt aufrechterhält, oder die Förderung des Cannabiskonsums durch Werbung und Produktdiversifikation aus wirtschaftlichen Gründen, wie in einigen US-Bundesstaaten, sollen vermieden werden. In dem aktuellen Gesetzgestaltungsprozess wurden und werden Erfahrungen aus anderen Ländern systematisch aufgearbeitet. Dabei werden wichtige Fragen wie der Preis, Prävention, Informationspflichten, wo konsumiert werden darf, wie mit konsumierenden Minderjährigen umgegangen werden soll und die Höhe der Steuer diskutiert. Dies eröffnet die große Chance, einen angemessenen gesellschaftlichen Umgang mit Cannabis zu finden und Fehler, die im Umgang mit Alkohol und Tabak in der Vergangenheit gemacht wurden, nicht zu wiederholen. Wichtig zu erwähnen ist, dass mit einer kontrollierten Freigabe der Umgang mit Cannabis nicht für alle Zeit geregelt ist. Die Diskussion wird uns anders als zu Verbotszeiten weiterhin auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen begleiten – und das ist gut!

Bedenken der Suchthilfe

Über die genannten politischen Ziele hinaus beschäftigen die Suchthilfe noch andere Aspekte. An vielen Stellen wird ein Informations- bzw. Kommunikationsdefizit deutlich. Ein Großteil der Fachkräfte in der Suchthilfe hat über viele Jahre hinweg – u. a. aus Gründen der Gefahr der justiziellen Verfolgung – seine Klient:innen eher selten im Sinn eines akzeptanzorientierten Ansatzes beraten oder behandelt, obwohl wissenschaftliche Harm reduction-Ansätze wie die Lower-Risk Cannabis Use Guidelines verfügbar sind. Teilweise sind die Klient:innen auch erst im Rahmen der Strafverfolgung zu den Fachkräften gekommen. Zudem kennen viele Fachkräfte in erster Linie diejenigen Konsument:innen, die mit Cannabis nicht gut umgehen können und einen schädlichen Gebrauch bzw. eine Suchterkrankung entwickelt haben. Befürchtungen, es werde mit einer kontrollierten Freigabe von Cannabis zu einem Anwachsen jener Behandlungsfälle kommen, sind aus dieser Perspektive also nur verständlich. Empirisch sind sie jedoch nicht eindeutig bestätigt. Auch die horrenden gesellschaftlichen Auswirkungen der hohen Verfügbarkeit von Alkohol bei gleichzeitig hohem Schadenspotenzial lassen viele Fachkräfte zurückschrecken, wenn sie sie auf die geplante Freigabe von Cannabis übertragen. Umso wichtiger ist es, jene Erfahrungen und Erwartungen ernst zu nehmen und in einen breiten Kommunikations- und Beteiligungsprozess überzuleiten.

Auf der anderen Seite darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Deutschland als erstes europäisches Land den Weg einer „echten“ Legalisierung von Cannabis einschlägt und damit nach einer jahrelangen Stagnation in der Drogenpolitik viel Bewegung in den Suchthilfebereich kommt. Dieser politische Schritt kommt einem suchtpolitischen Pfadbruch (vgl. Werle 2007) gleich, der einerseits Unsicherheiten, andererseits aber auch ein hohes Innovationspotenzial in sich trägt. Die Bearbeitung vieler stockender Fragen in der Suchthilfe wie die Entstigmatisierung von Konsument:innen, ein Neustart der Präventionspolitik, eine auskömmliche Finanzierung und die gesetzliche Fixierung von Suchtberatung als Teil der psychosozialen Daseinsvorsorge oder auch eine Neubewertung von Rausch in unserer Gesellschaft rückt in greifbare Nähe. Lassen wir uns diese Gelegenheit nicht entgehen!

Die hier vertretenen Auffassungen geben die Meinung der Verfasser wieder und entsprechen nicht unbedingt der Meinung der Redaktion.

Kontakt:

Prof. Dr. Derik Hermann, Dr. Dirk Kratz
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Angaben zu den Autoren:

Prof. (apl) Dr. med. Derik Hermann, Chefarzt Therapieverbund Ludwigsmühle, Facharzt Psychiatrie und Psychotherapie
Dr. phil. Dirk Kratz, Diplom-Pädagoge, Geschäftsführer Therapieverbund Ludwigsmühle gGmbH, stv. Vorsitzender fdr+ Fachverband Drogen- und Suchthilfe e.V.

Literatur: