„Sucht muss wahrgenommen werden“

Marlene Mortler, Drogenbeauftragte der Bundesregierung

Marlene Mortler, Drogenbeauftragte der Bundesregierung

Die Reha leistet viel, sie bringt Menschen zurück ins soziale und berufliche Leben. Auf dieses Potential will jährlich der Deutsche Reha-Tag mit Aktionen rund um die Rehabilitation aufmerksam machen. Dieses Jahr fand am 13. September in der Fachklinik Haus Immanuel in Hutschdorf, einer Klinik für alkohol- und medikamentenabhängige Frauen, die Auftaktveranstaltung zum Reha-Tag statt. Das Besondere an der Fachklinik Haus Immanuel ist, dass die Rehabilitandinnen ihre Kinder mitbringen können, die dort in einem klinikinternen Kindergarten betreut werden.

Schirmherrin des diesjährigen Reha-Tages ist die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler, die in ihrer Begrüßungsrede bei der Auftaktveranstaltung die wichtige Funktion der Reha innerhalb des Suchthilfesystems hervorhob. Die Suchtreha bietet eine ganzheitliche Behandlung mit qualifiziertem Personal. Angesichts sinkender Antragszahlen ist es wichtig, wieder mehr Menschen auf diese Chance aufmerksam zu machen. Auch Klinikleiter Gotthard Lehner betonte, dass Sucht wahrgenommen werden muss, sowohl das Leiden der betroffenen Menschen als auch das Angebot der Sucht-Reha.

Während der Tagung herrschte eine entspannte und konstruktive Atmosphäre

Während der Tagung herrschte eine entspannte und konstruktive Atmosphäre.

Über die Bedeutung der Suchtreha aus Sicht der Leistungsträger referierte Melanie Blaha-Prell von der Deutschen Rentenversicherung Nordbayern. Sie stellte Zahlen zur Antragsstellung (Suchtreha und Reha insgesamt; DRV Nordbayern und DRV insgesamt) vor und erklärte, unter welchen Voraussetzungen die DRV Kostenträger einer Rehabilitation ist. Christof Lawall, Geschäftsführer der DEGEMED, beschäftigte sich in seinem Vortrag mit den Folgen der Migration für das Gesundheitssystem und insbesondere die Rehabilitation. Momentan tragen die Kommunen die Kosten für die Gesundheitsversorgung der Asylbewerber, ein Anspruch auf Reha-Leistungen besteht nicht. Dr. Volker Weissinger, Geschäftsführer des Fachverbands Sucht e. V. (FVS), gab einen Überblick über Zugangswege in die Suchtreha. Er stellte drei Bereiche dar, denen aktuell das größte Potential zugesprochen wird, noch mehr Betroffene zu erreichen: niedergelassene Ärzte, Entgiftung/Entzug sowie Case Management. Dr. Wibke Voigt, Chefärztin der Fachklinik Kamillushaus in Essen und Vorsitzende des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss), referierte über den Zusammenhang von Trauma und Sucht. Suchtkranke sind, wie mittlerweile zahlreiche Studien belegen, deutlich häufiger als die Allgemeinbevölkerung durch Gewalterfahrungen, sexuelle Gewalterfahrungen oder Vernachlässigung traumatisiert. Wenn frühe Bindungserfahrungen jedoch gelingen, ist dies das beste Rüstzeug gegen eine Suchterkrankung. Georg Wiegand, langjähriger Mitarbeiter der  Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover, berichtete über die Entwicklung der BORA-Empfehlungen (berufliche Orientierung in der Rehabilitation Abhängigkeitskranker) und betonte die Wiederherstellung der Erwerbstätigkeit als Ziel der Reha.

v.l.n.r.: Christof Lawall, Dr. Wibke Voigt, Prof. Dr. Andreas Koch, Dr. Volker Weissinger, Georg Wiegand

v.l.n.r.: Christof Lawall, Dr. Wibke Voigt, Prof. Dr. Andreas Koch, Dr. Volker Weissinger, Georg Wiegand

Als weiterer Programmpunkt fand am Nachmittag eine Podiumsdiskussion der Experten statt. Moderiert wurde sie – ebenso wie die gesamte Veranstaltung – von Prof. Dr. Andreas Koch, Geschäftsführer des buss. Erläutert wurden Möglichkeiten für bessere Behandlungsverläufe und Zugangswege. Gut funktionieren durchgängige Behandlungsketten innerhalb großer Träger. Über den Konsiliardienst können auch Patienten aus der somatischen Behandlung erreicht werden, bei denen ein Suchtproblem vorliegt. Ein zentrales Thema der Diskussion waren mögliche Gründe für den Antragsrückgang. Hier könnte es z. B. helfen, die Jobcenter zu sensibilisieren, um Betroffene zu identifizieren und anzusprechen. Wichtig sind dabei eine gute Vernetzung mit dem Suchthilfesystem und die entsprechenden personellen Ressourcen. Weiterhin dringend geboten ist die Entstigmatisierung der Suchtkrankheit – z. B. durch eine Kampagne –, damit sich Suchtpatienten nicht in den Psychiatrien ‚verstecken‘, sondern qualifizierte Suchtbehandlungen in Anspruch nehmen. Fragen aus dem Publikum betrafen u. a. die therapeutische Betreuung der Kinder von Suchtkranken, die bisher nur als „Begleitkinder“ mitgenommen werden können. Hierzu bedarf es einer besseren Zusammenarbeit an den Schnittstellen der Sozialsysteme.

Das Schlusswort der Tagung hielt Dr. Joachim Drechsel, Vorstandsvorsitzender der DGD-Stiftung. (Der Deutsche Gemeinschafts-Diakonieverband, DGD, ist Träger der Fachklinik Haus Immanuel.) Dr. Drechsel appellierte an die Anwesenden, weiterhin „Botschafter des Wahrnehmens“ zu bleiben: des Wahrnehmens hilfebedürftiger Menschen und entwicklungsbedürftiger Rahmenbedingungen. Für ihre weitere Arbeit wünschte er allen Beteiligten gutes Gelingen und Gottes Segen.

Für musikalische Unterhaltung sorgte sehr passend – mal nachdenklich, mal aufgekratzt, mal mit dem im Alltag überlebenswichtigen Humor – der Liedermacher Klaus-André Eickhoff.

Einen Filmbeitrag über die Veranstaltung finden Sie hier.

Simone Schwarzer/Redaktion KONTUREN, 22.09.2016