Wechselwirkungen zwischen verletzendem Verhalten und institutionellen Rahmenbedingungen

Dr. Elke Alsago

Prof. Dr. Nikolaus Meyer
1. Suchthilfe: Eine Einführung ins Arbeitsfeld aus Sicht Sozialer Arbeit
Die Suchthilfe ist ein eigenständiges, zugleich hochdifferenziertes Handlungsfeld der Sozialen Arbeit (Kempster 2021), das eng mit weiteren sozial- und gesundheitspolitischen Systemen verknüpft ist (Hansjürgens 2016; Hansjürgens et al. 2025). Charakteristisch ist die Einbindung von Angeboten der Suchthilfe direkt wie indirekt in unterschiedliche Sozialgesetzbücher (SGB II, III, V, VI, VIII, IX, XII), was sowohl Zuständigkeiten als auch Handlungskonzepte prägt (Pauly 2024; Abstein 2012). Daraus ergibt sich ein multiprofessionelles Feld, in dem verschiedene Berufsgruppen in differenzierten Zuständigkeiten agieren (Deimel & Hornig 2024).
Die ambulante Suchthilfe wurde nach dem Zweiten Weltkrieg vorrangig durch Fachkräfte der Sozialen Arbeit professionalisiert (Helas 1997). Sie ist meist Teil kommunaler Daseinsvorsorge und folgt damit einer sozialarbeiterischen Logik. Demgegenüber ist die stationäre Suchthilfe im Gesundheitssektor verortet, dominiert von medizinischen Berufsgruppen und durch Regelungen der Renten- und Krankenversicherung (SGB V, VI) strukturiert (Deimel & Hornig 2024; Hansjürgens 2016).
Das ambulante Hilfespektrum reicht von niederschwelligen Kontaktläden und Drogenkonsumräumen über psychosoziale Beratungsstellen – die mit rund 1.500 Einrichtungen den Hauptanteil ausmachen (Deimel & Hornig 2024, S. 20) – bis hin zu betreutem Wohnen und Nachsorgeprojekten. Die ambulanten Einrichtungen sind die erste Anlaufstelle für Betroffene und Angehörige, sie bieten Motivationsklärung, Beratung und Vermittlung in weiterführende Hilfen. Fachkräfte übernehmen hier Einzelfallhilfe, Netzwerkarbeit, Arbeit im Gemeinwesen und in der Prävention (Hansjürgens 2015; Laging 2023). Die stationäre Suchthilfe umfasst qualifizierte Entzugsbehandlungen, Rehabilitation und sozialtherapeutische Wohnangebote. Zwar werden die beiden erstgenannten Leistungen primär medizinisch verantwortet, zunehmend wirken jedoch Sozialarbeiter:innen bei Reintegration, Krisenintervention und Nachsorge mit (Hansjürgens 2015; Hansjürgens 2016).
Die Trägerlandschaft ist vielfältig: Neben kommunalen Einrichtungen dominieren freie Träger, insbesondere Wohlfahrtsverbände (Abstein 2012). Die Finanzierung erfolgt je nach Angebot über kommunale Mittel, gesetzliche Renten- und Krankenversicherung, Eingliederungshilfe, Landesmittel oder projektbezogene Förderungen. Diese Strukturvielfalt bringt zugleich erhebliche Steuerungsprobleme mit sich, insbesondere bei Übergängen zwischen Hilfeformen.
Trotz multiprofessioneller Ausrichtung kommt Fachkräften der Sozialen Arbeit eine zentrale Rolle zu. In ambulanten Suchthilfe-Einrichtungen machen sie mit 63,5 Prozent die größte akademische Berufsgruppe aus, während der Anteil an Psycholog:innen (8,3 Prozent) und Ärzt:innen (2,3 Prozent) deutlich geringer ist (Deimel & Hornig 2024, S. 20). Ihre Aufgaben umfassen die Bearbeitung sozialer Problemlagen, Fallsteuerung, Beziehungsgestaltung, sozialrechtliche Beratung und Netzwerkarbeit (Laging 2023). Insbesondere bei vulnerablen Gruppen (z. B. wohnungslose, migrantische oder psychisch erkrankte Personen) sind sie zentral, um Teilhabe zu ermöglichen (Hansjürgens 2016).
Das Arbeitsfeld Suchthilfe ist nicht nur komplex, sondern auch fragmentiert (Deimel, Moesgen & Schecke 2024): Die Vielfalt an Sozialgesetzbüchern führt zu Überschneidungen, Leerstellen und Zuständigkeitskonflikten, etwa bei jugendlichen Konsument:innen oder Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus. Für Fachkräfte bedeutet das, auch zwischen Systemen zu agieren (Abstein 2012).
2. Suchthilfe und verletzendes Verhalten
Gewaltphänomene im Kontext Suchthilfe werden bisher primär bezogen auf das Verhalten von Klient:innen thematisiert (Laging 2023; Sommerfeld 2021). Eine systematische Differenzierung des Auftretens von Gewalt bleibt in vielen Beiträgen jedoch aus (Hornig 2023; Klein 2022; Vogt 2022; DHS 2021). Hier werden entweder einzelne Gewaltformen untersucht oder nur solche, die innerhalb einer spezifischen Gruppe oder zwischen zwei spezifischen Gruppen auftreten. Diese vorliegende Studie greift diese Forschungslücke auf und untersucht anhand einer bundesweiten Online-Befragung, wie häufig Beschäftigte in der Sozialen Arbeit – darunter auch in der Suchthilfe – mit Gewalt konfrontiert sind, wie sie diese bewerten und welche strukturellen Bedingungen verletzendes Verhalten begünstigen (Meyer & Alsago 2025a–e).
Zur systematischen Erhebung wurden fünf Gewaltformen im Fragebogen definiert und mit Beispielen versehen (Bundschuh 2023):
- Sexualisierte Gewalt: Dies sind schwerwiegende, nicht einvernehmliche Handlungen wie das Zeigen von Pornografie gegenüber Kindern, das Erzwingen sexueller Handlungen an sich selbst oder Dritten, exhibitionistische Handlungen, ungewollte Berührungen oder Penetration gegen den Willen der Betroffenen (ebd., S. 28).
- Sexuelle Übergriffe: Dies sind gezielte, grenzüberschreitende Handlungen mit sexuellem Bezug, darunter anzügliche Bemerkungen, Witze über den Körper, unerwünschte Berührungen an Brust, Gesäß oder Genitalien sowie das Aufdrängen von Gesprächen über Sexualität (ebd., S. 30f.).
- Sexuelle Grenzverletzungen: Diese umfassen unbeabsichtigte oder unangemessene Handlungen, die die Intimsphäre der Betroffenen verletzen (ebd., S. 28f.).
- Physische Gewalt: Diese Gewaltform beinhaltet beispielhaft Schubsen, Ohrfeigen, Schlagen, hartes Anpacken oder das Werfen von Gegenständen (ebd., S. 26).
- Psychische Gewalt: Sie umfasst Verhaltensweisen wie das absichtliche Ignorieren von Fragen, das Unterbinden sozialer Kontakte, soziale Isolation, aggressives Anbrüllen, Beschimpfungen, Drohungen oder anhaltendes Schweigen (ebd., S. 27).
In der Online-Befragung wurden die verschiedenen Gewaltformen vorgestellt und mit Beispielen versehen. Die Befragung fand vom 18.09. bis 23.10.2024 statt und wurde von 6.383 Beschäftigten aus verschiedenen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit beantwortet. Im Fokus standen Gewalterfahrungen der letzten zwölf Monate in der eigenen Einrichtung sowie das berufliche Alltagserleben. Nach der Bereinigung des Datensatzes – etwa durch den Ausschluss unvollständiger oder doppelter Fragebögen sowie von Personen mit weniger als einem Jahr Berufstätigkeit in der Einrichtung – blieben 3.234 auswertbare Fragebögen. Diese wiederum konnten durch die Angabe des Arbeitsfeldes nach diesen geclustert werden. Die Auswertung für die Suchthilfe basiert auf Angaben von 103 Beschäftigten. Trotz der geringen Größe der Stichprobe ist die Teilnehmendenzahl für den explorativen Charakter der Untersuchung zunächst ausreichend. Die Auswertung erfolgte mittels deskriptivstatistischer Verfahren.
Innerhalb der Suchthilfe-Gruppe verfügen 69,5 Prozent der Befragten über mehr als sechs Jahre Berufserfahrung; 65,2 Prozent arbeiten in Teilzeit, 95,7 Prozent sind unbefristet angestellt. Die Befragten sind zu 86,4 Prozent weiblich. Bezüglich der Trägerschaft arbeiten 33,3 Prozent der Befragten bei freigemeinnützigen Trägern, ebenso viele bei kirchlichen Trägern, 23,8 Prozent sind bei öffentlichen, 9,5 Prozent bei privatwirtschaftlichen Anbietern beschäftigt. Die überwiegende Mehrheit (87 Prozent) arbeitet in ambulanten, 8,7 Prozent in stationären und 4,3 Prozent in teilstationären Einrichtungen. 78,3 Prozent der Befragten sind Sozialarbeiter:innen, gefolgt von Erziehungswissenschaftler:innen (8,7 Prozent) und Heilerziehungspfleger:innen (4,3 Prozent). Die größte Altersgruppe stellen mit 39,1 Prozent die 25- bis 34-Jährigen dar, während die 45- bis 54-Jährigen mit 8,7 Prozent die kleinste Gruppe bilden. Ob diese Verteilung der tatsächlichen Altersstruktur im Arbeitsfeld entspricht, lässt sich mangels amtlicher Daten – wie auch in anderen Bereichen der Sozialen Arbeit – nicht abschließend klären (Meyer 2024).
3. Gewalt in der Suchthilfe
Bei den Angaben der Beschäftigten zur erlebten Gewalt in der eigenen Einrichtung während der letzten zwölf Monate zeigen auch die Beschäftigten aus der Suchthilfe, dass gewaltförmige Konstellationen im Alltag vorkommen.

Abbildung 1: Gewalterfahrungen der Beschäftigten mit Schwerpunkt in der Sozialen Arbeit der Suchthilfe in den vergangenen zwölf Monaten (Angaben in Prozent, eigene Darstellung)
Abbildung 1 verdeutlicht, dass insbesondere zwischen den Klient:innen alle Formen von Gewalt häufig auftreten, wobei psychische Gewalt mit 91,3 Prozent und physische Gewalt mit 56,5 Prozent besonders häufig genannt werden. Auch verletzendes Verhalten von Klient:innen gegenüber Beschäftigten wird häufig berichtet. Hier zeigt sich die gleiche Verteilung: Am häufigsten tritt psychische Gewalt auf (87 Prozent), gefolgt von physischen Übergriffen (45,5 Prozent) sowie sexuellen Grenzverletzungen (45,5 Prozent). Auch hier zeigt sich – ähnlich wie beim verletzenden Verhalten unter Klient:innen (sexuelle Grenzverletzungen 33,3 Prozent, sexuelle Übergriffe 31,6 Prozent und sexualisierte Gewalt 21,1 Prozent) –, dass sexuelle Gewaltformen keineswegs selten sind: 45,5 Prozent der befragten Beschäftigten berichten von sexuellen Grenzverletzungen durch Klient:innen, 13,6 Prozent von sexuellen Übergriffen und 4,5 Prozent von sexualisierter Gewalt.
Auffällig sind Unterschiede zwischen den Settings: Psychische und physische Gewalt unter Klient:innen treten besonders häufig in teilstationären Einrichtungen auf. Sexualisierte Gewalt wird hingegen am häufigsten aus stationären Einrichtungen gemeldet – sowohl unter Nutzer:innen als auch in der Beziehung zwischen Nutzer:innen und Beschäftigten. Auch Gewalt durch Nutzer:innen gegen Fachkräfte sowie Gewalt durch Fachkräfte gegenüber Nutzer:innen zeigt sich stärker in stationären Kontexten. Zwischen Trägerarten (kirchlich, frei, öffentlich) ergaben sich hingegen keine signifikanten Unterschiede.
Ein Vergleich mit der Gesamtstichprobe der Sozialen Arbeit (n = 6.380) macht deutlich, dass die Suchthilfe besonders stark belastet ist. Während im Gesamtdatensatz 80,5 Prozent der Befragten psychische Gewalt durch Nutzer:innen gegenüber Beschäftigten angaben, waren es in der Suchthilfe 87 Prozent. Im Verhältnis zur gesamten Sozialen Arbeit geringer waren dagegen die Angaben zu physischer Gewalt unter Klient:innen (66,1 Prozent vs. 56,5 Prozent).
4. Gewalt, Belastungen und institutionelle Kontexte – Zusammenhänge und Wechselwirkungen
Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung machen deutlich, dass gewaltförmige Dynamiken auch in der Suchthilfe eine reale und verbreitete Herausforderung darstellen. Eine vertiefende Auswertung der erhobenen Daten zeigt signifikante statistische Zusammenhänge auf mittlerem Korrelationsniveau zwischen gewaltbezogenen Erfahrungen und verschiedenen Aspekten der Arbeitsbedingungen. Besonders deutlich wird der Zusammenhang zwischen Gewalt (psychische und physische Gewalt sowohl unter Klient:innen als auch durch diese Gruppe gegenüber Beschäftigten) und Faktoren wie Arbeitsüberlastung, unzureichende Beteiligung, fehlende fachliche Rückendeckung sowie strukturelle Defizite im Arbeitsumfeld.
Psychische Gewalt durch Klient:innen tritt gehäuft dort auf, wo Beschäftigte regelmäßig unbezahlte Mehrarbeit leisten und Arbeitsbedingungen als belastend empfunden werden. In solchen Einrichtungen sind oftmals auch die räumlichen Rahmenbedingungen unzureichend, der Arbeitsalltag ist durch hohen Zeitdruck geprägt (95,9 Prozent) und das Erleben von Ohnmacht und fehlender Wirksamkeit in der eigenen Tätigkeit ist weitverbreitet. 95,7 Prozent der Befragten geben an, sich regelmäßig an der Grenze ihrer Belastbarkeit zu bewegen, während 87 Prozent berichten, dass sie ihre professionellen Standards nicht in vollem Umfang aufrechterhalten können – vielfach (45,5 Prozent) könnte dies durch ein bis zwei zusätzliche Fachkräfte vermieden werden.
Gewalt und mangelnde Beteiligungsstrukturen
Ein besonders prägnanter Zusammenhang zeigt sich zwischen dem Erleben von Gewalt und mangelnden Beteiligungsstrukturen: Dort, wo Klient:innen kaum oder gar nicht in Entscheidungsprozesse einbezogen werden (laut 94,1 Prozent der Befragten findet dies nicht statt) und wo Beschäftigte über relevante Veränderungen am Arbeitsplatz nur selten informiert werden (60,9 Prozent), sind psychische, physische und sexualisierte Übergriffe durch Klient:innen signifikant häufiger. Zugleich ist das Kommunikationsklima angespannt: Nur 45,4 Prozent der Beschäftigten geben an, offen über Probleme sprechen zu können, ohne negative Konsequenzen befürchten zu müssen.
Auch innerhalb von Teams, in denen es in den letzten zwölf Monaten verstärkt zu Konflikten mit Klient:innen oder häufigen Beschwerden gegen Mitarbeitende kam (45,5 Prozent), wird psychische Gewalt durch Klient:innen überdurchschnittlich häufig berichtet. Auffällig ist zudem, dass in nur 39,1 Prozent dieser Fälle eine systematische Aufarbeitung im Team erfolgt – ein Indikator für fehlende institutionelle Reflexionsräume.
Die hohe Belastung spiegelt sich auch in einer auffälligen Personalfluktuation: Durchschnittlich bestand ein Team aus vier Personen, von denen zwei innerhalb eines Jahres die Einrichtung verlassen haben. Lediglich 30,4 Prozent der Teams blieben personell stabil. 30,3 Prozent der Beschäftigten beabsichtigen einen Arbeitsplatzwechsel, 4,3 Prozent zogen sogar einen vollständigen Berufsausstieg in Erwägung.
Sexualisierte Gewaltphänomene lassen sich ebenfalls in Zusammenhang mit bestimmten institutionellen Rahmenbedingungen bringen. So treten sexuelle Grenzverletzungen durch Klient:innen besonders häufig dort auf, wo Nachtarbeit gefordert ist, wo Fachkräfte auch außerhalb ihrer Arbeitszeit erreichbar sein müssen (52,2 Prozent) und wo es an regelmäßiger Supervision oder externer Beratung mangelt. Auch eine fehlende Unterstützung durch Vorgesetzte erhöht das Risiko: In Einrichtungen, in denen respektloses Verhalten durch Führungskräfte berichtet wird oder die Anerkennung für die geleistete Arbeit ausbleibt, steigt die Wahrscheinlichkeit sexualisierter Gewalt gegen Beschäftigte signifikant.
Darüber hinaus zeigen die Daten, dass auch Gewalt durch Fachkräfte gegenüber Klient:innen kein randständiges Phänomen darstellt. Insbesondere in Einrichtungen mit strukturellen Mängeln – etwa fehlenden Mitbestimmungsmöglichkeiten bei methodischen Entscheidungen, geringem Zugang zu Fortbildungen, fehlender Supervision, geringer kollegialer Unterstützung und intransparenten Leitungsentscheidungen – häufen sich Berichte über psychische oder sexualisierte Gewalt durch Beschäftigte. Diese Befunde deuten auf wechselseitige Dynamiken hin, strukturelle Defizite können sich in beide Richtungen der Interaktion gewaltsam entladen – ein Hinweis auf ein institutionell dysfunktionales System.
Besonders verdichtet treten Gewaltphänomene – etwa sexuelle Übergriffe oder sexualisierte Gewalt zwischen Klient:innen – dort auf, wo schlechte Arbeitsbedingungen, Nachtarbeit sowie belastende Umweltfaktoren den Alltag bestimmen. Auch strukturelle Unklarheiten wie unzureichend geklärte Zuständigkeiten, das Fehlen von Rückzugsräumen (nur 5,8 Prozent der Einrichtungen bieten diese für Klient:innen, nur 4,3 Prozent für Beschäftigte) und ein Mangel an Risikoanalysen der Räumlichkeiten (nur in 15,3 Prozent der Schutzkonzepte enthalten) verschärfen die Gefährdungslage.
Gewalt innerhalb des Teams
Ein besonders bemerkenswerter Befund der vorliegenden Studie ist der hohe Anteil an Beschäftigten, die von Gewalt innerhalb des Teams, also zwischen Kolleg:innen, berichten. Mehr als jede zweite befragte Person (62,2 Prozent) gibt an, psychische Gewalt durch Kolleg:innen erlebt zu haben, weitere 15,2 Prozent berichten von sexualisierten Grenzverletzungen innerhalb des Teams. Diese Zahlen sind nicht nur auffällig, sondern auch professionspolitisch von Relevanz: Gewalt in der Arbeitsbeziehung zwischen Beschäftigten ist bislang kaum systematisch untersucht worden – weder in der Suchthilfe noch in der Sozialen Arbeit insgesamt.
Dabei handelt es sich keineswegs um ein exklusives Phänomen der Sozialen Arbeit: Auch in anderen Bereichen wird deutlich, dass betriebsinterne Gewalt – insbesondere psychische Übergriffe – eine unterschätzte, oft tabuisierte Belastung darstellt. Laut Arbeitsunfallstatistik der DGUV werden etwa 30 Prozent der gemeldeten Gewaltunfälle durch betriebsinterne Personen verursacht, wobei davon ausgegangen werden muss, dass die tatsächliche Zahl deutlich höher liegt (DGUV 2023, S. 89; iwd 2021). Gerade Fälle von Mobbing, systematischer Ausgrenzung oder psychischem Druck bleiben häufig unsichtbar, weil sie nicht als meldepflichtige Unfälle erfasst oder von den Betroffenen aus Angst vor Repressalien nicht zur Anzeige gebracht werden (ebd.).
Fachveröffentlichungen zeigen zudem, dass Gewalt zwischen Kolleg:innen häufig dort auftritt, wo Strukturen der Überforderung, Hierarchie und mangelnden Kommunikation vorherrschen. Wenn Rückhalt durch Leitung fehlt, Konflikte nicht bearbeitet und psychisch belastende Situationen nicht ausreichend reflektiert werden, entsteht ein Klima, in dem Eskalationen wahrscheinlicher werden (Paefgen-Laß 2021). Dies deckt sich mit den vorliegenden Befunden: In Einrichtungen mit angespanntem Kommunikationsklima, fehlender Supervision und geringem Vertrauen in die Leitung berichten Beschäftigte signifikant häufiger von psychischer Gewalt durch Kolleg:innen.
Schutzkonzepte bekannt machen und umsetzen
Aus den Daten lassen sich zusammenfassend klare Muster ableiten: Gewalt tritt besonders häufig dort auf, wo strukturelle Unterstützung fehlt, Partizipation unterbleibt, institutionelle Schutzsysteme nicht greifen und die personelle Ausstattung unzureichend ist. Zwar existieren in vielen Einrichtungen formal Schutzkonzepte, jedoch sind diese nur 52,2 Prozent der befragten Personen bekannt. Präventive Maßnahmen sind lediglich in 14 Prozent der Konzepte verankert, konkrete Interventionsstrategien finden sich in 13 Prozent. Systematische Risikoanalysen – bezogen auf räumliche Gegebenheiten sowie auf Interaktionen zwischen Klient:innen und Fachkräften – sind nur in 11,7 Prozent der Schutzkonzepte enthalten.
Die Suchthilfe hebt sich von anderen Arbeitsfeldern ab, da sie Schutzkonzepten eine vergleichsweise hohe Bedeutung beimisst. Jedoch zeigt sich, dass Risikoanalysen zu zwischenmenschlichen Gefährdungslagen trotz hoher Prävalenz verletzenden Verhaltens nur selten vorgenommen werden (9,2 Prozent). Auch bleibt die praktische Umsetzung häufig unkonkret, was die Wirksamkeit dieser Konzepte erheblich einschränkt.
Insgesamt wird deutlich: Gewalt stellt in der Suchthilfe kein individuelles, sondern ein strukturell verankertes Risiko dar. Ihre wirksame Reduktion erfordert daher tiefgreifende Reformen bei der Arbeitsorganisation, der Ausstattung mit personellen Ressourcen sowie der Trägerkultur.
5. Fazit und Ausblick: Gewalt als strukturelle Herausforderung der Suchthilfe
Die Daten machen deutlich, dass gewaltförmige Konstellationen in der Suchthilfe nicht nur punktuell auftreten, sondern mit hoher Regelmäßigkeit und unter bestimmten strukturellen Bedingungen gehäuft vorkommen. Die Suchthilfe stellt ein besonders vulnerables Handlungsfeld dar – nicht zuletzt aufgrund der häufigen Nähe zu akuten Krisen, zur existenziellen Not ihrer Nutzer:innen und zu enthemmenden Wirkungen psychotroper Substanzen. Hinzu kommen prekäre Arbeitsbedingungen, fragmentierte Finanzierungslogiken und institutionelle Unklarheiten in Zuständigkeit und Steuerung. Die Kombination aus diesen Faktoren schafft ein Spannungsfeld, in dem Fachkräfte mit komplexen Herausforderungen konfrontiert sind, jedoch gleichzeitig selten über ausreichende strukturelle Rückendeckung verfügen. Gewalt tritt besonders häufig dort auf, wo Personal fehlt, Partizipation eingeschränkt ist, Leitungskulturen autoritär oder konfliktmeidend sind und Schutzkonzepte nicht greifen oder unbekannt sind.
Der Vergleich mit anderen Feldern Sozialer Arbeit bestätigt diese strukturelle Lesart: Auch in der Wohnungslosenhilfe berichten Beschäftigte von einer hohen Quote von verletzendem Verhalten (Meyer & Alsago 2025e). Doch die Daten zeigen zugleich arbeitsfeldspezifische Unterschiede. So ist das Ausmaß sexualisierter Gewalt in der Wohnungslosenhilfe noch deutlich höher.
Gewalt ist in der Suchthilfe kein Ausnahmefall, sondern Ausdruck eines Systems, das unter struktureller Dauerbelastung steht. Für Praxis und Träger ergibt sich daraus ein klarer Handlungsauftrag: Um Klient:innen und Beschäftigte zu schützen und damit den Grundstein für gelingende Arbeitsbeziehungen zu legen, wird eine grundlegende Neuausrichtung der Rahmenbedingungen der Suchthilfe benötigt. Dazu gehören verbindliche Schutzstandards, ausreichende Personalausstattung, regelmäßige Supervision, niedrigschwellige Beschwerdestrukturen und vor allem eine Trägerkultur, die Gewalt als systemisches Problem anerkennt und aktiv bearbeitet. Die Stärkung von Beteiligung – sowohl der Nutzer:innen als auch der Beschäftigten – ist dabei ebenso zentral wie eine bessere Verzahnung von Schutz- und Unterstützungssystemen.
Auch die verantwortlichen Politiker:innen sind gefordert. Die derzeitige Unterfinanzierung sowie die projektbasierte Struktur vieler Angebote in der Suchthilfe behindern nachhaltige Qualitätsentwicklung und erhöhen die strukturelle Verwundbarkeit des Systems. Eine auskömmliche, verlässliche und an Schutzstandards geknüpfte Finanzierung ist unerlässlich, wenn die Suchthilfe wirksam schützen und begleiten soll.
Zur Weiterentwicklung und Reflexion des Systems ist weitergehende Forschung notwendig: Die hier vorgestellten Befunde eröffnen wichtige Einblicke, werfen aber zugleich neue Fragen auf. Künftige Studien sollten vertiefend analysieren, wie sich Gewalt in unterschiedlichen Teilbereichen der Suchthilfe zeigt, welche Rolle Leitung, Geschlecht oder biografische Vorerfahrungen spielen – und wie Schutzmechanismen konkret gestaltet sein müssen, um wirksam zu sein. Insbesondere die Perspektiven der Nutzer:innen und ihre Erfahrungen mit Macht, Grenzziehung und Sicherheit in Einrichtungen der Suchthilfe sind bislang weitgehend unerforscht.
Weitere Informationen sowie Analysen aus anderen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit können hier aufgerufen werden: https://avasa.verdi.de
Angaben zu den Autor:innen und Kontakt:
Prof. Dr. Nikolaus Meyer ist Professor für „Profession und Professionalisierung Sozialer Arbeit“ an der Hochschule Fulda. Kontakt: nikolaus.meyer(at)sw.hs-fulda.de
Dr. Elke Alsago ist Bundesfachgruppenleiterin Erziehung, Bildung und Soziale Arbeit bei ver.di – Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft. Kontakt: elke.alsago(at)verdi.de
Literatur
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- Deimel, D., Moesgen, D. & Dirks, H. T. (Hrsg.) (2024). Soziale Arbeit in der Suchthilfe. Lehrbuch (utb Soziale Arbeit Suchthilfe, Bd. 6123). Köln: Psychiatrie Verlag.
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