ADHS in der Suchtrehabilitation

Einleitung

Dr. Ulrich Böhm

Marcus Breuer

Mitarbeitende in der Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen sind zunehmend mit AD(H)S als komorbider Störung konfrontiert. Aus Sicht der Rehabilitationseinrichtungen ist dieses Thema herausfordernd. Zum einen stellt das Krankheitsbild selbst eine Herausforderung dar, da die entsprechenden Symptome die Mitwirkungsfähigkeit durchaus beeinträchtigen können. Zum anderen sind die Erwartungen der Rehabilitand:innen hoch, im Zuge der Reha eine gründliche Diagnostik zu erfahren und umfassend behandelt zu werden. Hierbei stoßen die Einrichtungen häufig an die Grenzen ihrer Ressourcen. Auch eine externe Diagnostik steht meistens nicht zeitnah zur Verfügung. Außerdem besteht häufig ein Zielkonflikt: In der Suchtrehabilitation ist die Abstinenz das übergeordnete Behandlungsziel, die wirksamsten zugelassenen Medikamente gegen die ADHS bergen aber oft selbst das Risiko, abhängig zu machen. Ihr Einsatz wird unter Expert:innen unterschiedlich eingeschätzt. Die verschiedenen Herangehensweisen soll dieser Artikel deutlich machen.

In der letztgültigen S3-Leitlinie ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen (Registernummer 028 – 045, Stand 02.05.2017) steht zur Frage der Medikamentierung Folgendes: „Wenn eine medikamentöse Behandlung indiziert ist, sollen Stimulanzien (Methylphenidat, Amfetamin und Lisdexamfetamin), Atomoxetin und Guanfacin als mögliche Optionen zur Behandlung der ADHS in Betracht gezogen werden.“ (Langfassung, S. 69) Weiter ist aufgeführt: „Die medikamentöse Behandlung von Patienten mit ADHS, bei denen zusätzlich ein Substanzmissbrauch oder eine Substanzabhängigkeit besteht, sollte durch einen Spezialisten mit Kenntnissen in der Behandlung von ADHS und Sucht erfolgen.“ (Langfassung, S. 70)

Es finden also schwierigste Abwägungsprozesse in der Behandlung statt. Auch die Team-Dynamik wird durch das Thema beeinflusst. Es tauchen Fragen auf wie: Gibt es ADHS überhaupt? Werden wir nicht von Rehabilitand:innen manipuliert, damit sie legal Suchtstoffe erhalten? Ist es überhaupt gerechtfertigt, komorbid erkrankte Rehabilitand:innen mit Stimulanzien zu behandeln, welche Wirkung hat das auf die anderen?

Bei der Idee zu diesem Beitrag war es uns besonders wichtig, keine Spaltungsprozesse zu induzieren, insbesondere medizinischer Dienst (Pflege, Ärzt:innen) und therapeutisch tätiges Personal sollten an einem Strang ziehen. Mit gutem Beispiel voran wurde diese Einführung von einem Psychologen und einem Arzt verfasst! Mit den hier vorgestellten Berichten von Expert:innen möchten wir Ihnen ein breiteres Bild der gelebten Praxis im Umgang mit ADHS in der Suchtrehabilitation bieten.

Wir danken allen Expert:innen, die uns Auskunft gegeben haben! Dafür haben wir einen standardisierten Fragebogen zusammengestellt. Die ausformulierten Fragen lesen Sie in den ersten beiden Beiträgen, in denen wir selbst aus unseren Einrichtungen berichten. Die folgenden Darstellungen werden durch entsprechende Stichworte gegliedert.

Wir wünschen Ihnen eine anregende und erkenntnisreiche Lektüre!

Marcus Breuer & Dr. Ulrich Böhm


Deutscher Orden Ordenswerke, Würmtalklinik, Gräfelfing

Dr. Bernward Böhle

Marcus Breuer

Die Fragen beantworteten:
Marcus Breuer, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut/ Sozialmedizin, Klinikleitung und Therapeutische Leitung
Dr. Bernward Böhle, Facharzt für Innere Medizin, Psychotherapie, Suchtmedizin, Notfallmedizin, Ärztliche Leitung

Wie gehen Sie in Ihrer Klinik/Einrichtung bei der Behandlung von Rehabilitand:innen mit komorbider ADHS vor? Gibt es z. B. ein systematisches Procedere? Wie sieht dieses aus?

Es gibt in unserer Klinik einen sogenannten Behandlungspfad „Komorbidität ADHS und Sucht“. Dieser steuert und systematisiert unser Procedere im Umgang mit einer möglichen ADS/ADHS. Der Behandlungspfad beinhaltet folgende Bereiche:

a) Nach Diagnostik und Ableiten eines Schwerpunktes à modulares Vorgehen

  • Hauptproblembereich: Aufmerksamkeit und Konzentration
  • Hauptproblembereich: Hyperaktivität und Impulsivität
  • Bei Mischtypus à Kombination

b) Psychoedukation und Störungsmodell

c) Weitere therapierelevante Bereiche

Welche „therapeutische Haltung“ zum Umgang mit komorbider ADHS kennzeichnet Ihre Klinik/Einrichtung? Wo liegen z. B. Ihrer Ansicht nach die besonderen Herausforderungen?

Hier sind mehrere Aspekte zu nennen: Erstens ist die Abwägung der Schwerpunktsetzung zwischen der Behandlung der Abhängigkeitserkrankung einerseits sowie der ADS/ADHS andererseits anspruchsvoll – dies betrifft insbesondere die Psychotherapie. Auch die Dauer der Reha-Behandlung ist hierbei relevant.

Zweitens ist der Umgang mit der häufig geringen Frustrationstoleranz, der Ungeduld sowie der Hyperaktivität der betroffenen Rehabilitand:innen für das Behandlerteam häufig besonders anstrengend. Dies gilt insbesondere, wenn in Therapiegruppen mehrere Rehabilitand:innen mit komorbider ADHS anwesend und involviert sind.

Drittens ist die Unterscheidung zwischen Motivationsdefiziten einerseits und Schwierigkeiten in Folge der ADHS manchmal nicht ganz einfach zu treffen.

Wie erfolgt die Diagnostik in Ihrer Klinik/Einrichtung?

Wir orientieren uns grundsätzlich an der jeweils gültigen AWMF-Leitlinie. Bei einer fraglich vorliegenden ADS bzw. ADHS verwenden wir – im Rahmen des oben erwähnten Behandlungspfades „ADHS und Sucht“ – mehrere Diagnostik-Bestandteile:

  • die „Adult Self Report Scale“ (ASRS) als Screening-Fragebogen
  • Fremdanamnese
  • Zeugnisse (insbesondere Grundschulzeugnisse)
  • die „Hamburger ADHS-Skalen für Erwachsene“ (HASE); diese beinhalten mehrere Subtests, u. a. die WURS-K (Wender Utah Rating Scale – Kurzform)
  • DIVA – Diagnostisches Interview für ADHS bei Erwachsenen

Findet eine Medikation bei komorbider ADHS statt? Falls ja, mit welchen Substanzen bzw. Substanzgruppen und mit welchen Substanzen/Substanzgruppen nicht? Wo sind Unterschiede je nach Indikation Alkohol- bzw. Drogenabhängigkeit?

Ja, es findet – wenn gewünscht, sowie nach erfolgter Diagnostik – ggf. auch eine Medikation der ADHS statt, wir handeln hier ebenso wie auch bei anderen evtl. vorliegenden komorbiden psychischen Störungen. Es kommen hierbei ausschließlich Atomoxetin (Strattera) oder Antidepressiva mit einem noradrenergen Wirkmechanismus (z. B. SNRI, Venlafaxin) zur Anwendung. In unserer Klinik werden keine Methylphendidate und keine Amphetamine/Amphetaminderivate (Dexamphetamine, Lisdexamphetamine etc.) verwendet; das heißt, es gibt bei uns keine Verschreibung von BtM-Medikamenten wie Ritalin, Elvanse o. ä.

Hintergrund für die Nicht-Verschreibung von Amphetaminderivaten ist die aus unserer Sicht deutlich zu hohe Gefahr einer Suchtverlagerung bzw. eines Missbrauchs dieser ADHS-Medikation.

Wir unterscheiden in unserem Vorgehen hierbei nicht nach der Erstindikation Alkoholabhängigkeit vs. Drogenabhängigkeit; unser klinischer Umgang ist für beide Subgruppen gleich. Ein unterschiedlicher Umgang wäre in unserem Diagnosen-gemischten Reha-Setting auch nicht umsetzbar.

Werden im Bereich Psychotherapie besondere Interventionen für Rehabilitand:innen mit komorbider ADHS angeboten?

Ja, die psychotherapeutischen Interventionen beziehen sich insbesondere auf die Bereiche Aufmerksamkeit, Konzentration, Umgang mit vorhandener Hyperaktivität sowie Impulskontrolle. Neben Psychoedukation und speziellem Skilltraining im Rahmen der Einzeltherapie planen wir, zukünftig in unregelmäßigen Abständen auch ein „Kompaktmodul ADHS“ als indikatives Kleingruppenagebot für betroffene Rehabilitand:innen anzubieten.

Gibt es darüber hinaus (oder alternativ) besondere Ansätze in den Bereichen Ergotherapie, Sport o. ä.?

Sport ist häufig eine wesentliche Säule für das Erlernen eines funktionaleren Umgangs mit der eigenen motorischen Unruhe. Insbesondere motorisch anstrengende Aktivitäten („Auspowern“) eignen sich daher gut.

Bei Interesse besteht in der Ergotherapie die Möglichkeit, innerhalb eines wöchentlichen Angebotes Übungen zur Verbesserung in den Bereichen Konzentration bzw. Aufmerksamkeit durchzuführen.

Bieten Sie in Ihrer Einrichtung Fortbildungen für Mitarbeitende zum Thema ADHS an?

Ja, in unregelmäßigen Abständen im Rahmen von teaminternen Fortbildungen.


Therapiehilfe gGmbH, RehaCentrum Alt-Osterholz, Fachklinik für Suchterkrankungen, Bremen

Dr. Ulrich Böhm

Die Fragen beantwortete: Dr. Ulrich Böhm, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie/ Sozialmedizin, Ärztliche Leitung

Wie gehen Sie in Ihrer Klinik/Einrichtung bei der Behandlung von Rehabilitand:innen mit komorbider ADHS vor? Gibt es z. B. ein systematisches Procedere? Wie sieht dieses aus?

Im RehaCentrum Alt-Osterholz gibt es einen differenzierten Ansatz mit einem systematischen Procedere. Sollte sich aus der Anamnese und/oder dem klinischen Eindruck der Verdacht auf eine ADHS ergeben, wird dies fachärztlich untersucht und eine Diagnostik eingeleitet.

Welche „therapeutische Haltung“ zum Umgang mit komorbider ADHS kennzeichnet Ihre Klinik/Einrichtung? Wo liegen z. B. Ihrer Ansicht nach die besonderen Herausforderungen?

In der Einrichtung besteht eine kritisch-differenzierte Haltung ohne ideologische Scheuklappen. Die Haltung „ADHS gibt es gar nicht“ ist kaum (mehr) spürbar. Dennoch werden insbesondere Rehabilitand:innen, die eine sehr süchtige Struktur mitbringen und mehr oder weniger offensiv für einen Einsatz von Stimulanzien eintreten, dabei eigene psychotherapeutische Anstrengungen vermeiden und das Heil in der Medikation sehen, kritisch in den Blick genommen. Hier sehen wir durchaus eine große Herausforderung.

Wie erfolgt die Diagnostik in Ihrer Klinik/Einrichtung?

In der fachärztlichen Untersuchung geht es zunächst um die differentialdiagnostische Einordnung und ein Screening mit dafür geeigneten Testbögen. Sollte sich der Verdacht auf eine ADHS erhärten, werden weitere diagnostische Mittel eingesetzt: Anforderung alter Befunde, Vorlage von Grundschulzeugnissen, wenn möglich eine Fremdanamese. Leider besteht nicht die Möglichkeit einer ausführlichen Diagnostik, weder in der Reha-Einrichtung noch im ambulanten Umfeld. Es erfolgt eine enge Abstimmung zwischen Bezugstherapeut:in und dem fachärztlich psychiatrischen Kollegen, die für sehr wichtig erachtet wird. Insbesondere Verlaufsbeobachtungen im gruppentherapeutischen Kontext sind sehr wertvoll. Bei dringendem Verdacht empfehlen wir eine ausführliche Diagnostik und leiten diese ein, aus Termingründen finden diese Untersuchungen allerdings erst nach der Reha-Behandlung statt. Beim Einsatz von Medikamenten findet eine entsprechende (Vor)Diagnostik statt (Labor, EKG, RR-Kontrollen).

Findet eine Medikation bei komorbider ADHS statt? Falls ja, mit welchen Substanzen bzw. Substanzgruppen und mit welchen Substanzen/Substanzgruppen nicht? Wo sind Unterschiede je nach Indikation Alkohol- bzw. Drogenabhängigkeit?

Bei bereits fachärztlich vordiagnostizierter ADHS führen wir zunächst die Vormedikation fort, überprüfen aber auch die Diagnose während der Behandlung und setzen dann ggf. die Medikation ab, dies geschieht gar nicht so selten. Sollte sich die Diagnose klinisch bestätigen, setzen wir die Medikation (auch mit Stimulanzien) während der gesamten Behandlung fort.

Bei nicht vordiagnostizierter Störung setzen wir bei starken klinischen Hinweisen für ADHS in einem ersten Schritt zunächst keine Stimulanzien ein. Bei Vorliegen einer begleitenden depressiven Symptomatik wird zunächst mit Bupropion behandelt, was häufig gute Effekte auch auf die ADHS bewirkt. Bei keiner komorbiden depressiven Symptomatik wird Atomoxetin eingesetzt. Sollten entweder starke Nebenwirkungen auftreten oder sich die klinische Symptomatik nicht verbessern, wird auch eine Medikation mit Stimulanzien geprüft und nach sorgfältiger Abwägung ggf. eingesetzt. Dabei wird die Indikation bei Menschen mit Alkoholabhängigkeit oder auch mit Drogenabhängigkeit ohne stimulierende Substanzen etwas großzügiger gestellt.

Werden im Bereich Psychotherapie besondere Interventionen für Rehabilitand:innen mit komorbider ADHS angeboten?

Jede:r Rehabilitand:in mit ADHS oder dem Verdacht auf eine ADHS erhält einen Betroffenenratgeber, und es finden verhaltenstherapeutische Interventionen statt. Es gibt allerdings keine Indikationsgruppe ADHS.

Gibt es darüber hinaus (oder alternativ) besondere Ansätze in den Bereichen Ergotherapie, Sport o. ä.?

Die betroffenen Rehabilitand:innen werden besonders für sporttherapeutische Angebote, insbesondere Ausdauersport, sensibilisiert.

Bieten Sie in Ihrer Einrichtung Fortbildungen für Mitarbeitende zum Thema ADHS an?

Es werden in der Einrichtung monatlich interne Fortbildungen angeboten. Eine Fortbildung zum Thema ADHS gab es bisher nicht, ist aber geplant.


Netzwerk Suchthilfe gGmbH, Fachklinik Release, Ascheberg-Herbern

Maren Ward

Die Fragen beantwortete: Maren Ward, M.Sc. Suchttherapie, Therapeutische Leitung

Umgang mit komorbider ADHS

Da unsere Einrichtung auf die Behandlung von komorbiden ADHS-Erkrankungen spezialisiert ist, gibt es ein systematisches Vorgehen, sowohl für Rehabilitand:innen mit vorbestehender ADHS-Diagnose als auch für solche, die im klinischen Alltag Anzeichen für das Vorliegen eines ADHS zeigen. Bei bereits vorbestehender Diagnose werden zunächst die bereits erfolgten Behandlungsversuche eruiert. Im direkten Gespräch mit den Rehabilitand:innen erfolgt außerdem eine Sondierung des individuellen Kenntnisstandes über ADHS. Im Rahmen von 1 zu 1 Psychoedukation werden grundlegende Inhalte vermittelt und bestehende Fragen der Rehabilitand:innen beantwortet. Im Anschluss erfolgt eine Integration in die ADHS-Gruppe.

Im Rahmen der Einzeltherapien werden die Themen der Gruppentherapie aufgegriffen und ergänzt. Ergänzende arbeits-, ergo und sporttherapeutische Bausteine runden das Behandlungskonzept ab. Während der ärztlichen Visiten werden zudem medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten besprochen und eingeleitet.

Haltung und Herausforderungen

Wir legen in unserer Einrichtung großen Wert auf eine wertschätzende, ressourcenorientierte Haltung unser Mitarbeiter:innen im Umgang mit unseren Rehabilitand:innen. Ein Großteil der Menschen mit ADHS hat in der bisherigen Biografie erhebliche Selbstwertkränkungen erleben müssen, die teilweise zur Entwicklung weiter psychischer Störungen beigetragen haben. Wir wollen vermitteln, dass ein veränderter Hirnstoffwechsel zunächst nur eine besondere Art zu denken und zu sein bedeutet und dass sich erst über maladaptive Bewältigungsversuche eine Störung im eigentlichen Sinne ergibt. Wir wollen Rehabilitand: innen helfen, ihre Besonderheiten wertschätzend anzunehmen, und vermitteln dies durch die entsprechende Grundhaltung in unserer Mitarbeiterschaft. Wir versuchen, die besonderen Ressourcen, die diese Menschen mitbringen, in den Vordergrund zu rücken und ihnen damit zu ermöglichen, individuelle Defizite bestmöglich auszugleichen.

Besondere Herausforderungen ergeben sich über die häufig vorliegenden komorbiden Erkrankungen wie z. B. Depressionen oder Angststörungen und die hohe Sensibilität für Selbstwertkränkungen, die sich durch die individuellen Biografien ergeben. Auch die Integration in die Arbeitstherapie erfordert besonderes Fingerspitzengefühl und eine hohe Fachkompetenz, da Rehabilitand:innen mit ADHS durch ihre Symptomatik meist gravierende Probleme haben, sich an die Anforderungen des Arbeitsmarktes anzupassen.

Rehabilitand:innen mit ADHS profitieren in besonderem Maße von tragfähigen Arbeitsbeziehungen zu unseren Mitarbeiter:innen. Sie benötigen immer wieder persönliche Ansprache und Motivationsarbeit, daher nimmt die Behandlung einen großen Anteil an  personellen Ressourcen in Anspruch.

Diagnostik

Wir haben die Erfahrung gemacht, dass viele Rehabilitand:innen ohne bereits vorliegende Diagnose zu uns in die Behandlung kommen. Unsere Mitarbeiter:innen sind daher auf besonders dafür sensibilisiert, ihre Verhaltensbeobachtung entsprechend zu intensivieren. Ergeben sich Hinweise durch Beobachtungen, Anamnese oder Familienanamnese, so erfolgt zunächst ein Screening. Sollte dieses Auffälligkeiten zeigen, folgt eine standardisierte testdiagnostische Phase. Wir arbeiten hierbei sowohl mit den gängigen Fragekatalogen als auch strukturierten Interviews. Um eine ausführliche Erstdiagnostik gewährleisten zu können, arbeiten wir außerdem mit Befragungen der Angehörigen und der Sichtung alter Schulzeugnisse. Die Ergebnisse werden sowohl an ärztliche als auch therapeutische Leitung weitergeleitet. Schließlich werden im Rahmen von Behandlungskonferenzen, im interdisziplinären Team, diagnostische Erkenntnisse besprochen und Behandlungsschritte eingeleitet.

Medikation

In vielen Fällen ist eine medikamentöse Einstellung der Rehabilitand:innen erforderlich, um es ihnen zu ermöglichen, auf therapeutischer Ebene an ihren Problemlagen arbeiten zu können. Ist dies aus medizinischer Sicht vertretbar und vom Rehabilitanden erwünscht, erfolgt die Einstellung auf Lisdexamfetamin, Methylphenidat und Atomoxetin. Dabei werden keine generellen Unterschiede zwischen Alkohol- bzw. Drogenabhängigkeit gemacht, da beide Gruppen deutlich von der Behandlung profitieren.

Psychotherapie

Unser auf ADHS ausgerichtetes Behandlungskonzept hat in verschiedenen Bereichen speziell angepasste Behandlungsbausteine. Im Rahmen der Psychotherapie finden sowohl im einzel- als auch im gruppentherapeutischen Setting spezifische Angebote statt. Diese beziehen sich auf psychoedukative Inhalte und auf an individuelle Bedürfnisse des Einzelnen oder der Gruppe angepasste Inhalte.

Besondere Ansätze

Im Rahmen der Arbeitstherapie kommt es zu individuellen Job-Coachings. Es erfolgt eine Einteilung in an die Fähigkeiten der Menschen angepasste Modelarbeitsplätze. Im Rahmen der Ergotherapie kann bei Bedarf computergestütztes Konzentrationstraining erfolgen. Im Bereich der Sporttherapie nehmen Rehabilitand:innen an angeleiteten Ausdauereinheiten teil. Rehabilitand:innen steht außerdem eine Sauna zur Verfügung, um nach Bedarf durch physikalische Reize Spannungen regulieren zu können.

Fortbildungsangebote

Alle Mitarbeiter:innen werden regelmäßig in internen Fortbildungen geschult. Weitere externe Fortbildungsmöglichkeiten bestehen im Bereich Diagnostik. Je nach Bedarf werden weitere Inhalte in die Fortbildungsplanung integriert. Sowohl therapeutische Leitung als auch ärztliche Leitung sind ausgebildete Selbstwerttrainer bei ADHS. In unserer Wissensdatenbank befindet sich außerdem eine große Auswahl an Fachliteratur und Arbeitsmaterialien für verschiedene Berufsgruppen.


CRT Caritas – Reha und Teilhabe GmbH, Fachklinik Nettetal, Wallenhorst

Dr. Elke H. Sylvester

Die Fragen beantwortete: Dr. Elke H. Sylvester, FÄ für Psychiatrie und Psychotherapie/ Sozialmedizin, Chefärztin

Umgang mit komorbider ADHS und Medikation

In der Fachklinik Nettetal werden ausschließlich Männer mit der Hauptdiagnose Drogenabhängigkeit behandelt. Die Einrichtung hat 42 Plätze, davon acht in der Adaption.

Eine ADHS wird als komorbide psychische Störung mitbehandelt. Eine bestehende Medikation mit Methylphenidat, Amfetamin und Lisdexamfetamin sowie Atomoxetin wird weitergeführt. Die Indikationsstellung wird insbesondere bei bekannter Amphetaminabhängigkeit kritisch mit dem Rehabilitanden und bei Bedarf auch im Trialog Rehabilitand, Bezugstherapeut:in, Arzt/Ärztin diskutiert. Dosisanpassungen und Absetzversuche erfolgen unter regelmäßigen Verlaufskontrollen in der ärztlichen Sprechstunde und werden in Fallbesprechungen thematisiert.

Medikamentöse Neueinstellungen im Rahmen der Rehabilitationsbehandlung erfolgen in der Regel mit Atomoxetin.

Die medikamentöse Therapie ist eingebettet in den Gesamtbehandlungsplan mit strukturierenden Maßnahmen im Rahmen der Arbeits- und Ergotherapie, Einzel- und Gruppentherapie, der indikativen und edukativen Gruppenangebote sowie der Sport- und Freizeitangebote u.s.w.

Haltung und Herausforderungen

Das Konzept der Fachklinik Nettetal sieht die Mitbehandlung weiterer komorbid bestehender psychischer Störungen vor. Es besteht die Haltung, dass eine erfolgreiche Suchtbehandlung nur gelingen kann, wenn alle diagnostizierten psychischen Störungen Berücksichtigung finden. Die besondere Herausforderung bei der ADHS-Therapie liegt aus meiner Sicht in der Akzeptanz der Therapie mit Psychostimulanzien, also Medikamenten, die unter das Betäubungsmittelgesetz fallen und ein eigenes Abhängigkeitspotenzial besitzen. Die kritische Diskussion insbesondere im Hinblick auf eine bestehende Amphetaminabhängigkeit erfolgt regelmäßig in Einzelfall- und Teambesprechungen.

Diagnostik

Die Diagnostik in der Fachklinik Nettetal umfasst die klinische Beobachtung, wenn möglich die Vorlage von Grundschulzeugnissen sowie die Durchführung der Homburger ADHS-Skalen für Erwachsene (HASE). Bei positivem Befund erfolgt die Aufklärung des Rehabilitanden über die Diagnose und die therapeutischen Möglichkeiten inklusive der medikamentösen Therapie, die aufgrund der bestehenden Abhängigkeitserkrankung – wie oben erwähnt – vorzugsweise mit Atomoxetin durchgeführt wird.

Medikation

Sofern bei Rehabilitanden bereits eine medikamentöse Therapie etabliert ist, wird diese weitergeführt. Dabei kommen wie o.g. Methylphenidat, Amfetamin und Lisdexamfetamin sowie Atomoxetin zur Anwendung. Mit einer medikamentösen Therapie mit Guanfacin bestehen bislang keine Erfahrungen.

Methylphenidat, Amfetamin und Lisdexamfetamin fallen als Psychostimulanzien unter das Betäubungsmittelgesetz und haben ein eigenes Abhängigkeitspotenzial, so dass die Gabe in einem schützenden Rahmen der Suchtbehandlung der besonderen Sorgfalt bedarf. Auch sollte ein Procedere bei nicht regulärer Entlassung im Vorfeld besprochen werden, um eine unkontrollierte Einnahme bzw. einen Weiterverkauf der Medikamente möglichst zu verhindern.

Atomoxetin wird von Patienten, die Erfahrungen mit Psychostimulanzien haben, oft als weniger wirksam empfunden.

Psychotherapie

Die komorbide ADHS findet Berücksichtigung in der Bezugstherapie bei der Erstellung des Störungsmodells, der Reha-Zielformulierung sowie der Prozessgestaltung. Ein besonderer Fokus wird auf die Alltagsstrukturierung gelegt. Edukative und indikative Gruppenangebote (u. a. Entspannungstraining, Achtsamkeitstraining, Training emotionaler Kompetenzen) werden nach individueller Indikation in den Rehabilitationsplan integriert.

Besondere Ansätze

Nach einem Screening wird in der Ergotherapie bei auffälligem Befund ein RehaCom-Training durchgeführt. Die Teilnahme an der Nordic Walking- oder Laufgruppe wird dringend empfohlen, der Zusammenhang zwischen Ausdauersport und psychischer Stabilität wird individuell erläutert.

Fortbildungsangebote

In Teamsitzungen werden sowohl anhand von Einzelfällen als auch in kurzen Referaten von  Mitarbeitenden Informationen zu unterschiedlichen Thematiken gegeben, z. B. komorbide psychische Störungen, aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse, neue diagnostische Verfahren, neue Medikamente.


Drogentherapie-Zentrum Berlin gGmbH, Fachklinik LAGO am Wannsee

Dr. Frank Puchert

Die Fragen beantwortete: Dr. Frank Puchert, Chefarzt

Umgang mit komorbider ADHS

Grundsätzlich stellen wir fest, dass die mehrmonatige stationäre Behandlung unter recht sicheren abstinenten Bedingungen bei der Diagnostik und Therapie des AD(H)S nachhaltige Vorteile bietet.

Wir wissen und stellen im Kontakt mit den Rehabilitand:innen fest, dass Aufmerksamkeitsprobleme bei Substanzabhängigen häufig sind. Nicht selten hilft reines Abwarten. Nicht nur bei Cannabisnutzern – bei denen aber besonders häufig – bildet sich das Problem zurück. Wir beobachten quasi gemeinsam mit den Rehabilitand:innen, wie sich kognitive Folgen des Konsums über die Wochen legen. Über die reine Entwöhnung hinaus bestehen keine zusätzlichen Behandlungsnotwendigkeiten bei dieser Gruppe von Betroffenen.

Es gibt auch andere. Bei einigen lässt sich im engeren Sinne feststellen, dass der Konsum ursprünglich sogar der Versuch war, das Aufmerksamkeitsproblem zu bekämpfen. Betroffene berichten insbesondere bei dem Konsum von Stimulanzien Ungewöhnliches: sie seien darunter ruhiger geworden, sogar strukturierter. Mitunter erwähnen Rehabilitand:innen sogar Teilhabevorteile: sie seien in der Schule besser mitgekommen, hätten nur unter Konsum eine Ausbildung durchgehalten etc. Diese Personen leiden häufig in besonderer Weise unter dem Wegfall der Substanzwirkung.

Bei dieser Gruppe von Betroffenen sowie bei denen, die klinisch als aufmerksamkeitsbeeinträchtigt auffallen, sind wir zusätzlich therapeutisch herausgefordert. Hier legen wir besonderen Wert auf fokussierende und achtsamkeitsfördernde Therapien wie Entspannungsübungen, kognitives Training, Bogenschießen etc. Sport stellt auch hier einen wichtigen Therapiebestandteil dar.

Diagnostik

Bei hartnäckigen und anhaltenden Problemen unternehmen wir weitere diagnostische Schritte beginnend damit, dass wir evaluieren, ob das Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsproblem anamnestisch anhaltend und früh beginnend ist. Wir streben immer fremdanamnestische Daten an in Form von Berichten Angehöriger, Zeugnissen, mitunter auch in Form von Behandlungsberichten z. B. aus kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken.

Dies wird ergänzt durch Fragebogendiagnostik (ADHS-Selbstbeurteilungsskala von Rösler et al.), die mit dem Problem behaftet ist, dass subjektive Schilderungen (und Überzeugungen) einen großen Stellenwert haben.

Medikation

In der Zusammenschau stellen wir behandlungsbedürftige ADHS/ADS-Probleme fest, die aufgrund der Ausprägung und/oder des individuellen Leidensdrucks die medikamentöse Behandlung nahelegen. Leitliniengerecht empfehlen wir Atomoxetin. Dabei sind die ausreichende somatische Diagnostik und die informierte Zustimmung selbstverständlich. Da wir nicht selten beunruhigende Nebenwirkungen sahen, ist uns die Aufklärung darüber besonders wichtig. Häufiger erlebten wir urogenitale Nebenwirkungen wie spontane Ejakulationen. Auch psychische Auffälligkeiten in Form affektiver Beeinträchtigungen sind wichtig. Selten erlebten wir psychotische Symptome.

Ein großer Teil der Rehabilitand:innen erlebt wenig Nebenwirkungen, ist zufrieden und will die Behandlung nach Entlassung fortsetzen. Dies erfordert frühzeitige Planung, um kompetente verordnende Ärztinnen und Ärzte zu finden sowie aber auch Lieferengpässe zu evaluieren.

Bei Nichtwirksamkeit der Atomoxetinbehandlung machten wir Behandlungsversuche bspw. mit Bupropion, die uns nicht sehr überzeugt haben.

Da wir uns entschieden haben, konsequent ohne potenziell Abhängigkeit erzeugende Medikamente zu behandeln, verzichten wir auf die Vergabe von Stimulanzien. Häufig organisieren wir die Weiterbehandlung in Praxen, wo dies dann ambulant ermöglicht werden kann.


ADV – Rehabilitation und Integration gGmbH, Fachklinik F42, Berlin

Martin Rüdiger

Die Fragen beantwortete: Martin Rüdiger, Psychologischer Psychotherapeut, Therapeutische Leitung

Umgang mit komorbider ADHS

Wir gehen da immer individuell vor. Die meisten vermeintlichen ADHS-Diagnosen stellen sich als Selbstdiagnosen heraus und erfüllen nur selten die tatsächlichen Kriterien. Sollte sich eine tatsächliche ADHS-Diagnose abzeichnen, geht es zunächst darum, den Leidensdruck, bisherige eigene und professionelle Bewältigungsversuche, Zusammenhänge mit der Abhängigkeitserkrankung sowie Veränderungswünsche der Betroffenen zu eruieren. Danach wird dies in die jeweilige Behandlung implementiert (und eine eventuelle Weitervermittlung nach Ende der Therapie in Betracht gezogen). Zudem wird eine mögliche, der primären Abhängigkeitserkrankung angemessene, Medikation geprüft.

Haltung und Herausforderungen

Unserer Erfahrung nach sind die tatsächlichen Veränderungsmöglichkeiten bei dieser Diagnose eher gering, die Abgrenzung zu grundlegenden Bindungsproblemen im Sinne einer komplexen Traumafolgestörung ist schwierig. Insofern geht unsere Arbeit weniger in Richtung Symptomkontrolle, sondern fokussiert auf eine komplementäre, validierende Beziehungsgestaltung und Erkrankungs-Akzeptanz.

Diagnostik

Die Diagnostik erfolgt anhand der Anamnese nach Behandlungsbeginn, wenn nötig ziehen wir ein strukturiertes Interview hinzu. Meist scheitert die Diagnosestellung an den objektiven Daten (Zeugnisse etc.) aus der Kindheit.

Medikation

Ja, in diesem Fall verwenden wir ausschließlich Atomoxetin.

Fortbildungsangebote

Bei Interesse der Mitarbeitenden wird an externe Fortbildungsangebote verwiesen.


Alida Schmidt-Stiftung, Fachkrankenhaus Hansenbarg, Hanstedt

Die Fragen beantworteten:
Dr. Susanne Schulze, Oberärztin
Bertrand Evertz, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Chefarzt
Philine Kreter, Psychologin M.sc. und Psychologische Psychotherapeutin in Ausbildung

Umgang mit komorbider ADHS

Seit einigen Jahren richten wir in unserer Klinik ein besonderes Augenmerk auf AD(H)S-Symptome und fragen diese bereits im psychiatrischen Aufnahmegespräch sondierend ab. Ergeben sich hierbei anamnestisch oder klinisch Hinweise auf das Vorliegen eines AD(H)S, erfolgt durch die Bezugstherapeutin / den Bezugstherapeuten die gezielte Diagnostik mittels Fragebögen und Interview unter Beachtung möglicher Differentialdiagnosen und Komorbiditäten wie z. B. Persönlichkeitsstörungen und Traumafolgestörungen. Bestätigt sich der Verdacht und lässt sich das AD(H)S als aufrechterhaltender oder erschwerender Faktor für die Abhängigkeitserkrankung identifizieren, erhält die Rehabilitandin / der Rehabilitand nach Ausschluss von Kontraindikationen das Angebot einer medikamentösen Therapie.

Haltung und Herausforderungen

Berufsgruppenübergreifend gibt es in unserer Klinik eine offene Haltung gegenüber der Thematik. Im Umgang mit den Rehabilitand:innen nehmen wir die Auswirkungen der Neurodivergenz auf das Verhalten, Erleben und Fühlen (auch auf die Suchtentwicklung) in den unterschiedlichen therapeutischen Bereichen wahr. Diagnostische Hinweise kommen nicht selten auch aus der Arbeits- und Physiotherapie. Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit ADHS fallen in allen Bereichen zumeist primär durch ihre motorische Unruhe und Impulsivität, andererseits aber auch durch Kreativität und Leistungsbereitschaft auf und reagieren oftmals sehr dankbar auf die Diagnosestellung und das Behandlungsangebot. Dies wirkt sich positiv auf die Beziehungsgestaltung aus und ermöglicht oft gute therapeutische Erfolge.

Herausfordernd stellen sich zuweilen eine mit der Impulsivität einhergehende Aggressivität und Einschränkungen in der Selbststeuerung dar, die insbesondere dann limitierend für den Reha-Erfolg sind, wenn nicht frühzeitig eine adäquate (medikamentöse) Therapie begonnen werden kann.

Diagnostik

Bei Vorliegen anamnestischer oder klinischer Hinweise erfolgt die ADHS-Diagnostik mittels Selbstauskunftsbögen bzgl. der Kindheit und der Gegenwart, mittels eines standardisierten klinischen Interviews durch die Bezugstherapeutin / den Bezugstherapeuten und – sofern verfügbar – mittels fremdanamnestischer Einschätzungen durch Angehörige bzw. anhand von Schulzeugnissen. Ergänzend ermöglichen die Teilnahme an einem AD(H)S-Infoseminar und zur Verfügung gestellte Fach- und Selbsthilfeliteratur es den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden selbst, Stellung zu den diagnostischen Einschätzungen zu beziehen.

Medikation

In der Behandlung eines klinisch relevanten und für die Prognose der Sucht und anderer psychiatrischer Komorbiditäten sowie der Arbeitsfähigkeit entscheidenden AD(H)S kommen bei uns in erster Linie Methylphenidat und Lisdexamfetamin zum Einsatz. Die leitliniengemäße Behandlung mit Atomoxetin erfolgt eher selten – einerseits auf Grund der vergleichsweise geringeren Wirksamkeit bei ausgeprägtem ADHS und der etwas geringeren Akzeptanz auf Grund von Nebenwirkungen, andererseits auch auf Grund der unsteten Verfügbarkeit mit schwer kalkulierbaren Lieferengpässen.

Kommt auf Grund somatischer oder psychiatrischer Komorbiditäten eine Behandlung mit den genannten Präparaten nicht in Frage, greifen wir im Einzelfall auf Bupropion zurück, wobei sich dieses in seiner Wirksamkeit oftmals als nicht befriedigend erweist.

Das Risiko eines Medikamentenmissbrauchs vor dem Hintergrund der Suchterkrankung besteht und wird mit den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden offen thematisiert. Insbesondere bei bestehender Drogenabhängigkeit muss die Medikation zuweilen im Verlauf wieder abgesetzt werden, wenn sie sich als „Trigger“ und damit Risikofaktor für einen Rückfall erweist.

Schwierigkeiten ergeben sich zudem häufig bei der Planung der ambulanten Weiterverordnung im Anschluss an die Reha – einerseits aus krankheitstypischen Gründen: Menschen mit AD(H)S neigen dazu, Aufgaben aufzuschieben, andererseits und vor allem auf Grund der bekannten Hürden bei der Facharztsuche.

Psychotherapie

Aktuell wird von psychotherapeutischer Seite einmal monatlich eine interaktionelle Informationsgruppe zu AD(H)S angeboten. In den einzeltherapeutischen Gesprächen wird im Zuge der ADHS-Diagnostik auf individuelle Probleme und Lösungsmöglichkeiten eingegangen. Betroffene Rehabilitand:innen werden ermuntert, auch in gruppentherapeutischen Sitzungen die für sie nützlichen Fidgets zu nutzen. Eine indikative Gruppe zu psychotherapeutischen Interventionsmöglichkeiten und Skills im Umgang mit Konzentrationsstörungen, Impulsivität und Prokrastination ist in Planung.

Besondere Ansätze

Bislang sind AD(H)S-spezifische Angebote in der Bewegungs- und Ergotherapie noch nicht etabliert. Individuell wird in diesen Bereichen aber störungssensibel auf die besonderen Bedürfnisse eingegangen.

Fortbildungsangebote

Hausintern erfolgen Fortbildungen zu Symptomatik und Diagnostik der AD(H)S und es besteht das Angebot von Fallbesprechungen und Supervision. Die Inhalte externer Fortbildungen einzelner Mitarbeitender werden von diesen im Rahmen von Teambesprechungen präsentiert.


Deutscher Orden Ordenswerke, Schlosspark-Klinik, Bergisch Gladbach

Sven Bange

Die Fragen beantwortete: Sven Bange, FA für Psychiatrie und Psychotherapie, ehem. Leitender Arzt der Schlosspark-Klinik, jetzt: Einrichtungsleitung der Schwarzbachklinik, Ratingen

Umgang mit komorbider ADHS

Zunächst erfolgt eine umfassende Anamneseerhebung und Standarddiagnostik, danach werden die klinischen Eindrücke aus den verschiedenen Bereichen zusammengetragen und bei Hinweisen oder Vorbefunden zum ADS/ADHS wird eine Abklärung durch ausführliche Diagnostik (HASE vs. Differentialdiagnostik) und Fremdanamnesen/Zeugnisse usw. durchgeführt. Frühestens ca. vier Wochen nach Aufnahme (keine Entzügigkeit mehr, Umstellungsprozess an die Klinikbedingungen fortgeschritten) erfolgt eine medikamentöse Einstellung, der Behandlungsplan wird entsprechend den individuellen Bedürfnissen angepasst (s. u.).

Haltung und Herausforderungen

ADHS wird als Erklärungsmodell eingebaut (Selbstbehandlungsversuch/biografische Einordnung) und damit auch dem Patienten zur Verfügung gestellt. Wir erstellen eine individuelle Behandlungsplanung: Was braucht dieser Patient gerade, was steht für ihn im Mittelpunkt? Oft ist die Behandlung der ADHS als hilfreicher Teil der Rückfallprophylaxe zu verstehen. Auch wenn bei uns die Behandlung der Sucht im Fokus steht, ist dies oft gar nicht so sehr voneinander zu trennen. Herausfordernd ist die medikamentöse Einstellung bei mehreren Diagnosen. Wo fängt man bei der therapeutischen Arbeit an (viele Baustellen)? Eine andere Herausforderung besteht darin, sich nicht vom Patienten „anstecken“ zu lassen und Themen-/Sensations-Hopping mitzumachen.

Diagnostik

  • HASE (WURS-K, ADHS-SB als Screening, WRI ggf. zur Klarifizierung)
  • Ggf. Leistungsdiagnostik, z. B. d2-R
  • Vorbefunde einfordern (Vorbehandlungen, Grundschulzeugnisse), Fremdanamnese (z. B. Eltern)

Medikation

Unserer Erfahrung nach ist eine Medikation oft erst der Schlüssel zur gelingenden Therapieteilnahme. Durch die rasche und bessere Wirksamkeit von Medikinet adult gegenüber den oft Wochen brauchenden „Antidepressiva“ wie Strattera usw. sehen wir hier einen klaren Vorteil. Wir sehen jedoch keinen Vorteil von Elvanse gegenüber Medikinet, insbesondere durch die auch nicht mehr testbare Abgrenzung zum Meth-/Amphetamin-Konsum. Daher setzen wir Elvanse nicht mehr ein und versuchen bei derartiger Vormedikation umzustellen. Zu beachten ist natürlich der mögliche Missbrauch von Medikinet durch nasalen Konsum, Sammeln oder das „Weitergeben“ an Nicht-Betroffene. Das lässt sich durch klare Ausgabestrukturen gut regeln.

Psychotherapie

Je nach Patientenschaft bieten wir im Bereich Psychotherapie eine Skillsgruppe für ADHS und psychoedukative Einheiten (z. B. Medizin-Infogruppe) an. Nicht speziell für ADHS besteht ein allgemeines Angebot von anspannungssenkenden Interventionen wie Achtsamkeitstraining, Akupunktur, achtsames Dartspielen und Ausdauertraining. Zu Beginn kann es erforderlich sein, dass tägliche Kurzkontakte mit den Bezugstherapeut:innen zur Strukturierung und einer besseren Einpassung in den Alltag stattfinden. Hierdurch können auch Überforderungssituationen mit Hochanspannung und Konflikten vermieden werden.

Besondere Ansätze

Zu Beginn der Therapie wird ein Hirnleistungstraining durchgeführt. Treten dort besondere Defizite auf, bekommen die Patienten ein indikatives Hirnleistungstraining zur Förderung von Konzentration, Durchhaltevermögen und Aufmerksamkeit. Die Zeit wird individuell angepasst und langsam gesteigert. Auch die äußeren Umstände können variiert werden je nach Level der Ablenkbarkeit.

In der Arbeitstherapie bekommen ADHS-Betroffene zunächst aktivere Aufgaben wie im Bereich Garten und Hof sowie der Holzwerkstatt. Im Laufe der Wochen werden sie Stück für Stück an Aufgaben herangeführt, die ein längeres Sitzen und größere Aufmerksamkeitsspannen erfordern, sowie an künstlerisch meditative Aufgaben, z. B. meditatives Malen oder Mandala. In der Arbeitstherapie wird meist allein gearbeitet, auch um Konflikte durch impulsive Handlungen zu vermeiden und Sicherheit zu vermitteln.

In den ergotherapeutischen Bezugsgruppenstunden geht es zunächst um das Bremsen des Patienten und das Heranführen an die Bezugsgruppe. Ziel ist, Teamfähigkeit und Teamarbeit zu ermöglichen. Im Verlauf ist eine Erweiterung und Anpassung der ergotherapeutischen Ziele sehr regelmäßig erforderlich, um auf die neu erreichten Fähigkeiten aufbauen zu können.

In der Sporttherapie ist die Ausdauer-orientierte Laufgruppe mit moderater Intensität meistens hilfreich sowie weitere achtsamkeitsbasierte Einheiten wie Körperwahrnehmungstraining, Entspannungsverfahren, achtsames Dartspielen usw. Bei fortgeschrittenen Patienten wird auch Bouldern zur Fokussierung eingesetzt. Bei Mannschaftssportarten ist insbesondere zu Beginn der Behandlung besonders auf die „explosive“ Gruppendynamik durch beteiligte ADHS-Betroffene zu achten.

Zusätzlich wird Ohr-Akupunktur und Kurzmeditation je zweimal wöchentlich bei freiwilliger Teilnahme angeboten.

Fortbildungsangebote

In wiederkehrenden Zyklen oder bei neuen Mitarbeitenden erfolgen regelhaft Schulungen zu dem Thema, zur Klinikhaltung und unseren Behandlungsansätzen. Im gelebten Alltag wird, wie bei anderen begleitenden Störungsbildern auch, immer wieder am Beispiel des aktuellen Patienten in Teamsitzungen, Supervisionen, Fallkonferenzen oder im direkten Kontakt zwischen Team/Bezugstherapeut:nnen und Klinikleitung der Austausch und die gemeinsame Abstimmung des Umgangs praktiziert.


MEDIAN Klinik Wilhelmsheim, Oppenweiler

Dr. Martin Enke

Prof. Dr. Tillmann Weber

Die Fragen beantworteten:
Prof. Dr. Tillmann Weber, ehem. Chefarzt der MEDIAN Klinik Wilhelmsheim, jetzt: Blomenburg Privatklinik Selent, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
Dr. Martin Enke, Klinikleitung & Leitender Psychologe der MEDIAN Klinik Wilhelmsheim

Umgang mit komorbider ADHS

Die MEDIAN Klinik Wilhelmsheim ist eine Rehabilitationseinrichtung für Abhängigkeitserkrankungen von Alkohol, Medikamenten, Cannabis und pathologischem Glücksspiel. Zur Behandlung häufiger, mit der Abhängigkeit eng interagierender psychischer Komorbiditäten bauen wir aktuell ein spezifisches, paralleles Behandlungskonzept für ADHS, Depressionen und Traumafolgestörungen aus. ADHS hat schon seit einigen Jahren aufgrund der in der stationären Entwöhnung hohen Komorbidität von bis zu 20 Prozent einen hohen Stellenwert in der Behandlung in unserer Klinik. Alle neu aufgenommenen Patienten durchlaufen ein Screening auf ADHS. Ziel ist eine frühzeitige Diagnostik bzw. Überprüfung der Vordiagnose, um eine leitliniengerechte medikamentöse und psychotherapeutische Mitbehandlung schon während der Suchtreha zu gewährleisten. Diese ist strukturell und inhaltlich ergänzend zur Abhängigkeitsbehandlung aufgebaut. Die parallele, aber in den Gesamtbehandlungsplan integrierte Behandlung ermöglicht eine gleichwertige Therapie zur Abhängigkeitserkrankung durch separates Fachpersonal.

Haltung und Herausforderungen

Erwachsene mit ADHS können unter einer Vielzahl von Einschränkungen leiden, die sich noch aus der kindlichen Entwicklungsstörung, aus nicht selten fehlangepassten Alltagskompensationen und aus den neurobiologisch gegebenen Defiziten der ADHS selbst ergeben. In den Biographien unserer Patienten sehen wir einen oft dysfunktionalen, aufrechterhaltenden Umgang mit diesen Einschränkungen oder eine mangelnde Behandlung der Einschränkungen. Dafür sehen wir aber teilweise frühe Versuche, sich mit dem Konsumieren von Substanzen selbst zu helfen. Im Ergebnis sind ADHS und Abhängigkeit(en) eng verwobene Krankheiten, die ein komplexeres Vorgehen benötigen.

Als Klinik ist es unser Anspruch, beide Erkrankungen parallel, aber auch deren komplexe Zusammenhänge integrativ zu behandeln. Es entspricht nicht unserer Haltung, lediglich die Abhängigkeit zu extrahieren und die Behandlung der ADHS auf nachfolgende Angebote zu verschieben. Dieses Vorgehen würde höhere Rückfälle und unzureichende Therapien verursachen. Die Herausforderung unseres ganzheitlichen Behandlungsansatzes ist es, die komplexere Symptomatik in der gegebenen Reha-Zeit auch (an)behandeln zu können. Dafür steigern wir in Absprache mit der Rentenversicherung personelle Ressourcen, mit denen eine parallele Diagnostik, psychiatrische Behandlung und psychotherapeutische Einzel- und Gruppentherapie erfolgt.

Diagnostik

Innerhalb der ersten ein bis zwei Wochen nach Aufnahme durchlaufen alle Patienten ein Screening auf ADHS mit einer hohen Sensitivität. Das ist wichtig, da ADHS in vielen Fällen sonst unterdiagnostiziert bliebe, da die Betroffenen nachvollziehbar oft wenig Einsicht in die lebenslang begleitende Symptomatik haben. Bei positivem Screening erfolgt eine detailliertere klinische Befragung und psychometrische Diagnostik durch Fachpersonal. Grundlage ist der Nachweis der ADHS in der Kindheit. Meistens müssen wir diese durch anamnestische Erhebungen, Zeugnisse und Fremdbeurteilungen nachträglich feststellen. Die aktuelle Symptomatik muss durch psychometrische Selbst- und Fremdbeurteilungen sowie klinische Interviews bestätigt werden. Aufgrund der häufigen Komorbiditäten und Symptomüberschneidungen wird die endgültige Diagnose in interdisziplinärer Beurteilung von Psychotherapeuten und Psychiatern festgelegt. In einem etwas vereinfachteren Vorgehen überprüfen wir auch Vordiagnosen.

Medikation

Grundsätzlich klären wir alle Patienten mit einer ADHS über die psychopharmakologischen Behandlungsoptionen auf und sprechen dann individuelle Empfehlungen aus. Unser medikamentöses Behandlungsspektrum umfasst die in Deutschland zugelassenen Methylphenidate mit verzögerter Wirkstofffreisetzung (Medikinet adult®, Ritalin adult®), Lisdexamphetamin (Elvanse adult®) und Atomoxetin (Strattera®). Selten können unter bestimmten Voraussetzungen auch sog. Off-Label-Medikamente (Bupropion (Elontril®) oder Guanfacin (Intuniv®)) verordnet werden. Eine relative Kontraindikation für Stimulanzien besteht bei Patienten, bei denen ein Stimulanzienmissbrauch oder Weiterverkauf wahrscheinlicher ist, was bei Patienten aus dem Drogenmilieu (z. B. Dealen, Beschaffungskriminalität) häufiger zutrifft.

Psychotherapie

Patienten mit ADHS nehmen an einer geschlossenen Gruppentherapie über 15 Sitzungen teil, die während des stationären Aufenthaltes parallel zur Suchttherapie stattfindet. In dieser Gruppentherapie werden neben psychoedukativen Elementen die Introspektionsfähigkeit für die Symptomatik und Anspannung/Nervosität erhöht, Handlungskompetenzen erweitert und Selbstmanagementstrategien für Impulsivität aufgebaut. Es werden Zukunftsperspektiven mit ressourcenorientierten Ansätzen vertieft sowie Fähigkeiten zur Selbstorganisation verbessert. Zum Erreichen der verbesserten Handlungskompetenzen werden derzeit Möglichkeiten zu Einzeltherapiesitzungen aufgebaut, um aufrechterhaltende Faktoren individuell zu behandeln. Eine psychotherapeutische Kleingruppentherapie zur alltagsnahen Behandlung von aufschiebendem Verhalten und Desorganisation ist ebenfalls zeitnah geplant. Für nähere Informationen lesen Sie hier: Sucht und ADHS | MEDIAN Kliniken.

Besondere Ansätze

Bewegungs- und nicht sprachliche Therapien haben eine wichtige, adjuvante Rolle in der Behandlung. Sport- und Bewegungstherapie gehören daher zum festen Wochenplan sowie in den ersten Wochen auch samstags. Hinzu kommt die Kunsttherapie einmal pro Woche. Über computergestützte Therapien werden Konzentration und kognitive Kompetenzen trainiert. Insgesamt bieten wir weit über 30 indikative Gruppentherapien an, um individuelle Problembereiche aufzugreifen, die jedoch nicht störungsspezifisch auf die ADHS-Patienten ausgerichtet sind, sondern allen Patienten zur Verfügung stehen.

Fortbildungsangebote

Da wir im Rahmen unseres SuchtPlus-Konzeptes u. a. die komorbide ADHS als Therapieschwerpunkt behandeln und dafür Fachpersonal vorhalten, erfolgen regelmäßig interne und externe Fortbildungen.


Deutscher Orden Ordenswerke, Schwarzbachklinik, Ratingen

Sebastian Winkelnkemper

Die Fragen beantwortete: Sebastian Winkelnkemper, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, ehem. Chefarzt der Schwarzbachklinik, jetzt: Chefarzt des MEDIAN Rehazentrums Daun – Thommener Höhe und Altburg

Umgang mit komorbider ADHS

Bei uns wird vor allem auf die klinische Beobachtung Wert gelegt. Wir arbeiten in den monatlich stattfindenden Fallbesprechungen die UTAH-Wender Kriterien – Aufmerksamkeitsstörung, motorische Hyperaktivität (z. B. Gefühl der inneren Unruhe), Affektlabilität, desorganisiertes Verhalten, mangelnde Affektkontrolle, Impulsivität, emotionale Überreagibilität – wiederholt „durch“ und achten hierbei auf die Schilderungen aus den unterschiedlichen Bereichen. Die Darstellung aus dem Sport und hierbei insbesondere aus Mannschaftssportarten (Impulsivität) sowie aus der Ergo- und Arbeitstherapie sind von zentraler Bedeutung. Die Einholung einer Fremdanamnese gelingt oftmals nicht, da der Kontakt der Rehabilitand:innen zu den eigenen Eltern nicht immer besteht. Schulzeugnisse sind oftmals ebenfalls nicht einzuholen. Psychologische Testungen wie Impulsivitätsabfragen und der HASE runden die Diagnostik im Bedarfsfall ab, wobei der klinische Eindruck regelhaft im Vordergrund steht.

Haltung und Herausforderungen

Sofern eine ADS/ADHS gesichert werden kann, stellen wir regelhaft fest, dass diese vor der Entwicklung der Suchterkrankung bestand. Die Bearbeitung des therapierelevanten Modells wird in diesem Fall beeinflusst und „erleichtert“. Der Konsum erfolgte meist im Sinne einer Selbstmedikation zur Überwindung/Reduktion der Symptome. Mit der Abstinenz ist bei Persistenz der Erkrankung im Erwachsenenalter festzustellen, dass die Symptomatik „durchschlägt“, sich erneut zeigt. Die medikamentöse Behandlung beeinflusst meist lediglich die Konzentrationsfähigkeit und die Fokussierung, so dass anfänglich die Affektlabilität, die Impulsivität und die Desorganisation als Herausforderung zu sehen sind. Die Strukturierung und Begleitung in unserer Einrichtung helfen sicher zur Begleitung und Reduktion der Desorganisation. Eine Herausforderung stellt der Umgang mit Impulsivität und mangelnder Affektkontrolle dar. Anfänglich ist es bei Impulsivität und Emotionalität mitunter erforderlich, „fünfe gerade sein zu lassen“, hier ist es wichtig, therapeutisch darauf einzugehen. Es stellt allerdings eine Überforderung der betroffenen Rehabilitand:innen dar, dies mit der Aufnahme zu erwarten.

Diagnostik

Die Anamnese und die klinische Beobachtung aus allen Arbeitsbereichen in der Fachklinik liefern die stimmigsten Hinweise. Wie bereits geschildert, orientieren wir uns an den UTAH-Wender Kriterien und versuchen, die Fremdanamnese einzuholen, auch wenn dies regelhaft misslingt. Ggfs. ergänzen wir die Diagnostik durch die Testung nach HASE und regelhaft durch Impulsivitätsfragebögen.

Medikation

Bisher verfügte die Fachklinik leider nicht über die Möglichkeit der BtM-Behandlung. Nachdem wir Anfang 2025 das Pflegezimmer umgebaut haben, können wir zukünftig auch auf Methylphenidate und Lisdexamphetamin zurückgreifen. Bisher haben wir mit Atomoxetin oder bei gleichzeitigem Wunsch der Tabakabstinenz mit Bupropion behandelt. Darüber hinaus haben wir ggfs. „off-label“ Guanfacin verabreicht.

Psychotherapie und besondere Ansätze

„Therapeutische Manuale“ verwenden wir nicht. Im Rahmen der Behandlung orientieren wir uns in allen Arbeitsbereichen an der Bearbeitung der Alltagsstrukturierung. Insbesondere die klinische Sozialarbeit und die Ergo- und Arbeitstherapie sind für die Reduktion der Desorganisation von zentraler Bedeutung. Die sportliche Aktivierung thematisiert den Umgang mit Impulsivität und Emotionalität, alle Bereiche arbeiten an der Freizeitgestaltung und hierbei insbesondere am Umgang mit „Langeweile“. Therapeutische Indikativgruppen zielen auf die Steigerung der Konfliktfähigkeit mit Besserung des Umgangs mit Emotionalität ab.

Fortbildungsangebote

Unsere Mitarbeiter wurden im Rahmen interner und externer Fortbildungen im Umgang mit der Komorbidität ADS/ADHS geschult. Insgesamt würde ich konstatieren, dass die monatlichen Fallbesprechungen allerdings für alle Mitarbeitenden dauerhaft die beste Schulung darstellen. Die Beobachtung der Verläufe über die Behandlungszeit liefert die wertvollsten Erkenntnisse im Umgang mit psychiatrischen Komorbiditäten und in diesem Fall im Umgang mit ADS und ADHS.


Katholische Kliniken Ruhrhalbinsel gGmbH, Fachklinik Kamillushaus, Essen

Tina Behrouzi

Die Fragen beantwortete: Tina Behrouzi, Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Oberärztin der Psychiatrischen Institutsambulanz Fachklinik Kamillushaus

Umgang mit komorbider ADHS

In der Fachklinik Kamillushaus in Essen verfügen wir über eine lange Tradition in der Suchtrehabilitation sowie viel Erfahrung in der Diagnostik und Behandlung von AD(H)S. Unsere spezialisierte Ambulanz versorgt pro Quartal über 1.000 AD(H)S-Patient:innen mit und ohne substanzbezogene Störungen. Aufgrund der signifikant höheren Prävalenz von ADHS bei Menschen mit Suchterkrankungen (ca. 21 %, Rohner et al., 2023) führen wir leitliniengerecht bei allen Rehabilitand:innen routinemäßig ein Screening durch. Bei Hinweisen erfolgt zeitnah eine ausführliche Diagnostik sowie eine stringente, integrierte AD(H)S-Therapie.

Haltung und Herausforderungen

Unsere therapeutische Haltung basiert auf folgenden Prinzipien:

⇒ Diagnostik und Behandlung sollten nicht verschleppt werden; ADHS-Expertise sollte möglichst bald in jeder Einrichtung der Suchtrehabilitation vorhanden sein. Menschen mit komorbider ADHS machen über 20 % der Menschen mit Suchterkrankungen aus und haben schwerere Verläufe (Icick et al., 2020).

⇒ Eine individuell abgestimmte Pharmakotherapie bewirkt oft eine signifikante Verbesserung der ADHS-Symptomatik und reduziert teilweise auch Suchtdruck sowie Rückfallrisiko (Barbui et al., 2023, Brynte, 2024). Eine strukturierte Psychotherapie der Suchterkrankung und der ADHS-Symptomatik sollte möglichst parallel erfolgen (Zulauf et al., 2014, Johnson et al., 2021).

⇒ Menschen mit AD(H)S leiden unter einem individuellen Profil an Einschränkungen ihrer sogenannten Exekutivfunktionen (EF). Beispiele für EF sind die Unterdrückung und Steuerung von Impulsen, Emotionsregulation, Planung, Steuerung und Bewertung eigener Aktivitäten, Antizipation der Konsequenzen einer Handlung, Aufschieben von Belohnung, Wahrnehmung von Zeit u. a. Eine genauere Kenntnis der individuellen AD(H)S-Kernsymptomatik hilft

  • zu verstehen, wie die individuellen Einschränkungen der Exekutivfunktionen bei einzelnen Patient:innen den Umgang mit der Suchterkrankung erschweren,
  • bei der Kontrolle der Wirksamkeit einer ADHS-Medikation und
  • bei der Erstellung eines personalisierten psycho- und ergotherapeutischen Behandlungsplans.

⇒ Unsere Therapieangebote berücksichtigen die durch AD(H)S reduzierte Fähigkeit zur Alltagsorganisation und unterstützen Betroffene durch: Terminerinnerungen, einen Rezepterinnerungsservice, das Zuschicken von Rezepten, Videokonsultationen, schriftliche Medikamentenanweisungen etc.

⇒ Unsere psychotherapeutische Arbeit ist bewusst ADHS-informiert, um Fehldeutungen von Überforderung mit der Alltagsorganisation als „Widerstand“ oder „Motivationsmangel“ entgegenzuwirken. Eine besondere Herausforderung ist der zeitliche und fachliche Aufwand für eine gute Differenzialdiagnostik auf der einen Seite und die schlechte Passung mit den aktuell vorhandenen Vergütungsmodellen auf der anderen Seite. Auch finden Patient:innen oft keine Weiterbehandler:innen für AD(H)S. Menschen mit AD(H)S leiden oft unter Schlafstörungen und tun sich deutlich schwerer mit gesunden Lebensgewohnheiten. Der Aufbau von gesunden Routinen erfordert oft viel Coaching in vielen kleinen Schritten.

Es gibt auch besondere Chancen: Bei starker genetischer Prädisposition für ADHS sollten die Kinder von Rehabilitand:innen früh getestet werden, da eine Behandlung mit Stimulanzien in bestimmten Phasen der kindlichen Entwicklung das Risiko für spätere Suchterkrankungen deutlich senken kann (Groenman et al., 2013 und 2019, Deng & Espiridon, 2024).

Diagnostik

Unsere Diagnostik entspricht der aktuellen S3-Leitlinie und umfasst speziell validierte Instrumente für die Diagnostik bei komorbiden Suchterkrankungen. Wichtig ist es, ADHS-Symptome aus der Kindheit und der Zeit vor Entstehung der Suchterkrankung bzw. vor der Entstehung anderer psychischer Störungen sicher zu erfassen, um falsch positive Diagnosen zu vermeiden. Dazu dienen eine ausführliche Entwicklungsanamnese, wenn möglich Fremdanamnese und die Sichtung von Schulzeugnissen und Vorbefunden. Bei Patient:innen ohne Hyperaktivität und mit guter intellektueller Kompensationsfähigkeit bestehen hierbei oft besondere diagnostische Herausforderungen. Auch die Familienanamnese gibt aufgrund der genetischen Komponente Hinweise.

Medikation

Die medikamentöse Behandlung der ADHS im Kontext von Suchterkrankungen ist oft mit Vorbehalten belegt. Tatsächlich weist die aktuelle Studienlage darauf hin, dass eine adäquate medikamentöse Therapie – auch mit Stimulanzien – z. B. das Rückfallrisiko reduzieren und die Therapieadhärenz verbessern kann (s. o.).

Auch wenn Studien über die Verwendung bestimmter Medikamentengruppen bei unterschiedlichen Substanzabhängigkeiten und über die Outcomes in Bezug auf die Suchterkrankung existieren (Fluyau et al., 2021; Paslakis et al., 2010; Chamakalayil et al., 2021; Adler et al., 2010), zeigt die klinische Anwendung, dass Patient:innen oft sehr unterschiedliche AD(H)S-Kernsymptome mit konkreter Auswirkung auf die Suchterkrankung haben (z. B. AD(H)S-bedingte Stimmungsschwankungen, quälende körperliche Hyperaktivität, erschöpfende Reizoffenheit, überschießende emotionale Reaktionen, starkes Prokrastinieren u. a.). Welches Medikament für welches Kernsymptom wirksam ist, muss individuell ausprobiert werden. Auch das Nebenwirkungsprofil macht oft einen Medikamentenwechsel notwendig.

Nicht-Stimulanzien haben den Vorteil einer kontinuierlichen Wirkung ohne den für Stimulanzien typischen „Rebound“ am Abend. Bei Bedenken bezüglich eines Missbrauchs der Medikation sind folgende Fragen hilfreich: Besteht ein Risiko des Missbrauchs zur kognitiven Leistungssteigerung (hohes Leistungsideal, Student:innen)? Besteht ein Risiko, dass orale Medikamente als Rauschmittel auf anderem Wege appliziert werden? Das ist selten, aber mit gefährlichen Nebenwirkungen verbunden. Für bestimmte Hochrisiko-Gruppen sollten nur Nicht-Stimulanzien eingesetzt werden, ansonsten ist eine gute Aufklärung wichtig, evtl. ist die kontrollierte Abgabe in kleineren Mengen sinnvoll.

Über Interaktionen von Medikation und Suchtmitteln sollte gut aufgeklärt werden. Unsere Erfahrung zeigt aber, dass bei Rückfällen meist die Medikation gestoppt wird.

Gerade junge Erwachsene sollten zudem eindringlich über die Gefahren der Weitergabe von Betäubungsmitteln aufgeklärt werden (medizinische Risiken, Verlust des Studienplatzes, Anzeige etc.). Auch in Deutschland scheint es vor allem an Hochschulen immer mehr zum Missbrauch von Stimulanzien zur kognitiven Leistungssteigerung zu kommen. Ein Vorrat an zu großen Mengen an Stimulanzien bei Patient:innen könnte eine unkritische Weitergabe von Medikation fördern.

Eine Zulassung von Guanfacin in Deutschland für die Indikation AD(H)S wäre als eine weitere Behandlungsoption wünschenswert.

Psychotherapie

Wir bieten regelmäßig eine psychologisch geleitet ADHS-Gruppe für stationäre und ambulante Patient:innen an. Zudem unterstützen wir aktuell den Aufbau einer ADHS-Selbsthilfegruppe. In unserer Ambulanz arbeiten wir an einem Therapiekonzept mit spezialisierter Ergotherapie und spezifischen Coaching-/ psychotherapeutischen Interventionen (z. B. ADHS-spezifische DBT-Skills).

Besondere Ansätze

Ambulanten Patient:innen empfehlen wir spezialisierte Ergotherapie, insbesondere funktionelles Alltagstraining. Aufgrund der begrenzten Evidenz ist Neurofeedback aktuell nicht prioritär.

Fortbildungsangebote

Ja, wir bieten interne Fortbildungen zum Thema ADHS an, um kontinuierlich eine integrative, ADHS-informierte Behandlungskultur zu fördern.